Re: Expedition in die Tiefen der Nachtschule
Verfasst: Fr 24. Mai 2019, 23:28
EXPEDITIONSTAGEBUCH
„Reise in die Tiefen der Nachtschule bis zur Mitte Zamoniens"
9. Tag
Hallo, ab jetzt übernehme ich wieder die Berichterstattung. Ja, ihr lest richtig, euer Expeditionsleiter ist dank Herrn von Kolons Hilfe zurück auf die Beine gekommen. Und die Gelatinetabletten brachten mich schlussendlich wieder komplett in Schwung. Während Obstip, Linora, Zwarn und phellpe also die Pause nutzten und ein wenig wegdösten, fand ich vor lauter Energie keine Ruhe. Trotz der Gefahr, erneut von den Gefährten getrennt zu werden, konnte ich mich nicht zurückhalten, auf eigene Faust „ein wenig die Umgebung zu sondieren“. Leise stand ich auf, griff mir eine Quallenlampe und tappte, mich auf meinen Instinkt verlassend, ein Stück weiter bergabwärts.
So erreichte ich nach wenigen Minuten einen gigantischen, völlig in Trümmern liegenden Raum, der wohl einmal eine Art Labor gewesen sein musste. Ein mannshoher, geschlossener Glaszylinder, beschriftet mit einer mir unbekannten Messskala, erregte meine Aufmerksamkeit. Er war an der nackten Höhlenwand befestigt und durch robust wirkende Kupferrohre mit anderen Gerätschaften und, wie es aussah, Teilen eines Flüssigkeits-Verteilersystems verbunden. Irgend etwas schwappte darin herum. Neugierig kam ich näher, da starrten mich aus der farblosen Suppe plötzlich zwei Augen an. Natürlich erschrak ich furchtbar- und schalt mich gleich darauf einen Idioten, da ich offensichtlich mein eigenes Spiegelbild im Glas für ein anderes Wesen gehalten hatte. Doch dann erschien in der Flüssigkeit ein zweites Paar Augen und schließlich ein drittes. Wässrige Münder, verzerrt zu unhörbaren Schreien und Grimassen der Verzweiflung wogten im Schauglas herum, wobei sie kräftige Wellenwirbel verursachten. Das Rohrsystem ächzte in seinen Verbindungen und Verankerungen, aber es hielt. Entsetzlich. Hier waren offensichtlich mehrere meiner Artgenossen auf engstem Raum eingepfercht worden. Ich musste sie befreien, koste es, was es wollte. Zuerst schlug ich mit meinen schwachen Tratschwellenfäusten eine Zeit lang erfolglos auf die dicke Glaswand ein, dann wurde mir die Sinnlosigkeit meines Tuns bewusst. Ich benötigte passendes Werkzeug, und zwar auf der Stelle.
‚Los, Andray, jetzt streng mal endlich deinen Wasserkopp an ...’ drängte ich mich selbst. Dann kam der Geistesblitz: mein modifiziertes Schweizer Taschenmesser enthielt auch einen Glasschneider - und es steckte in der Innentasche meines Laborkittels, der sich, da er noch vor Schmutz starrte, in phellpes Gepäck befand. Ich gab den gefangenen Tratschwellen im Glasrohr ermutigende Zeichen und stürzte davon.
Manchmal hat man einfach einen guten Tag. Genau wie es Pechsträhnen gibt, bei denen man mit traumwandlerischer Sicherheit dreimal hintereinander in die Abfallprodukte eines Höhlenbewohners tritt, gibt es (wenn auch leider viel seltener) Situationen, in denen sich das Glück mit unverschämter Häufigkeit an einem Fleck zusammen zieht. Ich weiß nicht, woran es lag, nennt es Schicksal oder göttliche Vorsehung, jedenfalls kam ich gerade rechtzeitig, um zu beobachten, wie IndianaSepps lange, schmierige Finger einen intensiven Besuch in des schnarchenden Herrn von Kolons Hosentasche machten. Offensichtlich war er auf der Suche nach Geld oder anderen Wertsachen und nutzte die allgemeine lähmende Müdigkeit meiner Kameraden schamlos aus.
„Dieb! Dieb! Haltet den Dieb!“, schrie ich in höchster Lautstärke. Der Stollentroll erstarrte vor Entsetzen, aber leider nicht lange genug. Bevor der Nattifftoffe ihn am Wickel kriegen konnte, verschwand er in einem Spalt, den selbst eine in die Enge getriebene Murmelmaus als Fluchtweg verschmäht hätte. Unfassbar. Unauffindbar.
„Hat er was geklaut? Fehlt euch was? Seid ihr in Ordnung?“ fragte ich die schlaftrunkenen Gefährten atemlos. Eine kurze Überprüfung unseres wenigen mitgeführten Materials ergab, dass alles noch an Ort und Stelle war. Wonach hatte der Schattenparasit dann aber gesucht?
„Danach!“ lächelte Obstip verschmitzt und hob seinen Höhlenhelm etwas an. Zwischen den Nattifftoffenhörnern klemmte ein ziemlich schäbig aussehendes Büchlein. Waren das etwa Obstips Reisenotizen? Nein, das konnte nicht sein. Kein Nattifftoffe hätte freiwillig Ausrüstung in solch mieser Qualität benutzt. „Ich erklär's ihnen später“, meinte er leicht resigniert. „Jetzt, da wir unseren Führer wohl endgültig los sind, sind wir, wie es aussieht, ganz auf den Inhalt dieses Schriftwerkes angewiesen, wenn wir das Domestizierte Dimensionsloch finden wollen.“
Das interessierte mich zur Zeit jedoch nur peripher. Wo war mein Taschenmesser? „Entschuldigung, Frau phellpe“, murmelte ich, während ich ihren Rucksack aufnestelte, den dreckigen Kittel herauszerrte und das Universalwerkzeug barg, „aber jetzt bin ich mal dran mit der Lebensrettungs-Nummer.“ Nicht auf die verständnislosen Blicke der Junghutze achtend, war ich schon wieder auf dem Weg, so schnell mich meine Gelatinebeine trugen.
Mit durchdringendem Knirschen fraß kurz darauf die Diamantklinge eine mehr oder minder runde Öffnung in die stabile Glaswand des Zylinders. Kaum war der ‚Kreis’ geschlossen, gab es ein gedämpftes Knacken, das Material barst und ein dicker Wasserstrahl schoss durch den Raum. Eine Zeit lang sah man überall nur Wasser, ich musste mich an einem Rohr festklammern, um nicht weggespült zu werden. Zum Glück sauste die Flut größtenteils durch Abflussgitter und Spalten weiter nach unten, so dass uns allen eine lästige Überschwemmung erspart blieb. Ich konnte nur hoffen, dass meine eingesperrten Artgenossen nicht ebenfalls ein Opfer der Strömung wurden. Aber das schwappten sie schon herbei, laut jubelnd und aus vollster Kehle tratschend vor Freude über die endlich wiedergewonnene Freiheit.
„Ich bin Aha.“ „Und ich Behbe.“ „Und ich heiße Zehze“, stellten sich die drei Tratschwellen vor. „Vielen Dank, dass du uns da rausgeholt hast. Über zweihundert Jahre stecken wir nun schon hier drin. Ehrlich ... hätten wir nicht sowieso einen an der Waffel wir wären längst komplett Gaga geworden in der langen Zeit. Können wir Dir zum Dank was helfen hier unten? Wir kennen uns nämlich verdammt gut hier aus. Unser System war leider das einzige, das die Zeit überdauert hat ... während ringsherum alles in die Binsen ging, hat die verfluchte Rohrleitung noch nicht mal ne undichte Stelle gekriegt. Suchst du was bestimmtes? Nur raus damit. Je schneller wir quitt sind, umso besser ... wir wollen nämlich so schnell wie möglich in den Zamonischen Ozean zurück.“
„Ähem“, räusperte sich da die Stimme des Nattifftoffen hinter uns, „haben der Herr Expeditionsleiter in seiner übergroßen Güte wohl die Freundlichkeit, uns gemeines, unwissendes Volk von der Änderung der Lage in Kenntnis zu setzen? Wer bitte sind die hier so plötzlich aufgetauchten Tratschwellen und wie war das mit dem Angebot zur Hilfe?“
„Ein glücklicher Zufall, Herr von Kolon“, entgegnete ich, während mir das Wellenherz vor Aufregung noch bis zum Hals klopfte. „Meine drei aufgepeitschten Artgenossen dort sind ganz wild darauf, uns ihre Dankbarkeit zu zeigen – und sie sind hier so gut wie zu Hause“.
„Supermegawahnsinns-Okay!“ schwappten alle drei Tratschwellen gleichzeitig und tanzten dabei so ausgelassen um mich herum, dass ich sie nicht mehr zu unterscheiden vermochte.
„Sagt uns euer Ziel und wir bringen euch hin.“
„Joho, und das mit Schmackes.“
„Prontopronto.“
Obstip verdrehte verzweifelt die Augen. „Wenn die freundlichen Wellen jetzt mit der Hopserei aufhören und uns zum nächstgelegenen Domestizierten Dimensionsloch führen würden, damit wir nach Chrosonopol zum Schuttabladeplatz der Zeit kämen, wäre uns schon sehr geholfen“, meinte er. „Je länger wir nämlich brauchen, desto geringer werden unsere Chancen, Germinator wiederzufinden und Amanda zu kurieren. Lasst mich nur schnell die Hutzen und Linora holen, dann können wir loslegen.“
Er drehte sich um und eilte davon.
„Hemm hemm, zum Domestizierten Dimensionsloch wollt ihr ...?“ fragte eine der Wellen, ich glaube es war Behbe. „Dann sollten wir wirklich etwas Dampf machen.“
„Ja, sonst wird der Durchgang zu gefährlich für einige von euch.“
„Wisst ihr, das Ding heizt sich jetzt nämlich langsam auf ...“
„Weil ... äh ... irgendwie die Kühlung nicht mehr funktioniert ... ganz urplötzlich ...“
„... weil das Kühlsystem gerade leergelaufen ist. Das war das einzige, was hier unten noch in Ordnung war ...“
„Aber gib nicht uns die Schuld, Andray. Du hast es vermasselt.“
„Jepp. War wohl ein wenig voreilig, deine Rettungsaktion. Tut uns Leid.“
„Nee, mir nicht!“
„Schnauze, Zehze!“
„Jetzt quatscht keine Opern, Kumpels. Ich hör den Rest der Truppe antraben. Abschwappen, aber dalli. Sonst verzieht sich das Nachtglas und dann ist’s Essig mit den tollkühnen Abenteurern, höhö.“
Aus dem „Lexikon der erklärungsbedürftigen Wunder, Daseinsformen und Phänomene Zamoniens und Umgebung“ von Prof. Dr. Abdul Nachtigaller
Nachtglas, das: Als ‚Nachtglas’ bezeichnet man eine außerirdische Substanz aus extrem konzentrierter und verdichteter Dunkelheit. Zwar hat die Nachtigalleristik rein hypothetisch längst bewiesen, dass es ein solches Material geben könnte und wie seine physikalischen Eigenschaften lauten müssten, doch ist es bisher niemandem in Zamonien, selbst einem Genie wie meiner Person nicht, gelungen, die technischen Voraussetzungen für seine Herstellung zu schaffen. Eventuell auf dem Kontinent vorhandenes Nachtglas muss also nicht-irdischen Ursprungs sein.
Auf Grund fehlender Materialproben kann man daher leider nur die folgenden Hypothesen aufstellen:
a) Nachtglas müsste in kaltem Zustand fest wie Metall sein, wird jedoch bei einer Temperatur von 77 Grad gummiartig und verdampft schließlich bei 777 Grad Celsius.
b) Nachtglas hat die Eigenschaft, Wärmeenergie in sich aufzunehmen, um bei Erreichen der benötigten Temperatur schlagartig den Aggregatszustand zu wechseln. Daher pflegt es im Umfeld von Nachtglas recht kühl zu sein, während sich das Material langsam aufheizt.
c) Festes Nachtglas müsste mit Hilfe elektromagnetischer Energie in einen dimensionslochähnlichen Zustand versetzt werden können. Sollte es gelingen, diesen Energiezufluss zu kontrollieren, wäre es möglich, eine torähnliche Transportmöglichkeit zu einem anderen Ort, also eine Art ‚domestiziertes Dimensionsloch’ zu erzeugen.
d) Die Benutzung eines solchen Transportmittels würde jedoch große Risiken bergen. Sollte das Nachtglas nicht ständig gekühlt werden, käme es durch die Erhitzung zwangsläufig mit der Zeit zu Rissen und Verwerfungen. Dann würde nur eine flüssige, gallertartige oder gasförmige Lebensform die Reise noch relativ unbeschadet überstehen. Wesen aus Fleisch und Blut müssten beim Durchgang Verformungen und Geweberisse erleiden, die zu Verstümmelung und Tod führen könnten.
Sollte es jemandem gelingen, ein Stück Nachtglas zu erzeugen oder zu bergen, wäre dies mit Sicherheit die wissenschaftliche Sensation des Tages.
Ich glaube, dass ich mich noch nie in meinem Leben so schnell auf dem Land fortbewegt habe, wie in diesen bangen Minuten. Zum Glück schob mich Linora von hinten an, sonst hätte ich niemals mit Obstip, phellpe und Zwarn mithalten können. Die drei Wellenjungs vereinigten sich zu einer kompakten Wassermasse, flossen vor uns her und räumten, wo es notwendig war, den Weg frei. Gerümpel und Trümmer kapitulierten vor der Wucht der eindrucksvollen Woge, wurden zur Seite geschleudert oder lösten sich in harmlose Brocken auf. Wir sausten durch Bereiche und Kammern, in die ich freiwillig niemals einen Fuß gesetzt hätte.
Endlich stoppten die Tratschwellen vor einem halb eingestürzten Durchgang, aus dem uns ein eiskalter Wind entgegenpfiff.
„Uh-oh“, meinte Aha. „Das sieht nicht so extrem gut aus ...“
„Es scheint sich schon ziemlich aufgeheizt zu haben. Tja, da geht man einmal weg und macht sich ein paar schöne Minütchen, und schon passiert so was ...“
„Undankbares Ding. Zweihundert Jahre lang haben wir dich in Schuss gehalten.“
„Ja. Wir waren quasi wie Eltern zu dir. Oder wie Omas, Opas und Geschwister ...“
„Oder wie Schwippschwäger mütterlicherseits ...“
„Ja. So.“
„So ähnlich. Das kannste uns schon glauben.“
„Also mach jetzt mal keine Zicken und bleib noch ein paar Minuten lang stabil, du dummes Loch. Tu uns den Gefallen. Wir sind doch deine Brüder ...“
„Deine Ersatzfamilie …“
„Deine Schwippschwäger mütterlicherseits.“
„Schnauze, Zehze!“
Behbe drehte sich nach uns um. „Also wenn ich ihr wäre, dann würde ich keine Sekunde mehr verlieren. In spätestens einer Stunde wird der Durchgang lebensgefährlich. Wenn ihr bis dahin nicht wieder hier seid, gibt’s bei der Rückkehr gemischtes Hackfleisch anstatt wagemutiger Retter.“ Er zwängte sich in den dahinterliegenden Raum, seine beiden Kumpane folgten ihm. Auch Linora und ich flutschten durch die Lücke, Obstip, Eaglechen und die Hutzendamen taten sich schon etwas schwerer. Aber schließlich standen wir alle vor dem Ziel unserer Wünsche: dem Domestizierten Dimensionsloch.
Aus dem „Lexikon der erklärungsbedürftigen Wunder, Daseinsformen und Phänomene Zamoniens und Umgebung“ von Prof. Dr. Abdul Nachtigaller
Domestiziertes Dimensionsloch, das: Besäße man Nachtglas und eine kontrollierbare elektromagnetische Strahlungsquelle, so könnte man bei entsprechendem Stand der Konstruktionstechnik daraus ein dimensionslochähnliches Tor zu anderen Welten erschaffen: das Domestizierte Dimensionsloch. Wie eine solche Kontrolleinheit aussehen könnte und ob sich mit Hilfe dieser Steuerung auch spezifische Dimensionen ‚anwählen’ lassen würden, ist zur Zeit noch Spekulationsobjekt der Zukunftsforscher und der Autoren von Absurder Entdeckungsliteratur. Leider ist die Sache nicht so einfach, wie es sich diese höchst phantasiebegabten Spinner ausmalen. Ich weiß das aus eigener Erfahrung – und ich bin schließlich die höchste Koryphäe auf diesem Gebiet.
Sollte mir also jemand ein Stück Nachtglas bringen können, so würde er mich nicht undankbar finden.
Der Anblick war alles andere als spektakulär: eine Art schwarzer Spiegel, dreieckig, vielleicht zehn Meter hoch und an der Basis vier Meter breit. Seine Oberfläche kräuselte sich leicht, wie das Wasser eines Sees in der Abendbrise. Ringsherum führten dicke Kupferrohre, ein Zeiger auf einer daran befestigten Messskala bewegte sich gerade langsam aus dem grünen Bereich heraus und in den gelben hinein. Und eiskalt war es hier, so kalt, dass meine Außenhaut zu überfrosten begann.
