Expedition in die Tiefen der Nachtschule

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Andray DuFranck
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Expedition in die Tiefen der Nachtschule

Beitrag von Andray DuFranck »

EXPEDITIONSTAGEBUCH
„Reise in die Tiefen der Nachtschule bis zur Mitte Zamoniens“

Prolog

Die Finsterberge. Kalt und abweisend in ihrer rostigen Erhabenheit. Heimat der Finsterberggewitter, der Eisenmaden, der Schweine-Igel und der… ähem… Stollentrolle. Ausgerechnet diesen gottverlassenen Ort hat der berühmte Eydeet Professor Doktor Abdul Nachtigaller als Stammsitz einer elitären Bildungseinrichtung auserkoren: der in ganz Zamonien bekannten, jedoch nicht immer unumstrittenen Nachtschule.

Wie bitte, Sie haben noch nie etwas davon gehört? Das kann ich gar nicht glauben. Gibt’s denn so was noch auf der Welt? Dann muss ich einige kurze Erklärungen vorausschicken. Eingeweihte können den nächsten Abschnitt also getrost überspringen (müssen aber nicht).

Professor Doktor Nachtigaller, Universalgenie mit sieben Gehirnen, errichtete vor vielen Jahren (genaue Zahlen sind nicht bekannt) diese Schule, um einzigartige Zamonier nach seinen eigenen Prinzipien der Pädagogik und der Empirie unterweisen zu können. Trat er anfangs noch selbst vor die winzige Klasse, so konnte er es sich später erlauben, seine sich in dieser Atmosphäre sprunghaft vermehrenden „Wissensbazillen“ für sich arbeiten zu lassen. Während die immer weiter anwachsende Zahl der Schüler sich gegenseitig „unterrichtete“ und damit ein unglaubliches geistiges Potenzial erreichte, zog sich Nachtigaller immer mehr aus dem Lehrbetrieb zurück, um sich an einem geheimen Ort seinen privaten Studien zu widmen. Zwar gibt es Gerüchte, dass der „Prof“ manchmal in dunkelsten Neumondnächten durch die Korridore seiner Schule schleiche, um nach dem Rechten zu sehen, aber bestätigt wurden diese bisher nie. Die Nachtschule funktioniert jetzt relativ selbstständig und autark. Neue Schüler kommen, alte gehen, es gibt die Möglichkeit eines Fernstudiums für Nicht-Zamonier, man lebt und lernt gemeinsam in den dunklen Wohnstollen, ernährt sich hauptsächlich von Ölsardinen und betrachtet die wenigen engen Räumlichkeiten in der Spitze des höchsten Finsterberggipfels als zweite Heimat: den Korridor, die Ruhmeshalle, die Dunkelkammer, den Lehrsaal, die Raucherecke, den Raum für die Preise und die Bibliothek.

Hier beginnt unsere Geschichte. Die Geschichte einer Gruppe unerschrockener Nachtschüler, die sich aufmachten, den „Schulkeller“ zu erforschen und dort hinzugehen, wohin noch kein Zamonier seinen Fuß setzte.

Ja, das sind wir. Die Tatsache, dass Sie, geneigter Leser, schöne Leserin, dies hier lesen können, beweist, dass wir (relativ) wohlbehalten und vollzählig wieder zurückkamen. Das Tagebuch, welches wir gemeinsam während unseres Marsches führten, stellt die Grundlage für den nun folgenden expliziten Bericht dar. Für alle Nicht-Zamonier und Erstleser muss ich aber zunächst einmal vorausschicken, wer „wir“ sind und warum wir dieses Wagnis unternahmen, auch wenn ich dem Neuling zumindest die vorherige Lektüre des Buches „Die 13 ½ Leben des Käpt’n Blaubär“ empfehlen möchte. Auch ein Blick ins Internet, nämlich in die elektronische Version des „Lexikons der erklärungsbedürftigen Wunder, Daseinsformen und Phänomene Zamoniens und Umgebung“ (http://www.woolly.de/cgi-bin/wiki.pl?Startseite) kann im Zweifelsfalle äußerst hilfreich sein.

Mein Name ist Andray DuFranck