„Wo-ho stellt ma-han denn hi-hier das Ziel ei-ein?“ stieß ich zitternd zwischen meinen gefrierenden Lippen hervor. Nirgends waren Steuerknöpfe zu sehen, lediglich zwei lange Kupferstäbe ragten vor dem Tor aus dem Boden.
Behbe schlang zwei Wellenausläufer um die Metallruten. „Nächste Station: Dimension Chrosonopol“ quäkte er. „Los, macht schon, wir halten euch das Tor offen, solange es geht.“ Aha und Zehze warfen sich gegen die Kühlrohre, dass es zischte. Der Zeiger auf der Skala rutschte wieder ein Stückchen nach unten. Im Nachtglas erschien das chaotische Bild einer riesigen Müllhalde, die sich bis zum Horizont erstreckte.
„Wenn ihr das überlebt und dazu noch euren Freund in dem ganzen Schlamassel findet, fress ich einen Schwamm“, knirschte Aha, in dessen Innerem sich bereits kleine Siedebläschen bildeten. „Wünsch euch Glück.“
„Von mir auch.“
„Und von meinem Schwippschwager mütterlicherseits natürlich auch.“
„Schnauze, Zehze!“
Linora drängte sich neben Behbe, streckte den Kopf ein wenig nach vorn und schien in sich hinein zu lauschen. „Völlig falscher Platz. Wir müssen ziemlich genau 102 Kilometer nach Osten und 43,7 nach Norden!“ kommandierte sie mit Nachdruck.
Die Tratschwelle wurde unruhig. „Hoffentlich ist deine Schätzung korrekt, Schwester. Weißt du, jeder Ortswechsel heizt das Nachtglas nämlich ganz schön heftig weiter auf.
„Mach dir mal keine nassen Hosen, Wassermaxx“, gab unsere Schlechte Idee leicht genervt zur Antwort. „Toleranz maximal ein Kilometer.“
Der Bildausschnitt im Tor wechselte schlagartig: Mehr Müll und mehr verschiedenartige, teilweise völlig unbekannte Gegenstände wurden sichtbar. Aha schrie vor Schmerz auf, während der Temperaturanzeiger am Torrahmen weit in den gelben Bereich hinein sprang. Mir wurde übel, denn ich hatte das Gefühl gehabt, der Boden unter meinen Füßen beginne zu kippen. Aber wo zum Geier steckte nur unser Germinator? Immer noch war nirgendwo eine Spur von ihm zu entdecken.
„Es hilft nix, wir müssen persönlich auf die Halde und suchen“, war ich mit den Kameradinnen und Kameraden (bis auf den Adler, der sich kategorisch weigerte, auch nur einen Fuß in den Transporter zu setzen) einer Meinung. Während Eaglechen brummend zur Seite rückte und Behbe beim Hantieren an den Metallruten zuschaute, kniffen wir Übrigen die Augen zusammen, fassten uns an den Händen, nahmen Anlauf und sprangen mit zusammengebissenen Zähnen los.
Stürze durch Dimensionslöcher sind an ähnlicher Stelle bereits des öfteren beschrieben worden, ich will die geschätzte Leserschaft ja nicht langweilen. Dies hier war jedoch eine völlig neue Erfahrung für uns alle. Ein ‚Dimensionslochritt’ im Zeitraffer sozusagen. Keine ‚saloppe’ sondern eine ‚galoppe’ Katatonie traf uns in die Magengrube, aber bevor wir dem Drang nachgeben konnten, unser Innerstes nach außen zu kehren, war alles schon wieder vorbei und unsere Gruppe am Ziel angekommen.
Mit schafigem Gefühl im Leib (vor allem auf der Zunge) ließen wir einander los und nahmen unsere Umgebung vorsichtig in Augenschein.
Wir starrten über Berge von Schutt hinweg in Richtung eines breiten, gemauerten Kanals, an dessen jenseitigem Ufer sich ein riesiger Gebäudekomplex befand, der selbst für einen Amateur-Abenteurer wie mich deutlich als „Hochsicherheitszone“ erkennbar war. Der Stacheldraht, die zehn Meter hohen Betonmauern, die Selbstschussanlagen und eine Legion mit unheimlich aussehenden Waffen ausgerüsteter Wachen sprachen eine deutliche Sprache. Ich hoffte inständig, dass uns das Schicksal nicht zu diesem Ort führen würde.
Wieder ‚peilte’ Linora und fing die Wellen unseres Gedankenübertragungs-Kristalls auf. Dann deutete sie mit ihrem zarten Ärmchen nach links. „Sechshundertdreißig Meter diese Richtung, plusminus zehn Meter“, konstatierte sie mit Bestimmtheit.
Obstip streckte die Nase in die Höhe, sog prüfend die Luft ein und verzog dann indigniert den Mundwinkel. „Hier mieft’s nach alten Rettungssauriern“, meinte er. „Das kenne ich von damals, als ich das Seniorenheim ‚Nordend’ gegen eine marodierende Grabsch-Welle verteidigte …“
„Bitte, Herr von Kolon“, drängte ich. „Können sie uns diese zweifellos höchst interessante Geschichte nicht später erzählen? Jede Minute, die wir hier ungenutzt verstreichen lassen, macht es meinen drei Mit-Wellen schwerer, das Tor funktionsfähig zu halten.“
Das sah Obstip ein und so überwand er schließlich seinen Widerwillen und wir konnten trotz der süßlich-muffig riechenden Atmosphäre losmarschieren.
Zuerst ging es hindurch zwischen allem möglichen Gerümpel wie Halden von leeren Hundefutterdosen oder Hügeln von zerbrochenen Speeren und verbogenen Schwertern. Hier Türme von Teppichen mit scheußlichen, völlig aus der Mode gekommenen Mustern und Farben, dort Berge von Ölbildern, die allesamt röhrende Hirsche, schreiend bunte Sonnenuntergänge oder barbusige Zigeunerinnen zeigten. Der Nattifftoffe bedeckte angesichts soviel geballter Geschmacklosigkeit das Gesicht mit den Händen und wünschte sich eine dunkle Brille herbei, um drohenden Augenkrebs zu vermeiden. Seltsamerweise war der Müll jedoch recht gut sortiert und teilweise sogar mit Hinweisschildern versehen Irgendjemand machte sich also offensichtlich hier die Mühe, den Schrottplatz in Schuss zu halten.
Nicht jedes Schild war für mich lesbar, geschweige denn verständlich. Ich sah zum Beispiel ‚UTNATOLAS ZUM PÖMPELN’, ‚AUSRANGIERTE SCHÜRBELWELLEN, Größe 48b’, ‚SCHELLACKPLATTEN 1913-14’, ‚LOCHKARTEN-LESEGERÄTE’, ‚PUTNAH-JAMBA-HOSEN MIT ARMELIERUNG’, ‚GESTOPFTE SCHILL-WÜRMER IN ASPIK’, ‚AUTOBIOGRAPHIEN NICHT-SO-BERÜHMTER UNLÄNDISCHER POSTBEAMTER AUS DEM MITTLEREN DIENST’, ‚RUBIK-WÜRFEL (neu, gebraucht, defekt)’ und ‚SAMMELALBEN FÜR MARGARINE-BILDER’, was immer all diese Dinge auch sein mochten.
Schließlich erreichten wir einen breiten, betonierten Geländestreifen, der auf den ersten Blick einer fahrzeugfreien Straße ähnelte (auf den zweiten übrigens auch). Ich blickte mich nach einer entsprechenden Hinweistafel um und wurde auch sofort fündig. ‚ReichsAutobahn’ stand in gotischen Lettern auf einem darüber hinweg gespannten Transparent und ich fragte mich sogleich, wie vermögend dieser Herr Reich wohl gewesen sein musste, dass er sich eine eigene Autobahn hatte leisten können.
In diesem Moment hob Obstip die Hand und legte warnend einen Finger auf die Lippen. „Pst. Ich höre etwas …“, flüsterte er. „Vier … nein … fünf Stimmen. Und eine davon gehört unserem Schweinsbarbaren. Etwa 200 Meter entfernt, wahrscheinlich dort hinter der Aufschüttung aus handgeflochtenen Peddigrohr-Körbchen. Leise jetzt … ich gehe mal nachsehen.“ Er zog den Degen aus dem Spazierstock blank und pirschte sich im Schutz diverser unförmiger Walzmaschinenteile an die Geräuschquelle heran. Und da es mir zu dumm ist, jeden Schritt und Tritt des Nattifftoffen zu kommentieren, soll Herr von Kolon besser selbst erzählen, was er da so alles gehört, gesehen und getan hat.
(Beginn von Obstip von Kolons Spionagebericht)
Okay, ich gebe es zu, für Späheraufgaben sind Nattifftoffen die erste Wahl. Keine andere Spezies übertrifft uns an Geschmeidigkeit und Sinnesschärfe – wenn wir nicht gerade auf Böden unterwegs sind, die andauernd unter unserem Gewicht krachen und knirschen. Wie sollte man sich bei einem solchen infernalischen Lärm nur unbemerkt einer Zielperson nähern? Die einzige Möglichkeit, mein Gewicht besser zu verteilen, war wohl … oh nein! Bitte nicht! Wie äußerst demütigend und würdelos.
Aber es blieb mir keine andere Wahl. Aufseufzend steckte ich den Stockdegen wieder weg und ließ mich auf alle Viere nieder, wie es bei meinen Vorfahren vor hunderten von Jahren üblich gewesen war. Und ich betone: Dies alles tat ich nur, um Germinator zu retten. Ich habe also noch einen dicken Gefallen bei ihm gut.
Langsam, vorsichtig trabte ich näher und konnte nun auch erkennen, was da vor sich ging.
Am Straßenrand vor mir parkte eine dieser langgezogenen, potthässlichen Ohnepferdkutschen, welche in technikverliebten Ländern ‚Stretchlimousine’ genannt werden. Neben ihr warteten zwei zigarettenrauchende Gestalten in grauen Anzügen und ebensolchen Bowlerhüten, die auf den ersten Blick menschlich wirkten, es aber wohl nicht waren, denn sie strahlten eine Eiseskälte aus, die bis zu mir herüber spürbar war. Sie unterhielten sich ungeniert mit seelenlosen Stimmen.
„ …se Selbstgedrehten hängen mir zum Hals raus“, erlauschte ich. „Absolut indiskutabler Geschmack. Ach, wenn ich da an die Zeit denke, wo man noch mit Genuss eine richtige Stundenblumen-Zigarre schmauchen konnte.“
„Sprechen sie nicht davon, sonst verliere ich die Contenance. Es hätte alles so erfolgreich ablaufen können damals … alle Zeit der Welt wäre unser gewesen … und jetzt muss man froh sein, dass man überhaupt noch existiert.“ Der andere hustete und holte rasselnd Luft.
„Ja, Herr Kollege, wenn wir nicht kurz vor der Katastrophe von diesem Dimensionsloch am Rand dieser eigenartigen Gasse verschluckt worden wären … und wenn wir nicht noch den Vorrat an Zigarren bei uns gehabt hätten … es wäre das Ende gewesen.“
„Am meisten graust mir vor der Schnellpafferei. Es ist ein Skandal, dass man hierorts immer noch keinen Ersatz für diesen widerlichen Stundengras-Tabak gefunden hat. In halbtoter Zeit steckt einfach nicht genügend Energie drin.“ Der graue Herr zündete sich zwei Glimmstengel gleichzeitig an und rauchte hastig, aber mit vor Ekel verzerrtem Gesicht.
„Essen sie doch ein paar Zeitschnecken, werter Bruder“, riet das zweite Geschöpf mit einem gehässigen Unterton in der Stimme. „Die halten etwas länger vor.“
„Sie sind ein wahres Scheusal“, antwortete der Erste müde. „Sie wissen genau, dass diese Mollusken kaum zu finden sind … und außerdem schmecken sie auch nicht gerade delikat!“
Beide schwiegen sich einige Sekunden lang an.
„Wo bleiben nur die Herren Kollegen?“ fragte der Zweite schließlich. „Es kann doch nicht so lange dauern, das bisschen Stundengras abzuernten. Ach, ach, wie tief sind wir nur gesunken …?“
„Im Übrigen“, murmelte der Erste wieder, „habe ich irgendwie eine innere Abneigung gegen alles, was auf dem Boden herumkriecht.
Irgendwo hinter einem Schrotthaufen erklang jetzt der Kampfschrei eines Schweinsbarbaren. Dann flog in hohem Bogen eine weitere grau gekleidete Männergestalt auf die beiden Wartenden zu, die panisch auseinandersprangen. Das ‚menschliche Geschoss’ prallte wie eine Strohpuppe auf das Dach der Limousine und verlor dabei die Zigarette, die es im Mund gehalten hatte. Noch bevor der Unglückliche ganz herunterrutschen und auf dem Boden aufschlagen konnte, löste er sich in Nichts auf.
Die beiden Anderen stöhnten. „Wieder einer weniger.“
Steifbeinig und atemlos kam nun der vierte Graue Herr auf die Stretchlimousine zugelaufen. „Nichts wie weg“, rief er den beiden Wartenden zu. „Diesen Ernteplatz können wir vorerst vergessen. Der Schweinekerl lässt niemanden ran … und ein Sparkonto eröffnen will er auch nicht.“
Alle drei sprangen in den Wagen. Ich konnte mich gerade noch hinter der Bronzestatue eines zu Recht vergessenen Generals verbergen, dann brauste die Limousine auch schon an mir vorbei und verschwand um die nächste Kurve.
Aus dem „Lexikon der erklärungsbedürftigen Wunder, Daseinsformen und Phänomene Zamoniens und Umgebung“ von Prof. Dr. Abdul Nachtigaller
Graue Herren, die: Außerirdische Spezies unbekannten Ursprungs von menschenähnlicher Gestalt, die sich von gestohlener Lebenszeit fremder Wesen ernährt.
Die Grauen Herren, im Volksmund auch ‚Zeitdiebe’ genannt, gaben sich bei ihrem ersten massenhaften Auftreten in einem nicht näher bezeichneten südeuropäischen Land als Angestellte einer angeblichen ‚ZeitSparKasse’ aus und versuchten, andere Daseinsformen zu indoktrinieren und zum ‚Zeitsparen’ zu animieren, was für die bedauernswerten Opfer mit dem Verlust jeglicher Lebensqualität einher ging. Diese Un-Wesen besitzen nämlich die Fähigkeit, Zeit jedweder Art in eine konsumierbare Form umzuwandeln (z.B. Zigarren aus Stundenblumen, Zigaretten aus Stundengras) und zwecks Erhalt ihres eigenen Un-Lebens zu verbrauchen. Können die Grauen Herren keine fremde Zeit mehr einnehmen, sterben sie und lösen sich in nichts auf.
Graue Herren sind wegen ihrer dämonischen Intelligenz und ihrer absoluten Skrupel- und Herzlosigkeit in allen Dimensionen gefürchtet. Von manchen Dimensionslochforschern wird sogar gemutmaßt, dass sie etwas mit der Entstehung oder Evolution der Zeitschnecken zu tun haben, worauf deren aschgraue Farbe und die Eigenschaft, dass sie in rohem Zustand von den Zeitdieben gegessen werden können, hindeuten.
Ich wartete einige Minuten, nur um sicher zu sein, dass das Fahrzeug nicht wieder zurückkam. Dann sprang ich auf und spurtete in Richtung von Germinators Stimme, die nun mit wohligem Grunzen ein schweinsbarbarisches Sauflied von sich gab. Auch wenn ich am liebsten sofort die Gefährten herbeigerufen hätte, musste ich doch sicher gehen, dass dies keine Falle war.
Meine Befürchtungen waren unbegründet. Wie ich von einem Haufen gusseiserner Sparschweinchen aus feststellen konnte, wälzte sich unser Freund direkt vor mir sorglos auf einem Grasflecken in der warmen Sonne und ließ es sich gut gehen. Zwischendurch griff er immer wieder in die Tiefen mehrerer Pappkartons, aus denen er merkwürdige Leckereien zutage förderte und auch sofort in seinen Rachen schob. Gerade vertilgte er eine Art Schokoladenriegel namens ‚Drei Musketiers’, und zwar immer vier oder fünf davon gleichzeitig. Zwischen den Bissen spülte er aus einer Flasche nach, auf deren Etikett ‚Fanta Mango’ stand.
Mit lautem Pfeifen machte ich auf mich aufmerksam. Germinator hob die karamellverklebte Schnauze und schaute mich überrascht an, während Linora, Zwarn, phellpe und Andray herbeieilten, um den Kameraden in die Arme zu schließen. Das war ein freudiges Wiedersehen! Der Schweinsbarbar grinste von einem Ohr zum anderen und präsentierte stolz den Gedankenübertragungs-Kristall, den er die ganze Zeit lang in der linken Hand gehalten hatte. „Der Minus hat mir gesacht, ich soll en nischt loslasse und des hab isch auch gemacht!“ verkündete er.
Das seltsame Grasgewächs, auf dem Germi geruht hatte, interessierte mich. Wie hatten es die Grauen Herren genannt? Stundengras! Glücklicherweise hatte ich noch eine faltbare Botanisiertrommel in der Beintasche meiner Khakihose, so dass ich einige Proben der Pflanze nehmen und sicher verstauen konnte. Möglicherweise hatten wir hier gerade eine völlig neue Spezies entdeckt bzw. konnten sie der Öffentlichkeit bekannt machen. Von den Zeitdieben waren solche wissenschaftliche Aktivitäten ja eher weniger zu erwarten.
Aus dem „Lexikon der erklärungsbedürftigen Wunder, Daseinsformen und Phänomene Zamoniens und Umgebung“ von Prof. Dr. Abdul Nachtigaller
Stundengras, das: Aus der Familie der Poaceae stammende krautige Pflanze von grünbläulicher Farbe, die in der Lage ist, Genff in jeglicher Form als Nährstoff aufzunehmen und zu verwerten. Ohne Stundengras wären viele Dimensionen bereits mit Genff überflutet und nicht mehr bewohnbar. Zum Glück benötigt dieses Gewächs jedoch extrem saure Böden zum Gedeihen, sonst würde alles Genff um ein Dimensionsloch herum von den dort wuchernden Pflanzen absorbiert und noch mehr Lebewesen müssten ohne Warnung in ihr Unglück hineinstürzen.
In diesem Augenblick fingen meine empfindlichen Ohren das Geräusch eines sich nähernden Motors ein. Dann quietschten Bremsen, Türen wurden aufgerissen und erregte Stimmen überschlugen sich.
„Schauen sie mal da drüben. Unglaublich!“
„Beim sogenannten Sogenannten, das muss ein Domestiziertes Dimensionsloch sein!“
„Soll das heißen, wir kommen endlich von hier weg?“
„So ist es, Herr Kollege. Nichts wie hin! Rennen wir, bevor es verschwindet!“
„Die Zigaretten! Das Stundengras! Wir dürfen unsere Vorräte nicht hier lassen!“
„Ein paar Handvoll genügen. Wenn wir erst in einer anderen Dimension sind, suchen wir uns eine bessere Alternative!“
„Stundenblumen-Zigarren. Nie mehr beschissenes, stinkendes Stundengras rauchen! Das Leben hat uns wieder!“
„Linora“, hauchte ich entsetzt. „Zum Tor, und zwar fix. Da will jemand hinein und dann ist es …“
„… zu spät“, wollte ich noch sagen, aber von Linora war bereits keine Spur mehr zu sehen.
(Linora übernimmt im fliegenden Wechsel)
Gut, dass ich direkt neben Obstip gestanden hatte. Er kam gar nicht zum Ausreden, da war ich schon weg. Und er hatte noch nicht einmal gemerkt, dass ich mir seinen Degenstock ausgeborgt hatte. Irgendwer oder –was wollte also durch unser künstliches Dimensionsloch nach Zamonien eindringen. Und wenn es erst einmal dort war und auf die Idee kam, ein neues Ziel zu wählen, würden wir bis in alle Ewigkeiten hier festsitzen. Dazu durfte ich es nicht kommen lassen.
Die kurze Strecke war für mich natürlich nicht mehr als ein Kratzensprung. In weniger als einer Sekunde stand ich bereits am Tor und postierte mich breitbeinig vor dem Durchgang. Auf der anderen Seite sah ich die drei Tratschwellen verzweifelt an den Kühlrohren und den Kontrollstäben hantieren. Dampf strömte ihnen aus allen Poren und sie hatten bereits einen beträchtlichen Teil ihres Körpervolumens eingebüßt. Dennoch machten sie keine Anstalten, aufzugeben. Aber gerade als ich dem muffig in der Ecke stehenden Adler ein Zeichen geben wollte, mir zur Hilfe zu kommen, hörte ich, wie sich von hinten rasche Schritte näherten. Drei grau gekleidete Männer, mit Taschen und Beuteln bepackt, kamen drohend auf mich zu.
Ich starrte sie grimmig an, während ich gleichzeitig Obstips Stock erhob.
„IHR KÖNNT NICHT VORBEI !!!“
brüllte ich mit meiner lautesten Stimme.
Die Gestalten zögerten. Offensichtlich wussten sie nicht, was sie von mir halten sollten. Dann fächerten sie sich auf, während sie einander verzweifelte Blicke zuwarfen und sich zum Losrennen bereit machten.
Zwei würde ich aufhalten können. Aber einer würde es wahrscheinlich schaffen.
Aus der Ferne näherten sich Obstip und die Anderen im Galopp. Gleich würden sie hier sein. Wenn die Invasoren durch das Tor kommen wollten, dann durften sie nicht mehr länger warten …
Alle drei Angreifer sprinteten wie auf Kommando gleichzeitig los. Meine Güte, waren die Kerle schnell. Aber ich war schneller. Dem mittleren rammte ich meinen Kopf in die Magengrube, während ich dem rechten Obstips Stock zwischen die Beine schleuderte, so dass er hinstürzte und sich dabei mehrfach überschlug. Der dritte jedoch setzte mit einem Riesensprung über mich hinweg und stürzte durch den Ausgang.
Dort lief er genau in Eaglechens Faust.
(Puha, was für ein Masel. Ich glaube, euer Expeditionsleiter übernimmt dann besser mal wieder.)
Germinator und ich waren natürlich die Langsamsten. So kamen wir gerade noch zurecht, um zu sehen, wie unsere Hutzen die drei gestürzten und reglos daliegenden Männer in den Schwitzkasten nahmen. Aber nicht lange, denn alle ließen mit schrillen Schreien sofort wieder von ihren Opfern ab.
„Wuiwuiwui, die sind ja eiskalt!“, kreischte phellpe und rieb sich die erstarrten Hände. Zwarn und Eaglechen fluchten nur halblaut vor sich hin und litten stillschweigend. Bei diesem Anblick hatte Obstip einen Geistesblitz.
„Fesseln wir diese Monster doch an die Kühlrohre“, schlug er vor. „Das entlastet die Tratschwellen und gibt den Herrschaften hier Gelegenheit, endlich einmal eine sinnvolle und nützliche Tätigkeit auszuüben.
Mit Nachtigallers Spezialseil aus der Kammer der vergessenen Patente zurrten wir die benommen daliegenden Grauen Herren an den Kupferröhren des Torrahmens fest. Dies ließ den Temperaturanzeiger, der bereits knapp an der roten Gefahrenmarkierung gestanden hatte, auf einen etwas beruhigenderen unteren Gelbwert fallen. Die drei Tratschwellen Aha, Behbe und Zehze waren nur noch eine Dünung ihrer selbst. Völlig dehydriert brachen sie in der Mitte des Raumes zusammen, so dass wir Erste Hilfe leisten und sie mit Eisstückchen wieder hochpäppeln mussten.
Ich hatte schon geglaubt, nun seien all unsere Probleme gelöst und wir hätten mit dem Domestizierten Dimensionsloch endlich eine bequeme Möglichkeit an der Hand, unsere Kameraden im Labyrinth zu uns zu holen und dann gemeinsam entweder in die Nachtschule zurückzukehren, oder ein anderes lohnenswertes Ziel anzusteuern, da machte uns das Schicksal erneut einen Strich durch die Rechnung: Alle drei Hutzen verkündeten unisono, sie könnten ihre Arme nicht mehr bewegen.
„Ich friere ein“, hauchte phellpe. „Obstip, Andray, was geht hier vor?“
Einer der grauen Herren hob den Kopf und verzog den Mund zu einem messerdünnen Lächeln. „Sie hätten uns nicht so fest an sich pressen sollen, meine Gnädigste“, meinte er geringschätzig. „In spätestens zehn Minuten sind Sie nur noch Gefrierfleisch … falls ihre Freunde nicht kooperieren. Denn nur wir haben die Macht, Ihr Leben zu retten. Also, wenn die Herrschaften so freundlich wären, uns wieder loszubinden …“
BOOOOONG!
Was war das nun wieder? Mir kräuselten sich die Nackenwellen. Irgend etwas braute sich über uns zusammen. Etwas, das mit … Wasser … zu tun hatte.
BOOOOONG! BOOOONG!
BOOONG! BOOONG! BOOONG!
Ein Finsterberggewitter. Erbarmen!
Die drei Grauen Herren zuckten zusammen. Auch sie merkten, dass da etwas nicht stimmte, konnten aber noch nicht abschätzen, was es war. Nun, hier, so tief unten an der Wurzel der Finsterberge, waren wir wohl in Sicherheit. Aber unsere Kameraden oben im Labyrinth - was würde mit denen geschehen, wenn unübersehbare Wassermassen die Gänge und Stollen überfluteten?
Meine Gedanken überschlugen sich und hinter Obstips Stirn ging wohl Ähnliches vor, denn er schaute ruckartig auf das Messinstrument am Dimensionslochrahmen. „Einen einzigen Sprung schaffen wir mit dem Ding noch“, murmelte er.
GEDANKENBLITZ! Nein, ZWEIFACHER GEDANKENBLITZ, denn Obstip und ich hatten auf einmal dieselbe Eingebung.
BOOONNNGGG! BOOONNNGGG! Die Ereignisse begannen sich zu überschlagen.
„Wir schneiden Sie los, Sie helfen den Hutzen!“, schrie ich den Invasoren zu. „Herr von Kolon, ihren Degen, schnell!“
Obstip warf mir die Klinge zu, während er zu den Kontrollstäben eilte. Ich säbelte inzwischen die Fesseln durch und scheuchte unsere ungebetenen Gäste zu den Erfrierenden, die, blau vor Todeskälte, bereits kein Gelenk mehr krümmen konnten.
BONGBONGBONGBONGBONGBONGBONG !!!!
Da draußen über den Berggipfeln brach jetzt wohl die Hölle los. Es konnte nur noch wenige Minuten dauern, bevor die ersten Regenflutwellen durch die Madenstollen rauschten.
Die Zeitdiebe knieten inzwischen neben den Hutzen und hielten diese an den Gliedmaßen gepackt, während sie mit ihren bleichen Fingern die Vereisung wieder aus ihnen heraussaugten. Ich hoffte nur, dass sie dabei nicht auf die Idee kamen, sich ihre gierigen Mägen mit der Lebenszeit unserer Freunde vollzuschlagen. Aber sie waren wohl viel zu beschäftigt und verwirrt, um an so etwas zu denken.
Obstip griff nach den Kupferruten. „Zamonien, Finsterberge, Mitte des Labyrinths“, knirschte er fast unhörbar. Das Domestizierte Dimensionsloch gab einen schaurigen Ächzer von sich. Wieder wechselte das Bild und wir konnten den durch das Tor in den uns so vertrauten Raum hineinblicken.
Du meine Güte, was war denn hier passiert?
(Das erzählt uns am besten Kulla und gibt gleichzeitig einen Überblick, was im Lager inzwischen vorgefallen ist.)
Mit Verlaub, der Herr von Kolon ist wirklich ein Witzbold. Köstlich. In 24 Stunden sollen wir uns zurück zur Nachtschule durchschlagen, hat er gesagt, wenn die Rettungstruppe dann nicht mit Germinator wieder da ist. Wie das denn? Ohne Zeitmesser? Bin ich eine Stoppuhr? Sollen wir jetzt anfangen, von 86400 an rückwärts bis null zu zählen, wie weiland Käpt’n Blaubär im Ewigen Tornado? Ich bin doch nicht bekloppt. Verlasse ich mich eben auf meine innere Uhr, das ist genauso sicher. Wenn der Minus nur einmal aufhören würde, um die Amanda herumzuspringen. Das macht sogar eine gestandene Hutze wie mich ganz verrückt. MINUS! MUSS DAS DENN SEIN? Ach, es hat ja doch keinen Zweck.
Das mit Amanda macht mich ja völlig fertig. Abschüssige Tiefendepression! Gräßlich! Ob das wohl ansteckend ist? Nun, Amanda ist zwar äußerst hart im Nehmen (einmal in der Dunkelkammer haben wir glatte vier Stunden lang geglaubt, sie sei erstickt - Andray hatte schon mit Elektroschocks zur Wiederbelebung begonnen - da ist sie aufgestanden als ob nichts gewesen wäre und einfach fortgegangen), aber auch die Kraft einer Berghutze hat irgendwann ein Ende. Wir haben schon alles versucht, wirklich ALLES. Zeit genug hatten wir ja. Wir haben sie durch die Gegend gekugelt, Minus hat sie geschlagene zwei Stunden lang mit den wildesten Zwergpiratenflüchen überschüttet, die er nur kannte (um sie zu reizen und zu einer Reaktion zu bewegen) und wir haben sogar noch ein „Hutzenspaß“-Paket geöffnet – mit dem Resultat, dass wir uns bis zum Erbrechen Berghutzen-Friseurwitze wie diesen hier anhören durften:
Berghutze: Waren Sie das, der mir beim letztenmal die Haare geschnitten hat?
Friseurgeselle: Kann nicht sein. Ich arbeite erst seit fünf Jahren hier.
Schließlich, nach dem 41. Witz wurde es Minus zu dumm und er hackte den Quasselkasten mit seinem Piratensäbel kurz und klein. Finito! Aber genutzt hatte es trotzdem nichts.
Aus lauter Verzweiflung hab ich’s dann endlich mit meiner Gewürzkiste versucht. Und als ich der Amanda die Zimtbüchse unter die Nase halte, geschieht das Unglaubliche…
SIE REISST DIE AUGEN AUF !!! SIE ZEIGT AUF MINUS, DER IN DIE LUFT HOPST WIE EINE SELSILLISCHE SPRINGSCHRECKE UND GRUNZT:
„ICH SPÜRE
EINE GEWALTIGE
ERSCHÜTTERUNG!
DER MACHT
ALLES NUR
NOCH SCHLIMMER!“
Minus guckte betreten und hörte endlich mit der plöden Hupferei auf. Mir dagegen fiel ein Hutzengebirge vom Herzen, aber gleichzeitig bekam ich auch ein ganz, ganz mulmiges Gefühl in der Magengegend. Amanda hatte Recht. Der Geschmack der Luft wechselte ins Quecksilbrige. Gleichzeitig sank der Luftdruck und die Ozonwerte verschlechterten sich. Das deutete auf eine bevorstehende Wetterveränderung hin. Etwas braute sich zusammen.
Amanda sprang auf die Füße und streckte ihre Gliedmaßen. „Was für ein Krampf“, motzte sie kopfschüttelnd. „Ich weiß gar nicht, was da über mich gekommen ist. Krank, sagst du? Abschüssiege Tiefendepression? Was ist denn das wieder für ein Scheiß? Nein, ich, äh, hab mich nur ein bisschen ausgeruht. Ich werd’ hier unten doch nicht krank, verf***t-nochmal-und-halleluja, ich doch nicht. Aber sag mal, Minus …“, die Stimme der Hutze bekam einen drohenden Unterton, „habe ich da nicht vorhin mit halbem Ohr mitbekommen, dass du mich zwei Stunden lang beleidigt hast? Na warte, du Laus, wenn ich dich erwische! Bleib stehen, damit ich ein Lesezeichen aus Dir machen kann!“
Ich ließ sie gewähren. Eher hätte man Erfolg, einen rasenden Bollogg zu stoppen, als eine wütende Amanda. Und dann, mitten in der Verwirrung, dem Herumgerenne und den vergeblichen Versuchen der Ärgerhutze, auf Minus’ flitzende Gestalt zu latschen … unangemeldeter Besuch.
Ich befürchtete schon die alleinige Rückkehr von IndianaSepp, aber es war kein Stollentroll. Es war eine Finsterbergmade. Ein ziemlich großes und altes Exemplar sogar.
Die Made scherte sich nicht an unserer Anwesenheit. Sie kickte die herumliegende Ausrüstung zur Seite und rannte mit lauten „Ääh“ und „Ööh“-Rufen im Kreis herum.
Eine zweite Eisenmade erschien, dann eine dritte. Wir beeilten uns, das Gepäck und das Kochgeschirr in Sicherheit zu bringen, bevor alles platt getrampelt wurde. Amanda, gerade erst vor wenigen Minuten aus ihrer Starre gerissen, begann bereits wieder am ganzen Körper zu zittern. Alles um uns herum lag nun in Stille und Halbdunkel, nur das grünliche Licht einiger weniger Quallenlampen übergoss den Platz mit geisterhaftem Schimmer. Aus den Gängen drang das Geräusch weiterer sich nähernder Maden, die sich durch das Labyrinth ihren Weg bahnten, aber sobald sie erst das Zentrum erreichten, bewegten sie sich lautlos wie Schatten.
Große, wilde Männchen waren da mit starken Metallzähnen und Resten von Schlacke und Erz in den Gelenken und junge Burschen, die sehr stolz auf ihre Fähigkeit zu sein schienen, Feuer zu speien. Ältliche Wühler stießen hinzu, mit schmalen, hohen, dick gepanzerten Backen; Kampfmaden im Schmuck ihrer zahllosen Schrammen; zuletzt wechselte ein gewaltiges Weibchen in die Runde mit zerbeultem Schredder und dem furchtbaren Mal des Rostes auf blind gewordener Flanke.
Aus dem „Lexikon der erklärungsbedürftigen Wunder, Daseinsformen und Phänomene Zamoniens und Umgebung“ von Prof. Dr. Abdul Nachtigaller
Madenbalz, die: Auch wenn die Finsterbergmade zu den Rarlebewesen gehört, heißt dies noch lange nicht, dass sich diese Spezies nicht vermehren würde. Im Gegenteil, die (äußerst selten vorkommende) Madenbalz ist, neben dem Paarungsspiel der Seeschlangen im Fröstelgrund, eine der ästhetisch ansprechendsten Formen der Partnerwerbung in ganz Zamonien. Nur wenigen Sterblichen war es je vergönnt, dieses atemberaubende Schauspiel zu beobachten - und noch wenigeren gelang es, lebend zu entkommen, um davon zu berichten.
Dies liegt nicht etwa an der Gefährlichkeit des Vorganges selbst, sondern vielmehr an dessen äußeren Umständen: Die Finsterbergmaden paaren sich nämlich nur, wenn sie spüren, dass ein Finsterberggewitter naht. Bereits mehrere Stunden vor einem solchen Naturereignis geraten geschlechtsreife Eisenmaden in höchste Erregung. Heisere "Ääh" und "Ööh"- Laute ausstoßend streben sie, ihrem Instinkt folgend, einem bisher noch unbekannten Ort inmitten der Tiefen des Gebirges zu: dem Madentanzplatz. Jüngere Maden (weniger als 300 Jahre alt) werden zwar von derselben Unruhe ergriffen, verlassen sich in ihrer Gefühlsverwirrung jedoch nicht mehr auf die Instinkte, sondern irren ziellos in den Stollen umher, bis die Wasserflut sie wieder abgekühlt hat.
Die paarungsbereiten Eisenmaden jedoch beginnen bei ihrem Aufeinandertreffen mit einem höchst merkwürdigen Ritual: Im Rhythmus "Einmal rechts und zweimal links" führen sie einen Reihentanz auf, in dessen Verlauf die Weibchen silberglänzende Eier ablegen, die von den Männchen aufgenommen und mit den Schwänzen hin- und hergeworfen werden, wobei die Befruchtung erfolgt. Nach dem Tanz (der auf Grund seiner Intensität bisweilen auch Finsterbergbeben auslösen kann) zerstreuen sich die Maden wieder und überlassen es der einströmenden Flutwelle, die befruchteten Eier in die hintersten Winkel der Stollen zu tragen, wo sich die Jungtiere entwickeln und schließlich, nach ca. 164 Jahren, ausschlüpfen können.
Unter diesen Umständen ist wohl klar, warum es so wenige Finsterbergmadenforscher gibt.
Nun, das war’s dann wohl gewesen. Egal was wir taten, vor dieser Flut würde es kein Entkommen geben, niemals würden wir es vor Beginn der Katastrophe zurück in die Nachtschule schaffen, selbst wenn wir noch so schnell rannten. Noch nicht einmal zu Graubarts Schiff, wenn mir die Überlebenschancen dort auch nur um ein Winziges größer erschienen. Alles was uns blieb war, auf ein Wunder zu hoffen. In der Zwischenzeit konnten wir ja das Kulturprogramm genießen, selbst wenn es das Letzte war, was unsere Augen sehen würden. Immerhin würden wir in Schönheit sterben: Sic transit gloria mundi.
Inzwischen hatten sich mehrere Dutzend Eisenmaden im Zentrum des Labyrinths versammelt und stellten sich wohlgeordnet in zwei konzentrischen Kreisen, einander gegenüber, auf. Nur das Weibchen blieb in der Mitte stehen. Es drehte sich langsam um sich selbst, wobei es den Madenrythmus stampfte: zweimal rechts, einmal links. Die Männchen nahmen den Schritt auf und tanzten ebenfalls los, der äußere Kreis rechtsherum, der innere entgegengesetzt. Wände, Boden und Decke begannen unter der Wucht ihrer Sprünge zu beben, was, ich zweifelte nicht daran, bis hinauf in die Nachtschule zu spüren sein musste. Der Anblick war einfach grandios, auch wenn das Getöse alles überstieg, was ich je gehört hatte. Selbst auf die Ohren gepresste Fäuste boten kaum noch Schutz.
Das Madenweibchen hüpfte nun in die Höhe und drehte einen eindrucksvollen Salto. Dabei lösten sich von seinem Hinterleib etliche silbrige Kugeln, die langsam, wie Seifenblasen, nach außen drifteten. Dort wurden sie von den Männchen in Empfang genommen. Mit Hilfe ihrer platten Feilenschwänze fingen diese die Silberbälle auf, ließen sie zwischen den Beinen unter ihrem Körper entlang rutschen und pusteten sie mit ihrem heißen Atem wieder in die Höhe. Inzwischen produzierte das Eisenmädchen weitere Eier und füllte die Luft mit schimmerndem Flitter.
PLING!
Einer der Bälle folgte plötzlich der Schwerkraft und prallte hart auf den Boden auf. Ein Madenfuß erwischte ihn seitlich, rollte ihn in die Finsternis eines Tunnels. Die zweite Kugel hatte nicht so viel Glück: ein Tritt und sie war platt. Ähnlich erging es der nächsten, aber die vierte schaffte es wieder, davonzurollen. So ging es weiter und weiter. Stundenlang drehten sich die Finsterbergmaden in bizarrem Spiel umeinander. Hunderte, vielleicht tausende von Eiern wurden gelegt, befruchtet und zerstört in dieser relativ kurzen Zeit. Aber etlichen gelang es doch, sicheren Boden zu erreichen, in dunkle Spalten zu kullern, in vergessenen Ecken zu verschwinden. Das hypnotische Stampfen und Springen lullte auch uns ein, selbst der infernalische Lärm wurde ein Teil unserer selbst, so dass wir ihn irgendwann gar nicht mehr wahrnahmen.
Stunden später, als wir langsam wieder zu uns kamen, standen wir dann allein am Rand des weiten Rundes und nur das Klacken sich entfernender Eisenmadenschritte hallte noch als ruheloses Echo durch die Gänge. Überall klebten die Reste zermatschter Eier; Schotter aus diversen Grabungslöchern, Käsekuchenbrocken und Fetzen von buntem Einwickelpapier (die kläglichen Reste des Hutzenspaß-Paketes) lagen über den ganzen Boden verstreut. Und in diesem Augenblick …
BOOOOONG!
Okay. Wir hatten den Genuss gehabt, jetzt wurde uns die Rechnung präsentiert.
BOOOOONG! BOOOONG!
BOOONG! BOOONG! BOOONG!
Ein paar kurze Minuten vielleicht noch. Jetzt erlaubte es sich Minus doch tatsächlich, auf meine Schulter zu klettern und Amanda und mich zu fragen, ob wir angesichts des sicheren Exitus nicht noch „ein letztesmal ein bisschen Spaß mit ihm haben“ wollten. Leider ist es sehr schwierig, einem Zwergpiraten eine zu scheuern und sogar mein getreues Paddel war mir in dieser Situation keine große Hilfe. Nun, es war eh egal. In wenigen Atemzügen würden wir alle tot sein.
BOOONNNGGG! BOOONNNGGG!
Leises Rauschen in der Ferne, das langsam, aber stetig anschwoll. Wir klammerten uns verzweifelt aneinander und hauchten ein letztes Lebewohl.
BONGBONGBONGBONGBONGBONGBONG !!!!
Mit einem unbeschreiblichen Geräusch öffnete sich vor uns ein Riss im Raum-Zeit-Gefüge. Ein gewaltiges, bläulich leuchtendes Dreieck erschien, dessen Spitze in der Höhlendecke verschwand. Auf der anderen Seite sah ich …
„Zwarn, phellpe, Eaglechen, Linora, Obstip, Andray! Hurra!“ Aber wer waren diese drei grau gekleideten, unangenehm aussehenden Menschen dort? Und was waren das für fremde Tratschwellen, die sich da tummelten?
Obstip winkte aufgeregt und machte uns Zeichen, durch das Tor zu springen. Gleichzeitig versuchte er, die grauen Männer mit seinem Spazierstock vom Durchgang wegzudrängen, während Andray wild gestikulierend auf sie eintratschte.
„Noch nicht durch den Ausgang, meine Herren!“, hörte ich sehr gedämpft seine Stimme. „Wenn Sie jetzt da rausrennen, wird das ihr sicherer Tod sein!“
Die Fremden nickten einander kurz zu. Auf ihren Gesichtern erschien ein wildes Grinsen. Während wir in aller Eile erst unsere Ausrüstung und dann uns selbst durch das Transport-Artefakt hinüberwarfen, schrie einer von ihnen: „Das ist doch nur ein billiger Trick!. Aber darauf fallen wir nicht herein, nein, für wen halten Sie uns denn? Auf zu neuen Welten, meine Herren!“ Dann stießen sie mit blitzschnellen Bewegungen Obstip und den Herrn Expeditionsleiter gewaltsam zu Boden und sprangen mit furchtbarem Triumphgeheul in das sich sogleich verfinsternde Nachtglas hinein.
Das letzte, was ich von ihnen sah, bevor sich der Übergang endgültig schloss, waren ihre entsetzensverzerrten Gesichter und eine riesige Wasserwoge, die sich anschickte, mit Urgewalt über den Unglücklichen zusammenzustürzen.
(Ende von Kullas Bericht. Die Tratschwelle macht dann wieder weiter.)
Danke Kulla, das war sehr anschaulich und spannend erzählt. Wir scheinen da wirklich was verpasst zu haben.
Nur Bruchteile von Sekunden bewahrten uns vor der Überflutung. Obstip, von einem mächtigen Hieb gegen seinen Brustkorb mindestens zwei Meter weit davongeschleudert, musste die Kupferruten loslassen und das Nachtglas wurde rasch wieder zu einer festen Wand, die sich nun, nach Durchgang des letzten der Grauen Herren, mit fortschreitender Erhitzung immer mehr zu verwerfen begann. Schon zeigten sich erste feine Risse in der Fläche, dann knirschte es infernalisch, und mit einem Lärm wie zehntausend zerschmetternde Rhummflaschen starb das wahrscheinlich letzte noch existierende Domestizierte Dimensionsloch Zamoniens. Mist.
Wir erhoben uns vorsichtig, sahen nach, ob wir nicht durch fallende Nachtglassplitter verletzt worden waren und wischten uns die letzten matschigen Eiskristalle von den Körpern. Überall begann es zu tropfen und zu schmelzen, da die hocherhitzten Kühlrohre nun ihre Temperatur frei in die Luft ableiteten konnten. Bald umfing uns angenehme Wärme, die unseren ausgelaugten Körpern willkommene Erholung spendete. Inzwischen rumpelte das Gewitter über den Berggipfeln lustig weiter und badewannengroße Wassertropfen ließen die Felswände noch beinahe eine Stunde lang erdröhnen wie eine gigantische erzene Glocke.
Ich hatte keine Ahnung, wann die Reste der Gewitterflut unseren Aufenthaltsort erreichen würden, hoffte aber, dass sich das Wasser auf seinem Weg durch die Tunnels und Kavernen so verteilen müsste, dass uns hier, wenn überhaupt, nur noch ein Rinnsal erreichen würde. Die Hutzen untersuchten das Gefälle des Bodens und stimmten mir prinzipiell zu. Okay, es konnte natürlich sein, dass eine vorwitzig platzierte senkrechte Madenröhre uns in wenigen Sekunden fluten würde, aber sehr wahrscheinlich war dies nicht.
Alles blieb trocken. Das Glück des Tüchtigen, denke ich.
Aha, Behbe und Zehze bereiteten sich inzwischen ausgelassen auf ihren Abschied vor. Während sie letzte Wasserreserven ‚auftankten’ schwappten sie in der Gegend herum und sangen dabei närrische Liedchen.
„Der Brünnenfeld, der Brünnenfeld,
Das ist der größte Depp der Welt,
Fiderallala, fiderallala,
Fiderallalalala“,
krähte Behbe mit sich überschlagender Fistelstimme. Und Zehze ergänzte:
„Heut steigt er ein ins Taucherboot
Und morgen ist er mausetot,
Fiderallala, fiderallala,
Fiderallalalala!“
Obstip kam, ganz entgegen seinem Naturell, höchst hektisch herbeigestürzt. „Herr Behbe, Herr Zehze, was haben Sie da gerade eben gesungen?“, keuchte er.
„Der Brünnenfeld, der Brünnenfeld …“, begannen die Welleriche unsicher. „Das ist nur ein harmloses Liedchen, das wir uns mal ausgedacht haben. Schon ganz schön lange her. Damals, kurz bevor wir geschnappt wurden und in Gefangenschaft kamen war das.“
„Ja. Erinnerst Du Dich? Das Unterwasserschiff? Pasta Aldente und Pizza Quadrostagioni, die Venedigermännlein? Und der brummige Glǿd Hammerschlag, der die Bergzwerge angeführt hat? Hach, was waren das noch Zeiten!“
„Vorbei, vorbei…“
Der Nattifftoffe wurde immer aufgeregter. „Soll das heißen, dass Sie an der Finsterbergexpedition von Sigobertus Brünnenfeld vor über 200 Jahren teilgenommen haben?“ fragte er atemlos.
„Yo, Mann.“
„Klaro, Mann. War ’ne tolle Geschichte damals. Schade nur, dass es so in die Hose gegangen ist.“
„Wir waren als Taucher angeheuert. Mit eigenem Maxikübel und täglichem Frischwasser“, meldete sich nun auch Aha, der neben seine Kumpane getreten war. „Fragen Sie nicht, was wir alles erlebt haben, ich will nicht mehr daran denken. Jedenfalls sind wir irgendwann von dem Riesen aus der Brühe gefiltert und ins Kühlsystem gesperrt worden. Zwei mal hundert grauenhafte Jahre lang.“
„Aber jetzt sind wir frei, Juchhei!“
„Endlich zurück in zamonische Tiefseegewässer!“
„Endlich zurück zu meinem Schwippschwager mütterlicherseits!“
„Schnauze, Zehze!!!“
Obstip stieß ruckartig den angehaltenen Atem aus. „Das bedeutet also, dass die Reste von Brünnenfelds Expedition noch hier in der Nähe zu finden sein müssen“ stellte er fest.
„Aber sicher, oh Großmufti“, antwortete Behbe. „Wenn keiner den Schrotthaufen beseitigt hat, liegt der Kram sicher noch irgendwo hier rum. Aber was willst du mit all dem Zeugs? Das fällt doch auseinander, wenn du es nur scharf anschaust.“
„Das wird sich noch zeigen“, meinte der Toffe. „Liegen die Sachen vielleicht gerade in der Nähe eures Weges nach draußen? Könnt ihr uns vielleicht einen letzten Gefallen erweisen und uns dorthin bringen? Ich möchte die Herrschaften in diesem Zusammenhang mit Verlaub auch auf das ‚Gesetz über die Freiheit der Wissenschaft (GÜDFDW Band VIIIa §§ 58-91 und 131 ff.)’ aufmerksam machen, laut dem Privatpersonen während einer Expedition in jeglicher Weise zu unterstützen und am Fortkommen nicht zu hindern sind. Aber habe ich das nicht bereits an anderer Stelle erwähnt?“
Die drei Wellen steckten die Köpfe zusammen und tuschelten. Schließlich, nach bangen Minuten, trat Aha vor, der sich seit der Befreiung immer mehr zum Sprecher der drei Wellenjungs gemausert hatte.
„Also gut“, deklamierte er würdevoll wobei er den nattifftoffischen Tonfall perfekt imitierte. „So möge es geschehen. Eigentlich wollten wir ja so schnell wie möglich in die Freiheit der Meere davoneilen, aber in Anbetracht Eurer Verdienste um die Rettung unserer Wellengemeinschaft werden wir das noch ein wenig verschieben. Wir gestehen euch also eine kurze Ruhepause zu, dann geleiten wir euch zu dem ollen Gerümpel und dann ….“, er jubelte plötzlich in voller Lautstärke los, „ … ENDLICH PARTY !!!“
So schlugen wir unser Lager in den Trümmern auf, und während Kulla den Kessel anheizte und einen leckeren Eintopf zauberte, versammelten wir Übrigen uns um das Lagerfeuer zum Singen, Tratschen und Erzählen. Stoff für spannende neue Geschichten gab es ja genug. Und natürlich vergaßen Obstip und ich auch nicht, in einem gekühlten Druckbehälter einen der kostbaren Nachtglas-Splitter zu verwahren, mit dem wir nach unserer Rückkehr mächtigen Eindruck bei den daheim gebliebenen Mitschülern schinden wollten.
„Reise in die Tiefen der Nachtschule bis zur Mitte Zamoniens"
9. Tag
Hallo, ab jetzt übernehme ich wieder die Berichterstattung. Ja, ihr lest richtig, euer Expeditionsleiter ist dank Herrn von Kolons Hilfe zurück auf die Beine gekommen. Und die Gelatinetabletten brachten mich schlussendlich wieder komplett in Schwung. Während Obstip, Linora, Zwarn und phellpe also die Pause nutzten und ein wenig wegdösten, fand ich vor lauter Energie keine Ruhe. Trotz der Gefahr, erneut von den Gefährten getrennt zu werden, konnte ich mich nicht zurückhalten, auf eigene Faust „ein wenig die Umgebung zu sondieren“. Leise stand ich auf, griff mir eine Quallenlampe und tappte, mich auf meinen Instinkt verlassend, ein Stück weiter bergabwärts.
So erreichte ich nach wenigen Minuten einen gigantischen, völlig in Trümmern liegenden Raum, der wohl einmal eine Art Labor gewesen sein musste. Ein mannshoher, geschlossener Glaszylinder, beschriftet mit einer mir unbekannten Messskala, erregte meine Aufmerksamkeit. Er war an der nackten Höhlenwand befestigt und durch robust wirkende Kupferrohre mit anderen Gerätschaften und, wie es aussah, Teilen eines Flüssigkeits-Verteilersystems verbunden. Irgend etwas schwappte darin herum. Neugierig kam ich näher, da starrten mich aus der farblosen Suppe plötzlich zwei Augen an. Natürlich erschrak ich furchtbar- und schalt mich gleich darauf einen Idioten, da ich offensichtlich mein eigenes Spiegelbild im Glas für ein anderes Wesen gehalten hatte. Doch dann erschien in der Flüssigkeit ein zweites Paar Augen und schließlich ein drittes. Wässrige Münder, verzerrt zu unhörbaren Schreien und Grimassen der Verzweiflung wogten im Schauglas herum, wobei sie kräftige Wellenwirbel verursachten. Das Rohrsystem ächzte in seinen Verbindungen und Verankerungen, aber es hielt. Entsetzlich. Hier waren offensichtlich mehrere meiner Artgenossen auf engstem Raum eingepfercht worden. Ich musste sie befreien, koste es, was es wollte. Zuerst schlug ich mit meinen schwachen Tratschwellenfäusten eine Zeit lang erfolglos auf die dicke Glaswand ein, dann wurde mir die Sinnlosigkeit meines Tuns bewusst. Ich benötigte passendes Werkzeug, und zwar auf der Stelle.
‚Los, Andray, jetzt streng mal endlich deinen Wasserkopp an ...’ drängte ich mich selbst. Dann kam der Geistesblitz: mein modifiziertes Schweizer Taschenmesser enthielt auch einen Glasschneider - und es steckte in der Innentasche meines Laborkittels, der sich, da er noch vor Schmutz starrte, in phellpes Gepäck befand. Ich gab den gefangenen Tratschwellen im Glasrohr ermutigende Zeichen und stürzte davon.
Manchmal hat man einfach einen guten Tag. Genau wie es Pechsträhnen gibt, bei denen man mit traumwandlerischer Sicherheit dreimal hintereinander in die Abfallprodukte eines Höhlenbewohners tritt, gibt es (wenn auch leider viel seltener) Situationen, in denen sich das Glück mit unverschämter Häufigkeit an einem Fleck zusammen zieht. Ich weiß nicht, woran es lag, nennt es Schicksal oder göttliche Vorsehung, jedenfalls kam ich gerade rechtzeitig, um zu beobachten, wie IndianaSepps lange, schmierige Finger einen intensiven Besuch in des schnarchenden Herrn von Kolons Hosentasche machten. Offensichtlich war er auf der Suche nach Geld oder anderen Wertsachen und nutzte die allgemeine lähmende Müdigkeit meiner Kameraden schamlos aus.
„Dieb! Dieb! Haltet den Dieb!“, schrie ich in höchster Lautstärke. Der Stollentroll erstarrte vor Entsetzen, aber leider nicht lange genug. Bevor der Nattifftoffe ihn am Wickel kriegen konnte, verschwand er in einem Spalt, den selbst eine in die Enge getriebene Murmelmaus als Fluchtweg verschmäht hätte. Unfassbar. Unauffindbar.
„Hat er was geklaut? Fehlt euch was? Seid ihr in Ordnung?“ fragte ich die schlaftrunkenen Gefährten atemlos. Eine kurze Überprüfung unseres wenigen mitgeführten Materials ergab, dass alles noch an Ort und Stelle war. Wonach hatte der Schattenparasit dann aber gesucht?
„Danach!“ lächelte Obstip verschmitzt und hob seinen Höhlenhelm etwas an. Zwischen den Nattifftoffenhörnern klemmte ein ziemlich schäbig aussehendes Büchlein. Waren das etwa Obstips Reisenotizen? Nein, das konnte nicht sein. Kein Nattifftoffe hätte freiwillig Ausrüstung in solch mieser Qualität benutzt. „Ich erklär's ihnen später“, meinte er leicht resigniert. „Jetzt, da wir unseren Führer wohl endgültig los sind, sind wir, wie es aussieht, ganz auf den Inhalt dieses Schriftwerkes angewiesen, wenn wir das Domestizierte Dimensionsloch finden wollen.“
Das interessierte mich zur Zeit jedoch nur peripher. Wo war mein Taschenmesser? „Entschuldigung, Frau phellpe“, murmelte ich, während ich ihren Rucksack aufnestelte, den dreckigen Kittel herauszerrte und das Universalwerkzeug barg, „aber jetzt bin ich mal dran mit der Lebensrettungs-Nummer.“ Nicht auf die verständnislosen Blicke der Junghutze achtend, war ich schon wieder auf dem Weg, so schnell mich meine Gelatinebeine trugen.
Mit durchdringendem Knirschen fraß kurz darauf die Diamantklinge eine mehr oder minder runde Öffnung in die stabile Glaswand des Zylinders. Kaum war der ‚Kreis’ geschlossen, gab es ein gedämpftes Knacken, das Material barst und ein dicker Wasserstrahl schoss durch den Raum. Eine Zeit lang sah man überall nur Wasser, ich musste mich an einem Rohr festklammern, um nicht weggespült zu werden. Zum Glück sauste die Flut größtenteils durch Abflussgitter und Spalten weiter nach unten, so dass uns allen eine lästige Überschwemmung erspart blieb. Ich konnte nur hoffen, dass meine eingesperrten Artgenossen nicht ebenfalls ein Opfer der Strömung wurden. Aber das schwappten sie schon herbei, laut jubelnd und aus vollster Kehle tratschend vor Freude über die endlich wiedergewonnene Freiheit.
„Ich bin Aha.“ „Und ich Behbe.“ „Und ich heiße Zehze“, stellten sich die drei Tratschwellen vor. „Vielen Dank, dass du uns da rausgeholt hast. Über zweihundert Jahre stecken wir nun schon hier drin. Ehrlich ... hätten wir nicht sowieso einen an der Waffel wir wären längst komplett Gaga geworden in der langen Zeit. Können wir Dir zum Dank was helfen hier unten? Wir kennen uns nämlich verdammt gut hier aus. Unser System war leider das einzige, das die Zeit überdauert hat ... während ringsherum alles in die Binsen ging, hat die verfluchte Rohrleitung noch nicht mal ne undichte Stelle gekriegt. Suchst du was bestimmtes? Nur raus damit. Je schneller wir quitt sind, umso besser ... wir wollen nämlich so schnell wie möglich in den Zamonischen Ozean zurück.“
„Ähem“, räusperte sich da die Stimme des Nattifftoffen hinter uns, „haben der Herr Expeditionsleiter in seiner übergroßen Güte wohl die Freundlichkeit, uns gemeines, unwissendes Volk von der Änderung der Lage in Kenntnis zu setzen? Wer bitte sind die hier so plötzlich aufgetauchten Tratschwellen und wie war das mit dem Angebot zur Hilfe?“
„Ein glücklicher Zufall, Herr von Kolon“, entgegnete ich, während mir das Wellenherz vor Aufregung noch bis zum Hals klopfte. „Meine drei aufgepeitschten Artgenossen dort sind ganz wild darauf, uns ihre Dankbarkeit zu zeigen – und sie sind hier so gut wie zu Hause“.
„Supermegawahnsinns-Okay!“ schwappten alle drei Tratschwellen gleichzeitig und tanzten dabei so ausgelassen um mich herum, dass ich sie nicht mehr zu unterscheiden vermochte.
„Sagt uns euer Ziel und wir bringen euch hin.“
„Joho, und das mit Schmackes.“
„Prontopronto.“
Obstip verdrehte verzweifelt die Augen. „Wenn die freundlichen Wellen jetzt mit der Hopserei aufhören und uns zum nächstgelegenen Domestizierten Dimensionsloch führen würden, damit wir nach Chrosonopol zum Schuttabladeplatz der Zeit kämen, wäre uns schon sehr geholfen“, meinte er. „Je länger wir nämlich brauchen, desto geringer werden unsere Chancen, Germinator wiederzufinden und Amanda zu kurieren. Lasst mich nur schnell die Hutzen und Linora holen, dann können wir loslegen.“
Er drehte sich um und eilte davon.
„Hemm hemm, zum Domestizierten Dimensionsloch wollt ihr ...?“ fragte eine der Wellen, ich glaube es war Behbe. „Dann sollten wir wirklich etwas Dampf machen.“
„Ja, sonst wird der Durchgang zu gefährlich für einige von euch.“
„Wisst ihr, das Ding heizt sich jetzt nämlich langsam auf ...“
„Weil ... äh ... irgendwie die Kühlung nicht mehr funktioniert ... ganz urplötzlich ...“
„... weil das Kühlsystem gerade leergelaufen ist. Das war das einzige, was hier unten noch in Ordnung war ...“
„Aber gib nicht uns die Schuld, Andray. Du hast es vermasselt.“
„Jepp. War wohl ein wenig voreilig, deine Rettungsaktion. Tut uns Leid.“
„Nee, mir nicht!“
„Schnauze, Zehze!“
„Jetzt quatscht keine Opern, Kumpels. Ich hör den Rest der Truppe antraben. Abschwappen, aber dalli. Sonst verzieht sich das Nachtglas und dann ist’s Essig mit den tollkühnen Abenteurern, höhö.“
Aus dem „Lexikon der erklärungsbedürftigen Wunder, Daseinsformen und Phänomene Zamoniens und Umgebung“ von Prof. Dr. Abdul Nachtigaller
Nachtglas, das: Als ‚Nachtglas’ bezeichnet man eine außerirdische Substanz aus extrem konzentrierter und verdichteter Dunkelheit. Zwar hat die Nachtigalleristik rein hypothetisch längst bewiesen, dass es ein solches Material geben könnte und wie seine physikalischen Eigenschaften lauten müssten, doch ist es bisher niemandem in Zamonien, selbst einem Genie wie meiner Person nicht, gelungen, die technischen Voraussetzungen für seine Herstellung zu schaffen. Eventuell auf dem Kontinent vorhandenes Nachtglas muss also nicht-irdischen Ursprungs sein.
Auf Grund fehlender Materialproben kann man daher leider nur die folgenden Hypothesen aufstellen:
a) Nachtglas müsste in kaltem Zustand fest wie Metall sein, wird jedoch bei einer Temperatur von 77 Grad gummiartig und verdampft schließlich bei 777 Grad Celsius.
b) Nachtglas hat die Eigenschaft, Wärmeenergie in sich aufzunehmen, um bei Erreichen der benötigten Temperatur schlagartig den Aggregatszustand zu wechseln. Daher pflegt es im Umfeld von Nachtglas recht kühl zu sein, während sich das Material langsam aufheizt.
c) Festes Nachtglas müsste mit Hilfe elektromagnetischer Energie in einen dimensionslochähnlichen Zustand versetzt werden können. Sollte es gelingen, diesen Energiezufluss zu kontrollieren, wäre es möglich, eine torähnliche Transportmöglichkeit zu einem anderen Ort, also eine Art ‚domestiziertes Dimensionsloch’ zu erzeugen.
d) Die Benutzung eines solchen Transportmittels würde jedoch große Risiken bergen. Sollte das Nachtglas nicht ständig gekühlt werden, käme es durch die Erhitzung zwangsläufig mit der Zeit zu Rissen und Verwerfungen. Dann würde nur eine flüssige, gallertartige oder gasförmige Lebensform die Reise noch relativ unbeschadet überstehen. Wesen aus Fleisch und Blut müssten beim Durchgang Verformungen und Geweberisse erleiden, die zu Verstümmelung und Tod führen könnten.
Sollte es jemandem gelingen, ein Stück Nachtglas zu erzeugen oder zu bergen, wäre dies mit Sicherheit die wissenschaftliche Sensation des Tages.
Ich glaube, dass ich mich noch nie in meinem Leben so schnell auf dem Land fortbewegt habe, wie in diesen bangen Minuten. Zum Glück schob mich Linora von hinten an, sonst hätte ich niemals mit Obstip, phellpe und Zwarn mithalten können. Die drei Wellenjungs vereinigten sich zu einer kompakten Wassermasse, flossen vor uns her und räumten, wo es notwendig war, den Weg frei. Gerümpel und Trümmer kapitulierten vor der Wucht der eindrucksvollen Woge, wurden zur Seite geschleudert oder lösten sich in harmlose Brocken auf. Wir sausten durch Bereiche und Kammern, in die ich freiwillig niemals einen Fuß gesetzt hätte.
Endlich stoppten die Tratschwellen vor einem halb eingestürzten Durchgang, aus dem uns ein eiskalter Wind entgegenpfiff.
„Uh-oh“, meinte Aha. „Das sieht nicht so extrem gut aus ...“
„Es scheint sich schon ziemlich aufgeheizt zu haben. Tja, da geht man einmal weg und macht sich ein paar schöne Minütchen, und schon passiert so was ...“
„Undankbares Ding. Zweihundert Jahre lang haben wir dich in Schuss gehalten.“
„Ja. Wir waren quasi wie Eltern zu dir. Oder wie Omas, Opas und Geschwister ...“
„Oder wie Schwippschwäger mütterlicherseits ...“
„Ja. So.“
„So ähnlich. Das kannste uns schon glauben.“
„Also mach jetzt mal keine Zicken und bleib noch ein paar Minuten lang stabil, du dummes Loch. Tu uns den Gefallen. Wir sind doch deine Brüder ...“
„Deine Ersatzfamilie …“
„Deine Schwippschwäger mütterlicherseits.“
„Schnauze, Zehze!“
Behbe drehte sich nach uns um. „Also wenn ich ihr wäre, dann würde ich keine Sekunde mehr verlieren. In spätestens einer Stunde wird der Durchgang lebensgefährlich. Wenn ihr bis dahin nicht wieder hier seid, gibt’s bei der Rückkehr gemischtes Hackfleisch anstatt wagemutiger Retter.“ Er zwängte sich in den dahinterliegenden Raum, seine beiden Kumpane folgten ihm. Auch Linora und ich flutschten durch die Lücke, Obstip, Eaglechen und die Hutzendamen taten sich schon etwas schwerer. Aber schließlich standen wir alle vor dem Ziel unserer Wünsche: dem Domestizierten Dimensionsloch.
Aus dem „Lexikon der erklärungsbedürftigen Wunder, Daseinsformen und Phänomene Zamoniens und Umgebung“ von Prof. Dr. Abdul Nachtigaller
Domestiziertes Dimensionsloch, das: Besäße man Nachtglas und eine kontrollierbare elektromagnetische Strahlungsquelle, so könnte man bei entsprechendem Stand der Konstruktionstechnik daraus ein dimensionslochähnliches Tor zu anderen Welten erschaffen: das Domestizierte Dimensionsloch. Wie eine solche Kontrolleinheit aussehen könnte und ob sich mit Hilfe dieser Steuerung auch spezifische Dimensionen ‚anwählen’ lassen würden, ist zur Zeit noch Spekulationsobjekt der Zukunftsforscher und der Autoren von Absurder Entdeckungsliteratur. Leider ist die Sache nicht so einfach, wie es sich diese höchst phantasiebegabten Spinner ausmalen. Ich weiß das aus eigener Erfahrung – und ich bin schließlich die höchste Koryphäe auf diesem Gebiet.
Sollte mir also jemand ein Stück Nachtglas bringen können, so würde er mich nicht undankbar finden.
Der Anblick war alles andere als spektakulär: eine Art schwarzer Spiegel, dreieckig, vielleicht zehn Meter hoch und an der Basis vier Meter breit. Seine Oberfläche kräuselte sich leicht, wie das Wasser eines Sees in der Abendbrise. Ringsherum führten dicke Kupferrohre, ein Zeiger auf einer daran befestigten Messskala bewegte sich gerade langsam aus dem grünen Bereich heraus und in den gelben hinein. Und eiskalt war es hier, so kalt, dass meine Außenhaut zu überfrosten begann.
„Wo-ho stellt ma-han denn hi-hier das Ziel ei-ein?“ stieß ich zitternd zwischen meinen gefrierenden Lippen hervor. Nirgends waren Steuerknöpfe zu sehen, lediglich zwei lange Kupferstäbe ragten vor dem Tor aus dem Boden.
Behbe schlang zwei Wellenausläufer um die Metallruten. „Nächste Station: Dimension Chrosonopol“ quäkte er. „Los, macht schon, wir halten euch das Tor offen, solange es geht.“ Aha und Zehze warfen sich gegen die Kühlrohre, dass es zischte. Der Zeiger auf der Skala rutschte wieder ein Stückchen nach unten. Im Nachtglas erschien das chaotische Bild einer riesigen Müllhalde, die sich bis zum Horizont erstreckte.
„Wenn ihr das überlebt und dazu noch euren Freund in dem ganzen Schlamassel findet, fress ich einen Schwamm“, knirschte Aha, in dessen Innerem sich bereits kleine Siedebläschen bildeten. „Wünsch euch Glück.“
„Von mir auch.“
„Und von meinem Schwippschwager mütterlicherseits natürlich auch.“
„Schnauze, Zehze!“
Linora drängte sich neben Behbe, streckte den Kopf ein wenig nach vorn und schien in sich hinein zu lauschen. „Völlig falscher Platz. Wir müssen ziemlich genau 102 Kilometer nach Osten und 43,7 nach Norden!“ kommandierte sie mit Nachdruck.
Die Tratschwelle wurde unruhig. „Hoffentlich ist deine Schätzung korrekt, Schwester. Weißt du, jeder Ortswechsel heizt das Nachtglas nämlich ganz schön heftig weiter auf.
„Mach dir mal keine nassen Hosen, Wassermaxx“, gab unsere Schlechte Idee leicht genervt zur Antwort. „Toleranz maximal ein Kilometer.“
Der Bildausschnitt im Tor wechselte schlagartig: Mehr Müll und mehr verschiedenartige, teilweise völlig unbekannte Gegenstände wurden sichtbar. Aha schrie vor Schmerz auf, während der Temperaturanzeiger am Torrahmen weit in den gelben Bereich hinein sprang. Mir wurde übel, denn ich hatte das Gefühl gehabt, der Boden unter meinen Füßen beginne zu kippen. Aber wo zum Geier steckte nur unser Germinator? Immer noch war nirgendwo eine Spur von ihm zu entdecken.
„Es hilft nix, wir müssen persönlich auf die Halde und suchen“, war ich mit den Kameradinnen und Kameraden (bis auf den Adler, der sich kategorisch weigerte, auch nur einen Fuß in den Transporter zu setzen) einer Meinung. Während Eaglechen brummend zur Seite rückte und Behbe beim Hantieren an den Metallruten zuschaute, kniffen wir Übrigen die Augen zusammen, fassten uns an den Händen, nahmen Anlauf und sprangen mit zusammengebissenen Zähnen los.
Stürze durch Dimensionslöcher sind an ähnlicher Stelle bereits des öfteren beschrieben worden, ich will die geschätzte Leserschaft ja nicht langweilen. Dies hier war jedoch eine völlig neue Erfahrung für uns alle. Ein ‚Dimensionslochritt’ im Zeitraffer sozusagen. Keine ‚saloppe’ sondern eine ‚galoppe’ Katatonie traf uns in die Magengrube, aber bevor wir dem Drang nachgeben konnten, unser Innerstes nach außen zu kehren, war alles schon wieder vorbei und unsere Gruppe am Ziel angekommen.
Mit schafigem Gefühl im Leib (vor allem auf der Zunge) ließen wir einander los und nahmen unsere Umgebung vorsichtig in Augenschein.
Wir starrten über Berge von Schutt hinweg in Richtung eines breiten, gemauerten Kanals, an dessen jenseitigem Ufer sich ein riesiger Gebäudekomplex befand, der selbst für einen Amateur-Abenteurer wie mich deutlich als „Hochsicherheitszone“ erkennbar war. Der Stacheldraht, die zehn Meter hohen Betonmauern, die Selbstschussanlagen und eine Legion mit unheimlich aussehenden Waffen ausgerüsteter Wachen sprachen eine deutliche Sprache. Ich hoffte inständig, dass uns das Schicksal nicht zu diesem Ort führen würde.
Wieder ‚peilte’ Linora und fing die Wellen unseres Gedankenübertragungs-Kristalls auf. Dann deutete sie mit ihrem zarten Ärmchen nach links. „Sechshundertdreißig Meter diese Richtung, plusminus zehn Meter“, konstatierte sie mit Bestimmtheit.
Obstip streckte die Nase in die Höhe, sog prüfend die Luft ein und verzog dann indigniert den Mundwinkel. „Hier mieft’s nach alten Rettungssauriern“, meinte er. „Das kenne ich von damals, als ich das Seniorenheim ‚Nordend’ gegen eine marodierende Grabsch-Welle verteidigte …“
„Bitte, Herr von Kolon“, drängte ich. „Können sie uns diese zweifellos höchst interessante Geschichte nicht später erzählen? Jede Minute, die wir hier ungenutzt verstreichen lassen, macht es meinen drei Mit-Wellen schwerer, das Tor funktionsfähig zu halten.“
Das sah Obstip ein und so überwand er schließlich seinen Widerwillen und wir konnten trotz der süßlich-muffig riechenden Atmosphäre losmarschieren.
Zuerst ging es hindurch zwischen allem möglichen Gerümpel wie Halden von leeren Hundefutterdosen oder Hügeln von zerbrochenen Speeren und verbogenen Schwertern. Hier Türme von Teppichen mit scheußlichen, völlig aus der Mode gekommenen Mustern und Farben, dort Berge von Ölbildern, die allesamt röhrende Hirsche, schreiend bunte Sonnenuntergänge oder barbusige Zigeunerinnen zeigten. Der Nattifftoffe bedeckte angesichts soviel geballter Geschmacklosigkeit das Gesicht mit den Händen und wünschte sich eine dunkle Brille herbei, um drohenden Augenkrebs zu vermeiden. Seltsamerweise war der Müll jedoch recht gut sortiert und teilweise sogar mit Hinweisschildern versehen Irgendjemand machte sich also offensichtlich hier die Mühe, den Schrottplatz in Schuss zu halten.
Nicht jedes Schild war für mich lesbar, geschweige denn verständlich. Ich sah zum Beispiel ‚UTNATOLAS ZUM PÖMPELN’, ‚AUSRANGIERTE SCHÜRBELWELLEN, Größe 48b’, ‚SCHELLACKPLATTEN 1913-14’, ‚LOCHKARTEN-LESEGERÄTE’, ‚PUTNAH-JAMBA-HOSEN MIT ARMELIERUNG’, ‚GESTOPFTE SCHILL-WÜRMER IN ASPIK’, ‚AUTOBIOGRAPHIEN NICHT-SO-BERÜHMTER UNLÄNDISCHER POSTBEAMTER AUS DEM MITTLEREN DIENST’, ‚RUBIK-WÜRFEL (neu, gebraucht, defekt)’ und ‚SAMMELALBEN FÜR MARGARINE-BILDER’, was immer all diese Dinge auch sein mochten.
Schließlich erreichten wir einen breiten, betonierten Geländestreifen, der auf den ersten Blick einer fahrzeugfreien Straße ähnelte (auf den zweiten übrigens auch). Ich blickte mich nach einer entsprechenden Hinweistafel um und wurde auch sofort fündig. ‚ReichsAutobahn’ stand in gotischen Lettern auf einem darüber hinweg gespannten Transparent und ich fragte mich sogleich, wie vermögend dieser Herr Reich wohl gewesen sein musste, dass er sich eine eigene Autobahn hatte leisten können.
In diesem Moment hob Obstip die Hand und legte warnend einen Finger auf die Lippen. „Pst. Ich höre etwas …“, flüsterte er. „Vier … nein … fünf Stimmen. Und eine davon gehört unserem Schweinsbarbaren. Etwa 200 Meter entfernt, wahrscheinlich dort hinter der Aufschüttung aus handgeflochtenen Peddigrohr-Körbchen. Leise jetzt … ich gehe mal nachsehen.“ Er zog den Degen aus dem Spazierstock blank und pirschte sich im Schutz diverser unförmiger Walzmaschinenteile an die Geräuschquelle heran. Und da es mir zu dumm ist, jeden Schritt und Tritt des Nattifftoffen zu kommentieren, soll Herr von Kolon besser selbst erzählen, was er da so alles gehört, gesehen und getan hat.
(Beginn von Obstip von Kolons Spionagebericht)
Okay, ich gebe es zu, für Späheraufgaben sind Nattifftoffen die erste Wahl. Keine andere Spezies übertrifft uns an Geschmeidigkeit und Sinnesschärfe – wenn wir nicht gerade auf Böden unterwegs sind, die andauernd unter unserem Gewicht krachen und knirschen. Wie sollte man sich bei einem solchen infernalischen Lärm nur unbemerkt einer Zielperson nähern? Die einzige Möglichkeit, mein Gewicht besser zu verteilen, war wohl … oh nein! Bitte nicht! Wie äußerst demütigend und würdelos.
Aber es blieb mir keine andere Wahl. Aufseufzend steckte ich den Stockdegen wieder weg und ließ mich auf alle Viere nieder, wie es bei meinen Vorfahren vor hunderten von Jahren üblich gewesen war. Und ich betone: Dies alles tat ich nur, um Germinator zu retten. Ich habe also noch einen dicken Gefallen bei ihm gut.
Langsam, vorsichtig trabte ich näher und konnte nun auch erkennen, was da vor sich ging.
Am Straßenrand vor mir parkte eine dieser langgezogenen, potthässlichen Ohnepferdkutschen, welche in technikverliebten Ländern ‚Stretchlimousine’ genannt werden. Neben ihr warteten zwei zigarettenrauchende Gestalten in grauen Anzügen und ebensolchen Bowlerhüten, die auf den ersten Blick menschlich wirkten, es aber wohl nicht waren, denn sie strahlten eine Eiseskälte aus, die bis zu mir herüber spürbar war. Sie unterhielten sich ungeniert mit seelenlosen Stimmen.
„ …se Selbstgedrehten hängen mir zum Hals raus“, erlauschte ich. „Absolut indiskutabler Geschmack. Ach, wenn ich da an die Zeit denke, wo man noch mit Genuss eine richtige Stundenblumen-Zigarre schmauchen konnte.“
„Sprechen sie nicht davon, sonst verliere ich die Contenance. Es hätte alles so erfolgreich ablaufen können damals … alle Zeit der Welt wäre unser gewesen … und jetzt muss man froh sein, dass man überhaupt noch existiert.“ Der andere hustete und holte rasselnd Luft.
„Ja, Herr Kollege, wenn wir nicht kurz vor der Katastrophe von diesem Dimensionsloch am Rand dieser eigenartigen Gasse verschluckt worden wären … und wenn wir nicht noch den Vorrat an Zigarren bei uns gehabt hätten … es wäre das Ende gewesen.“
„Am meisten graust mir vor der Schnellpafferei. Es ist ein Skandal, dass man hierorts immer noch keinen Ersatz für diesen widerlichen Stundengras-Tabak gefunden hat. In halbtoter Zeit steckt einfach nicht genügend Energie drin.“ Der graue Herr zündete sich zwei Glimmstengel gleichzeitig an und rauchte hastig, aber mit vor Ekel verzerrtem Gesicht.
„Essen sie doch ein paar Zeitschnecken, werter Bruder“, riet das zweite Geschöpf mit einem gehässigen Unterton in der Stimme. „Die halten etwas länger vor.“
„Sie sind ein wahres Scheusal“, antwortete der Erste müde. „Sie wissen genau, dass diese Mollusken kaum zu finden sind … und außerdem schmecken sie auch nicht gerade delikat!“
Beide schwiegen sich einige Sekunden lang an.
„Wo bleiben nur die Herren Kollegen?“ fragte der Zweite schließlich. „Es kann doch nicht so lange dauern, das bisschen Stundengras abzuernten. Ach, ach, wie tief sind wir nur gesunken …?“
„Im Übrigen“, murmelte der Erste wieder, „habe ich irgendwie eine innere Abneigung gegen alles, was auf dem Boden herumkriecht.
Irgendwo hinter einem Schrotthaufen erklang jetzt der Kampfschrei eines Schweinsbarbaren. Dann flog in hohem Bogen eine weitere grau gekleidete Männergestalt auf die beiden Wartenden zu, die panisch auseinandersprangen. Das ‚menschliche Geschoss’ prallte wie eine Strohpuppe auf das Dach der Limousine und verlor dabei die Zigarette, die es im Mund gehalten hatte. Noch bevor der Unglückliche ganz herunterrutschen und auf dem Boden aufschlagen konnte, löste er sich in Nichts auf.
Die beiden Anderen stöhnten. „Wieder einer weniger.“
Steifbeinig und atemlos kam nun der vierte Graue Herr auf die Stretchlimousine zugelaufen. „Nichts wie weg“, rief er den beiden Wartenden zu. „Diesen Ernteplatz können wir vorerst vergessen. Der Schweinekerl lässt niemanden ran … und ein Sparkonto eröffnen will er auch nicht.“
Alle drei sprangen in den Wagen. Ich konnte mich gerade noch hinter der Bronzestatue eines zu Recht vergessenen Generals verbergen, dann brauste die Limousine auch schon an mir vorbei und verschwand um die nächste Kurve.
Aus dem „Lexikon der erklärungsbedürftigen Wunder, Daseinsformen und Phänomene Zamoniens und Umgebung“ von Prof. Dr. Abdul Nachtigaller
Graue Herren, die: Außerirdische Spezies unbekannten Ursprungs von menschenähnlicher Gestalt, die sich von gestohlener Lebenszeit fremder Wesen ernährt.
Die Grauen Herren, im Volksmund auch ‚Zeitdiebe’ genannt, gaben sich bei ihrem ersten massenhaften Auftreten in einem nicht näher bezeichneten südeuropäischen Land als Angestellte einer angeblichen ‚ZeitSparKasse’ aus und versuchten, andere Daseinsformen zu indoktrinieren und zum ‚Zeitsparen’ zu animieren, was für die bedauernswerten Opfer mit dem Verlust jeglicher Lebensqualität einher ging. Diese Un-Wesen besitzen nämlich die Fähigkeit, Zeit jedweder Art in eine konsumierbare Form umzuwandeln (z.B. Zigarren aus Stundenblumen, Zigaretten aus Stundengras) und zwecks Erhalt ihres eigenen Un-Lebens zu verbrauchen. Können die Grauen Herren keine fremde Zeit mehr einnehmen, sterben sie und lösen sich in nichts auf.
Graue Herren sind wegen ihrer dämonischen Intelligenz und ihrer absoluten Skrupel- und Herzlosigkeit in allen Dimensionen gefürchtet. Von manchen Dimensionslochforschern wird sogar gemutmaßt, dass sie etwas mit der Entstehung oder Evolution der Zeitschnecken zu tun haben, worauf deren aschgraue Farbe und die Eigenschaft, dass sie in rohem Zustand von den Zeitdieben gegessen werden können, hindeuten.
Ich wartete einige Minuten, nur um sicher zu sein, dass das Fahrzeug nicht wieder zurückkam. Dann sprang ich auf und spurtete in Richtung von Germinators Stimme, die nun mit wohligem Grunzen ein schweinsbarbarisches Sauflied von sich gab. Auch wenn ich am liebsten sofort die Gefährten herbeigerufen hätte, musste ich doch sicher gehen, dass dies keine Falle war.
Meine Befürchtungen waren unbegründet. Wie ich von einem Haufen gusseiserner Sparschweinchen aus feststellen konnte, wälzte sich unser Freund direkt vor mir sorglos auf einem Grasflecken in der warmen Sonne und ließ es sich gut gehen. Zwischendurch griff er immer wieder in die Tiefen mehrerer Pappkartons, aus denen er merkwürdige Leckereien zutage förderte und auch sofort in seinen Rachen schob. Gerade vertilgte er eine Art Schokoladenriegel namens ‚Drei Musketiers’, und zwar immer vier oder fünf davon gleichzeitig. Zwischen den Bissen spülte er aus einer Flasche nach, auf deren Etikett ‚Fanta Mango’ stand.
Mit lautem Pfeifen machte ich auf mich aufmerksam. Germinator hob die karamellverklebte Schnauze und schaute mich überrascht an, während Linora, Zwarn, phellpe und Andray herbeieilten, um den Kameraden in die Arme zu schließen. Das war ein freudiges Wiedersehen! Der Schweinsbarbar grinste von einem Ohr zum anderen und präsentierte stolz den Gedankenübertragungs-Kristall, den er die ganze Zeit lang in der linken Hand gehalten hatte. „Der Minus hat mir gesacht, ich soll en nischt loslasse und des hab isch auch gemacht!“ verkündete er.
Das seltsame Grasgewächs, auf dem Germi geruht hatte, interessierte mich. Wie hatten es die Grauen Herren genannt? Stundengras! Glücklicherweise hatte ich noch eine faltbare Botanisiertrommel in der Beintasche meiner Khakihose, so dass ich einige Proben der Pflanze nehmen und sicher verstauen konnte. Möglicherweise hatten wir hier gerade eine völlig neue Spezies entdeckt bzw. konnten sie der Öffentlichkeit bekannt machen. Von den Zeitdieben waren solche wissenschaftliche Aktivitäten ja eher weniger zu erwarten.
Aus dem „Lexikon der erklärungsbedürftigen Wunder, Daseinsformen und Phänomene Zamoniens und Umgebung“ von Prof. Dr. Abdul Nachtigaller
Stundengras, das: Aus der Familie der Poaceae stammende krautige Pflanze von grünbläulicher Farbe, die in der Lage ist, Genff in jeglicher Form als Nährstoff aufzunehmen und zu verwerten. Ohne Stundengras wären viele Dimensionen bereits mit Genff überflutet und nicht mehr bewohnbar. Zum Glück benötigt dieses Gewächs jedoch extrem saure Böden zum Gedeihen, sonst würde alles Genff um ein Dimensionsloch herum von den dort wuchernden Pflanzen absorbiert und noch mehr Lebewesen müssten ohne Warnung in ihr Unglück hineinstürzen.
In diesem Augenblick fingen meine empfindlichen Ohren das Geräusch eines sich nähernden Motors ein. Dann quietschten Bremsen, Türen wurden aufgerissen und erregte Stimmen überschlugen sich.
„Schauen sie mal da drüben. Unglaublich!“
„Beim sogenannten Sogenannten, das muss ein Domestiziertes Dimensionsloch sein!“
„Soll das heißen, wir kommen endlich von hier weg?“
„So ist es, Herr Kollege. Nichts wie hin! Rennen wir, bevor es verschwindet!“
„Die Zigaretten! Das Stundengras! Wir dürfen unsere Vorräte nicht hier lassen!“
„Ein paar Handvoll genügen. Wenn wir erst in einer anderen Dimension sind, suchen wir uns eine bessere Alternative!“
„Stundenblumen-Zigarren. Nie mehr beschissenes, stinkendes Stundengras rauchen! Das Leben hat uns wieder!“
„Linora“, hauchte ich entsetzt. „Zum Tor, und zwar fix. Da will jemand hinein und dann ist es …“
„… zu spät“, wollte ich noch sagen, aber von Linora war bereits keine Spur mehr zu sehen.
(Linora übernimmt im fliegenden Wechsel)
Gut, dass ich direkt neben Obstip gestanden hatte. Er kam gar nicht zum Ausreden, da war ich schon weg. Und er hatte noch nicht einmal gemerkt, dass ich mir seinen Degenstock ausgeborgt hatte. Irgendwer oder –was wollte also durch unser künstliches Dimensionsloch nach Zamonien eindringen. Und wenn es erst einmal dort war und auf die Idee kam, ein neues Ziel zu wählen, würden wir bis in alle Ewigkeiten hier festsitzen. Dazu durfte ich es nicht kommen lassen.
Die kurze Strecke war für mich natürlich nicht mehr als ein Kratzensprung. In weniger als einer Sekunde stand ich bereits am Tor und postierte mich breitbeinig vor dem Durchgang. Auf der anderen Seite sah ich die drei Tratschwellen verzweifelt an den Kühlrohren und den Kontrollstäben hantieren. Dampf strömte ihnen aus allen Poren und sie hatten bereits einen beträchtlichen Teil ihres Körpervolumens eingebüßt. Dennoch machten sie keine Anstalten, aufzugeben. Aber gerade als ich dem muffig in der Ecke stehenden Adler ein Zeichen geben wollte, mir zur Hilfe zu kommen, hörte ich, wie sich von hinten rasche Schritte näherten. Drei grau gekleidete Männer, mit Taschen und Beuteln bepackt, kamen drohend auf mich zu.
Ich starrte sie grimmig an, während ich gleichzeitig Obstips Stock erhob.
„IHR KÖNNT NICHT VORBEI !!!“
brüllte ich mit meiner lautesten Stimme.
Die Gestalten zögerten. Offensichtlich wussten sie nicht, was sie von mir halten sollten. Dann fächerten sie sich auf, während sie einander verzweifelte Blicke zuwarfen und sich zum Losrennen bereit machten.
Zwei würde ich aufhalten können. Aber einer würde es wahrscheinlich schaffen.
Aus der Ferne näherten sich Obstip und die Anderen im Galopp. Gleich würden sie hier sein. Wenn die Invasoren durch das Tor kommen wollten, dann durften sie nicht mehr länger warten …
Alle drei Angreifer sprinteten wie auf Kommando gleichzeitig los. Meine Güte, waren die Kerle schnell. Aber ich war schneller. Dem mittleren rammte ich meinen Kopf in die Magengrube, während ich dem rechten Obstips Stock zwischen die Beine schleuderte, so dass er hinstürzte und sich dabei mehrfach überschlug. Der dritte jedoch setzte mit einem Riesensprung über mich hinweg und stürzte durch den Ausgang.
Dort lief er genau in Eaglechens Faust.
(Puha, was für ein Masel. Ich glaube, euer Expeditionsleiter übernimmt dann besser mal wieder.)
Germinator und ich waren natürlich die Langsamsten. So kamen wir gerade noch zurecht, um zu sehen, wie unsere Hutzen die drei gestürzten und reglos daliegenden Männer in den Schwitzkasten nahmen. Aber nicht lange, denn alle ließen mit schrillen Schreien sofort wieder von ihren Opfern ab.
„Wuiwuiwui, die sind ja eiskalt!“, kreischte phellpe und rieb sich die erstarrten Hände. Zwarn und Eaglechen fluchten nur halblaut vor sich hin und litten stillschweigend. Bei diesem Anblick hatte Obstip einen Geistesblitz.
„Fesseln wir diese Monster doch an die Kühlrohre“, schlug er vor. „Das entlastet die Tratschwellen und gibt den Herrschaften hier Gelegenheit, endlich einmal eine sinnvolle und nützliche Tätigkeit auszuüben.
Mit Nachtigallers Spezialseil aus der Kammer der vergessenen Patente zurrten wir die benommen daliegenden Grauen Herren an den Kupferröhren des Torrahmens fest. Dies ließ den Temperaturanzeiger, der bereits knapp an der roten Gefahrenmarkierung gestanden hatte, auf einen etwas beruhigenderen unteren Gelbwert fallen. Die drei Tratschwellen Aha, Behbe und Zehze waren nur noch eine Dünung ihrer selbst. Völlig dehydriert brachen sie in der Mitte des Raumes zusammen, so dass wir Erste Hilfe leisten und sie mit Eisstückchen wieder hochpäppeln mussten.
Ich hatte schon geglaubt, nun seien all unsere Probleme gelöst und wir hätten mit dem Domestizierten Dimensionsloch endlich eine bequeme Möglichkeit an der Hand, unsere Kameraden im Labyrinth zu uns zu holen und dann gemeinsam entweder in die Nachtschule zurückzukehren, oder ein anderes lohnenswertes Ziel anzusteuern, da machte uns das Schicksal erneut einen Strich durch die Rechnung: Alle drei Hutzen verkündeten unisono, sie könnten ihre Arme nicht mehr bewegen.
„Ich friere ein“, hauchte phellpe. „Obstip, Andray, was geht hier vor?“
Einer der grauen Herren hob den Kopf und verzog den Mund zu einem messerdünnen Lächeln. „Sie hätten uns nicht so fest an sich pressen sollen, meine Gnädigste“, meinte er geringschätzig. „In spätestens zehn Minuten sind Sie nur noch Gefrierfleisch … falls ihre Freunde nicht kooperieren. Denn nur wir haben die Macht, Ihr Leben zu retten. Also, wenn die Herrschaften so freundlich wären, uns wieder loszubinden …“
BOOOOONG!
Was war das nun wieder? Mir kräuselten sich die Nackenwellen. Irgend etwas braute sich über uns zusammen. Etwas, das mit … Wasser … zu tun hatte.
BOOOOONG! BOOOONG!
BOOONG! BOOONG! BOOONG!
Ein Finsterberggewitter. Erbarmen!
Die drei Grauen Herren zuckten zusammen. Auch sie merkten, dass da etwas nicht stimmte, konnten aber noch nicht abschätzen, was es war. Nun, hier, so tief unten an der Wurzel der Finsterberge, waren wir wohl in Sicherheit. Aber unsere Kameraden oben im Labyrinth - was würde mit denen geschehen, wenn unübersehbare Wassermassen die Gänge und Stollen überfluteten?
Meine Gedanken überschlugen sich und hinter Obstips Stirn ging wohl Ähnliches vor, denn er schaute ruckartig auf das Messinstrument am Dimensionslochrahmen. „Einen einzigen Sprung schaffen wir mit dem Ding noch“, murmelte er.
GEDANKENBLITZ! Nein, ZWEIFACHER GEDANKENBLITZ, denn Obstip und ich hatten auf einmal dieselbe Eingebung.
BOOONNNGGG! BOOONNNGGG! Die Ereignisse begannen sich zu überschlagen.
„Wir schneiden Sie los, Sie helfen den Hutzen!“, schrie ich den Invasoren zu. „Herr von Kolon, ihren Degen, schnell!“
Obstip warf mir die Klinge zu, während er zu den Kontrollstäben eilte. Ich säbelte inzwischen die Fesseln durch und scheuchte unsere ungebetenen Gäste zu den Erfrierenden, die, blau vor Todeskälte, bereits kein Gelenk mehr krümmen konnten.
BONGBONGBONGBONGBONGBONGBONG !!!!
Da draußen über den Berggipfeln brach jetzt wohl die Hölle los. Es konnte nur noch wenige Minuten dauern, bevor die ersten Regenflutwellen durch die Madenstollen rauschten.
Die Zeitdiebe knieten inzwischen neben den Hutzen und hielten diese an den Gliedmaßen gepackt, während sie mit ihren bleichen Fingern die Vereisung wieder aus ihnen heraussaugten. Ich hoffte nur, dass sie dabei nicht auf die Idee kamen, sich ihre gierigen Mägen mit der Lebenszeit unserer Freunde vollzuschlagen. Aber sie waren wohl viel zu beschäftigt und verwirrt, um an so etwas zu denken.
Obstip griff nach den Kupferruten. „Zamonien, Finsterberge, Mitte des Labyrinths“, knirschte er fast unhörbar. Das Domestizierte Dimensionsloch gab einen schaurigen Ächzer von sich. Wieder wechselte das Bild und wir konnten den durch das Tor in den uns so vertrauten Raum hineinblicken.
Du meine Güte, was war denn hier passiert?
(Das erzählt uns am besten Kulla und gibt gleichzeitig einen Überblick, was im Lager inzwischen vorgefallen ist.)
Mit Verlaub, der Herr von Kolon ist wirklich ein Witzbold. Köstlich. In 24 Stunden sollen wir uns zurück zur Nachtschule durchschlagen, hat er gesagt, wenn die Rettungstruppe dann nicht mit Germinator wieder da ist. Wie das denn? Ohne Zeitmesser? Bin ich eine Stoppuhr? Sollen wir jetzt anfangen, von 86400 an rückwärts bis null zu zählen, wie weiland Käpt’n Blaubär im Ewigen Tornado? Ich bin doch nicht bekloppt. Verlasse ich mich eben auf meine innere Uhr, das ist genauso sicher. Wenn der Minus nur einmal aufhören würde, um die Amanda herumzuspringen. Das macht sogar eine gestandene Hutze wie mich ganz verrückt. MINUS! MUSS DAS DENN SEIN? Ach, es hat ja doch keinen Zweck.
Das mit Amanda macht mich ja völlig fertig. Abschüssige Tiefendepression! Gräßlich! Ob das wohl ansteckend ist? Nun, Amanda ist zwar äußerst hart im Nehmen (einmal in der Dunkelkammer haben wir glatte vier Stunden lang geglaubt, sie sei erstickt - Andray hatte schon mit Elektroschocks zur Wiederbelebung begonnen - da ist sie aufgestanden als ob nichts gewesen wäre und einfach fortgegangen), aber auch die Kraft einer Berghutze hat irgendwann ein Ende. Wir haben schon alles versucht, wirklich ALLES. Zeit genug hatten wir ja. Wir haben sie durch die Gegend gekugelt, Minus hat sie geschlagene zwei Stunden lang mit den wildesten Zwergpiratenflüchen überschüttet, die er nur kannte (um sie zu reizen und zu einer Reaktion zu bewegen) und wir haben sogar noch ein „Hutzenspaß“-Paket geöffnet – mit dem Resultat, dass wir uns bis zum Erbrechen Berghutzen-Friseurwitze wie diesen hier anhören durften:
Berghutze: Waren Sie das, der mir beim letztenmal die Haare geschnitten hat?
Friseurgeselle: Kann nicht sein. Ich arbeite erst seit fünf Jahren hier.
Schließlich, nach dem 41. Witz wurde es Minus zu dumm und er hackte den Quasselkasten mit seinem Piratensäbel kurz und klein. Finito! Aber genutzt hatte es trotzdem nichts.
Aus lauter Verzweiflung hab ich’s dann endlich mit meiner Gewürzkiste versucht. Und als ich der Amanda die Zimtbüchse unter die Nase halte, geschieht das Unglaubliche…
SIE REISST DIE AUGEN AUF !!! SIE ZEIGT AUF MINUS, DER IN DIE LUFT HOPST WIE EINE SELSILLISCHE SPRINGSCHRECKE UND GRUNZT:
„ICH SPÜRE
EINE GEWALTIGE
ERSCHÜTTERUNG!
DER MACHT
ALLES NUR
NOCH SCHLIMMER!“
Minus guckte betreten und hörte endlich mit der plöden Hupferei auf. Mir dagegen fiel ein Hutzengebirge vom Herzen, aber gleichzeitig bekam ich auch ein ganz, ganz mulmiges Gefühl in der Magengegend. Amanda hatte Recht. Der Geschmack der Luft wechselte ins Quecksilbrige. Gleichzeitig sank der Luftdruck und die Ozonwerte verschlechterten sich. Das deutete auf eine bevorstehende Wetterveränderung hin. Etwas braute sich zusammen.
Amanda sprang auf die Füße und streckte ihre Gliedmaßen. „Was für ein Krampf“, motzte sie kopfschüttelnd. „Ich weiß gar nicht, was da über mich gekommen ist. Krank, sagst du? Abschüssiege Tiefendepression? Was ist denn das wieder für ein Scheiß? Nein, ich, äh, hab mich nur ein bisschen ausgeruht. Ich werd’ hier unten doch nicht krank, verf***t-nochmal-und-halleluja, ich doch nicht. Aber sag mal, Minus …“, die Stimme der Hutze bekam einen drohenden Unterton, „habe ich da nicht vorhin mit halbem Ohr mitbekommen, dass du mich zwei Stunden lang beleidigt hast? Na warte, du Laus, wenn ich dich erwische! Bleib stehen, damit ich ein Lesezeichen aus Dir machen kann!“
Ich ließ sie gewähren. Eher hätte man Erfolg, einen rasenden Bollogg zu stoppen, als eine wütende Amanda. Und dann, mitten in der Verwirrung, dem Herumgerenne und den vergeblichen Versuchen der Ärgerhutze, auf Minus’ flitzende Gestalt zu latschen … unangemeldeter Besuch.
Ich befürchtete schon die alleinige Rückkehr von IndianaSepp, aber es war kein Stollentroll. Es war eine Finsterbergmade. Ein ziemlich großes und altes Exemplar sogar.
Die Made scherte sich nicht an unserer Anwesenheit. Sie kickte die herumliegende Ausrüstung zur Seite und rannte mit lauten „Ääh“ und „Ööh“-Rufen im Kreis herum.
Eine zweite Eisenmade erschien, dann eine dritte. Wir beeilten uns, das Gepäck und das Kochgeschirr in Sicherheit zu bringen, bevor alles platt getrampelt wurde. Amanda, gerade erst vor wenigen Minuten aus ihrer Starre gerissen, begann bereits wieder am ganzen Körper zu zittern. Alles um uns herum lag nun in Stille und Halbdunkel, nur das grünliche Licht einiger weniger Quallenlampen übergoss den Platz mit geisterhaftem Schimmer. Aus den Gängen drang das Geräusch weiterer sich nähernder Maden, die sich durch das Labyrinth ihren Weg bahnten, aber sobald sie erst das Zentrum erreichten, bewegten sie sich lautlos wie Schatten.
Große, wilde Männchen waren da mit starken Metallzähnen und Resten von Schlacke und Erz in den Gelenken und junge Burschen, die sehr stolz auf ihre Fähigkeit zu sein schienen, Feuer zu speien. Ältliche Wühler stießen hinzu, mit schmalen, hohen, dick gepanzerten Backen; Kampfmaden im Schmuck ihrer zahllosen Schrammen; zuletzt wechselte ein gewaltiges Weibchen in die Runde mit zerbeultem Schredder und dem furchtbaren Mal des Rostes auf blind gewordener Flanke.
Aus dem „Lexikon der erklärungsbedürftigen Wunder, Daseinsformen und Phänomene Zamoniens und Umgebung“ von Prof. Dr. Abdul Nachtigaller
Madenbalz, die: Auch wenn die Finsterbergmade zu den Rarlebewesen gehört, heißt dies noch lange nicht, dass sich diese Spezies nicht vermehren würde. Im Gegenteil, die (äußerst selten vorkommende) Madenbalz ist, neben dem Paarungsspiel der Seeschlangen im Fröstelgrund, eine der ästhetisch ansprechendsten Formen der Partnerwerbung in ganz Zamonien. Nur wenigen Sterblichen war es je vergönnt, dieses atemberaubende Schauspiel zu beobachten - und noch wenigeren gelang es, lebend zu entkommen, um davon zu berichten.
Dies liegt nicht etwa an der Gefährlichkeit des Vorganges selbst, sondern vielmehr an dessen äußeren Umständen: Die Finsterbergmaden paaren sich nämlich nur, wenn sie spüren, dass ein Finsterberggewitter naht. Bereits mehrere Stunden vor einem solchen Naturereignis geraten geschlechtsreife Eisenmaden in höchste Erregung. Heisere "Ääh" und "Ööh"- Laute ausstoßend streben sie, ihrem Instinkt folgend, einem bisher noch unbekannten Ort inmitten der Tiefen des Gebirges zu: dem Madentanzplatz. Jüngere Maden (weniger als 300 Jahre alt) werden zwar von derselben Unruhe ergriffen, verlassen sich in ihrer Gefühlsverwirrung jedoch nicht mehr auf die Instinkte, sondern irren ziellos in den Stollen umher, bis die Wasserflut sie wieder abgekühlt hat.
Die paarungsbereiten Eisenmaden jedoch beginnen bei ihrem Aufeinandertreffen mit einem höchst merkwürdigen Ritual: Im Rhythmus "Einmal rechts und zweimal links" führen sie einen Reihentanz auf, in dessen Verlauf die Weibchen silberglänzende Eier ablegen, die von den Männchen aufgenommen und mit den Schwänzen hin- und hergeworfen werden, wobei die Befruchtung erfolgt. Nach dem Tanz (der auf Grund seiner Intensität bisweilen auch Finsterbergbeben auslösen kann) zerstreuen sich die Maden wieder und überlassen es der einströmenden Flutwelle, die befruchteten Eier in die hintersten Winkel der Stollen zu tragen, wo sich die Jungtiere entwickeln und schließlich, nach ca. 164 Jahren, ausschlüpfen können.
Unter diesen Umständen ist wohl klar, warum es so wenige Finsterbergmadenforscher gibt.
Nun, das war’s dann wohl gewesen. Egal was wir taten, vor dieser Flut würde es kein Entkommen geben, niemals würden wir es vor Beginn der Katastrophe zurück in die Nachtschule schaffen, selbst wenn wir noch so schnell rannten. Noch nicht einmal zu Graubarts Schiff, wenn mir die Überlebenschancen dort auch nur um ein Winziges größer erschienen. Alles was uns blieb war, auf ein Wunder zu hoffen. In der Zwischenzeit konnten wir ja das Kulturprogramm genießen, selbst wenn es das Letzte war, was unsere Augen sehen würden. Immerhin würden wir in Schönheit sterben: Sic transit gloria mundi.
Inzwischen hatten sich mehrere Dutzend Eisenmaden im Zentrum des Labyrinths versammelt und stellten sich wohlgeordnet in zwei konzentrischen Kreisen, einander gegenüber, auf. Nur das Weibchen blieb in der Mitte stehen. Es drehte sich langsam um sich selbst, wobei es den Madenrythmus stampfte: zweimal rechts, einmal links. Die Männchen nahmen den Schritt auf und tanzten ebenfalls los, der äußere Kreis rechtsherum, der innere entgegengesetzt. Wände, Boden und Decke begannen unter der Wucht ihrer Sprünge zu beben, was, ich zweifelte nicht daran, bis hinauf in die Nachtschule zu spüren sein musste. Der Anblick war einfach grandios, auch wenn das Getöse alles überstieg, was ich je gehört hatte. Selbst auf die Ohren gepresste Fäuste boten kaum noch Schutz.
Das Madenweibchen hüpfte nun in die Höhe und drehte einen eindrucksvollen Salto. Dabei lösten sich von seinem Hinterleib etliche silbrige Kugeln, die langsam, wie Seifenblasen, nach außen drifteten. Dort wurden sie von den Männchen in Empfang genommen. Mit Hilfe ihrer platten Feilenschwänze fingen diese die Silberbälle auf, ließen sie zwischen den Beinen unter ihrem Körper entlang rutschen und pusteten sie mit ihrem heißen Atem wieder in die Höhe. Inzwischen produzierte das Eisenmädchen weitere Eier und füllte die Luft mit schimmerndem Flitter.
PLING!
Einer der Bälle folgte plötzlich der Schwerkraft und prallte hart auf den Boden auf. Ein Madenfuß erwischte ihn seitlich, rollte ihn in die Finsternis eines Tunnels. Die zweite Kugel hatte nicht so viel Glück: ein Tritt und sie war platt. Ähnlich erging es der nächsten, aber die vierte schaffte es wieder, davonzurollen. So ging es weiter und weiter. Stundenlang drehten sich die Finsterbergmaden in bizarrem Spiel umeinander. Hunderte, vielleicht tausende von Eiern wurden gelegt, befruchtet und zerstört in dieser relativ kurzen Zeit. Aber etlichen gelang es doch, sicheren Boden zu erreichen, in dunkle Spalten zu kullern, in vergessenen Ecken zu verschwinden. Das hypnotische Stampfen und Springen lullte auch uns ein, selbst der infernalische Lärm wurde ein Teil unserer selbst, so dass wir ihn irgendwann gar nicht mehr wahrnahmen.
Stunden später, als wir langsam wieder zu uns kamen, standen wir dann allein am Rand des weiten Rundes und nur das Klacken sich entfernender Eisenmadenschritte hallte noch als ruheloses Echo durch die Gänge. Überall klebten die Reste zermatschter Eier; Schotter aus diversen Grabungslöchern, Käsekuchenbrocken und Fetzen von buntem Einwickelpapier (die kläglichen Reste des Hutzenspaß-Paketes) lagen über den ganzen Boden verstreut. Und in diesem Augenblick …
BOOOOONG!
Okay. Wir hatten den Genuss gehabt, jetzt wurde uns die Rechnung präsentiert.
BOOOOONG! BOOOONG!
BOOONG! BOOONG! BOOONG!
Ein paar kurze Minuten vielleicht noch. Jetzt erlaubte es sich Minus doch tatsächlich, auf meine Schulter zu klettern und Amanda und mich zu fragen, ob wir angesichts des sicheren Exitus nicht noch „ein letztesmal ein bisschen Spaß mit ihm haben“ wollten. Leider ist es sehr schwierig, einem Zwergpiraten eine zu scheuern und sogar mein getreues Paddel war mir in dieser Situation keine große Hilfe. Nun, es war eh egal. In wenigen Atemzügen würden wir alle tot sein.
BOOONNNGGG! BOOONNNGGG!
Leises Rauschen in der Ferne, das langsam, aber stetig anschwoll. Wir klammerten uns verzweifelt aneinander und hauchten ein letztes Lebewohl.
BONGBONGBONGBONGBONGBONGBONG !!!!
Mit einem unbeschreiblichen Geräusch öffnete sich vor uns ein Riss im Raum-Zeit-Gefüge. Ein gewaltiges, bläulich leuchtendes Dreieck erschien, dessen Spitze in der Höhlendecke verschwand. Auf der anderen Seite sah ich …
„Zwarn, phellpe, Eaglechen, Linora, Obstip, Andray! Hurra!“ Aber wer waren diese drei grau gekleideten, unangenehm aussehenden Menschen dort? Und was waren das für fremde Tratschwellen, die sich da tummelten?
Obstip winkte aufgeregt und machte uns Zeichen, durch das Tor zu springen. Gleichzeitig versuchte er, die grauen Männer mit seinem Spazierstock vom Durchgang wegzudrängen, während Andray wild gestikulierend auf sie eintratschte.
„Noch nicht durch den Ausgang, meine Herren!“, hörte ich sehr gedämpft seine Stimme. „Wenn Sie jetzt da rausrennen, wird das ihr sicherer Tod sein!“
Die Fremden nickten einander kurz zu. Auf ihren Gesichtern erschien ein wildes Grinsen. Während wir in aller Eile erst unsere Ausrüstung und dann uns selbst durch das Transport-Artefakt hinüberwarfen, schrie einer von ihnen: „Das ist doch nur ein billiger Trick!. Aber darauf fallen wir nicht herein, nein, für wen halten Sie uns denn? Auf zu neuen Welten, meine Herren!“ Dann stießen sie mit blitzschnellen Bewegungen Obstip und den Herrn Expeditionsleiter gewaltsam zu Boden und sprangen mit furchtbarem Triumphgeheul in das sich sogleich verfinsternde Nachtglas hinein.
Das letzte, was ich von ihnen sah, bevor sich der Übergang endgültig schloss, waren ihre entsetzensverzerrten Gesichter und eine riesige Wasserwoge, die sich anschickte, mit Urgewalt über den Unglücklichen zusammenzustürzen.
(Ende von Kullas Bericht. Die Tratschwelle macht dann wieder weiter.)
Danke Kulla, das war sehr anschaulich und spannend erzählt. Wir scheinen da wirklich was verpasst zu haben.
Nur Bruchteile von Sekunden bewahrten uns vor der Überflutung. Obstip, von einem mächtigen Hieb gegen seinen Brustkorb mindestens zwei Meter weit davongeschleudert, musste die Kupferruten loslassen und das Nachtglas wurde rasch wieder zu einer festen Wand, die sich nun, nach Durchgang des letzten der Grauen Herren, mit fortschreitender Erhitzung immer mehr zu verwerfen begann. Schon zeigten sich erste feine Risse in der Fläche, dann knirschte es infernalisch, und mit einem Lärm wie zehntausend zerschmetternde Rhummflaschen starb das wahrscheinlich letzte noch existierende Domestizierte Dimensionsloch Zamoniens. Mist.
Wir erhoben uns vorsichtig, sahen nach, ob wir nicht durch fallende Nachtglassplitter verletzt worden waren und wischten uns die letzten matschigen Eiskristalle von den Körpern. Überall begann es zu tropfen und zu schmelzen, da die hocherhitzten Kühlrohre nun ihre Temperatur frei in die Luft ableiteten konnten. Bald umfing uns angenehme Wärme, die unseren ausgelaugten Körpern willkommene Erholung spendete. Inzwischen rumpelte das Gewitter über den Berggipfeln lustig weiter und badewannengroße Wassertropfen ließen die Felswände noch beinahe eine Stunde lang erdröhnen wie eine gigantische erzene Glocke.
Ich hatte keine Ahnung, wann die Reste der Gewitterflut unseren Aufenthaltsort erreichen würden, hoffte aber, dass sich das Wasser auf seinem Weg durch die Tunnels und Kavernen so verteilen müsste, dass uns hier, wenn überhaupt, nur noch ein Rinnsal erreichen würde. Die Hutzen untersuchten das Gefälle des Bodens und stimmten mir prinzipiell zu. Okay, es konnte natürlich sein, dass eine vorwitzig platzierte senkrechte Madenröhre uns in wenigen Sekunden fluten würde, aber sehr wahrscheinlich war dies nicht.
Alles blieb trocken. Das Glück des Tüchtigen, denke ich.
Aha, Behbe und Zehze bereiteten sich inzwischen ausgelassen auf ihren Abschied vor. Während sie letzte Wasserreserven ‚auftankten’ schwappten sie in der Gegend herum und sangen dabei närrische Liedchen.
„Der Brünnenfeld, der Brünnenfeld,
Das ist der größte Depp der Welt,
Fiderallala, fiderallala,
Fiderallalalala“,
krähte Behbe mit sich überschlagender Fistelstimme. Und Zehze ergänzte:
„Heut steigt er ein ins Taucherboot
Und morgen ist er mausetot,
Fiderallala, fiderallala,
Fiderallalalala!“
Obstip kam, ganz entgegen seinem Naturell, höchst hektisch herbeigestürzt. „Herr Behbe, Herr Zehze, was haben Sie da gerade eben gesungen?“, keuchte er.
„Der Brünnenfeld, der Brünnenfeld …“, begannen die Welleriche unsicher. „Das ist nur ein harmloses Liedchen, das wir uns mal ausgedacht haben. Schon ganz schön lange her. Damals, kurz bevor wir geschnappt wurden und in Gefangenschaft kamen war das.“
„Ja. Erinnerst Du Dich? Das Unterwasserschiff? Pasta Aldente und Pizza Quadrostagioni, die Venedigermännlein? Und der brummige Glǿd Hammerschlag, der die Bergzwerge angeführt hat? Hach, was waren das noch Zeiten!“
„Vorbei, vorbei…“
Der Nattifftoffe wurde immer aufgeregter. „Soll das heißen, dass Sie an der Finsterbergexpedition von Sigobertus Brünnenfeld vor über 200 Jahren teilgenommen haben?“ fragte er atemlos.
„Yo, Mann.“
„Klaro, Mann. War ’ne tolle Geschichte damals. Schade nur, dass es so in die Hose gegangen ist.“
„Wir waren als Taucher angeheuert. Mit eigenem Maxikübel und täglichem Frischwasser“, meldete sich nun auch Aha, der neben seine Kumpane getreten war. „Fragen Sie nicht, was wir alles erlebt haben, ich will nicht mehr daran denken. Jedenfalls sind wir irgendwann von dem Riesen aus der Brühe gefiltert und ins Kühlsystem gesperrt worden. Zwei mal hundert grauenhafte Jahre lang.“
„Aber jetzt sind wir frei, Juchhei!“
„Endlich zurück in zamonische Tiefseegewässer!“
„Endlich zurück zu meinem Schwippschwager mütterlicherseits!“
„Schnauze, Zehze!!!“
Obstip stieß ruckartig den angehaltenen Atem aus. „Das bedeutet also, dass die Reste von Brünnenfelds Expedition noch hier in der Nähe zu finden sein müssen“ stellte er fest.
„Aber sicher, oh Großmufti“, antwortete Behbe. „Wenn keiner den Schrotthaufen beseitigt hat, liegt der Kram sicher noch irgendwo hier rum. Aber was willst du mit all dem Zeugs? Das fällt doch auseinander, wenn du es nur scharf anschaust.“
„Das wird sich noch zeigen“, meinte der Toffe. „Liegen die Sachen vielleicht gerade in der Nähe eures Weges nach draußen? Könnt ihr uns vielleicht einen letzten Gefallen erweisen und uns dorthin bringen? Ich möchte die Herrschaften in diesem Zusammenhang mit Verlaub auch auf das ‚Gesetz über die Freiheit der Wissenschaft (GÜDFDW Band VIIIa §§ 58-91 und 131 ff.)’ aufmerksam machen, laut dem Privatpersonen während einer Expedition in jeglicher Weise zu unterstützen und am Fortkommen nicht zu hindern sind. Aber habe ich das nicht bereits an anderer Stelle erwähnt?“
Die drei Wellen steckten die Köpfe zusammen und tuschelten. Schließlich, nach bangen Minuten, trat Aha vor, der sich seit der Befreiung immer mehr zum Sprecher der drei Wellenjungs gemausert hatte.
„Also gut“, deklamierte er würdevoll wobei er den nattifftoffischen Tonfall perfekt imitierte. „So möge es geschehen. Eigentlich wollten wir ja so schnell wie möglich in die Freiheit der Meere davoneilen, aber in Anbetracht Eurer Verdienste um die Rettung unserer Wellengemeinschaft werden wir das noch ein wenig verschieben. Wir gestehen euch also eine kurze Ruhepause zu, dann geleiten wir euch zu dem ollen Gerümpel und dann ….“, er jubelte plötzlich in voller Lautstärke los, „ … ENDLICH PARTY !!!“
So schlugen wir unser Lager in den Trümmern auf, und während Kulla den Kessel anheizte und einen leckeren Eintopf zauberte, versammelten wir Übrigen uns um das Lagerfeuer zum Singen, Tratschen und Erzählen. Stoff für spannende neue Geschichten gab es ja genug. Und natürlich vergaßen Obstip und ich auch nicht, in einem gekühlten Druckbehälter einen der kostbaren Nachtglas-Splitter zu verwahren, mit dem wir nach unserer Rückkehr mächtigen Eindruck bei den daheim gebliebenen Mitschülern schinden wollten.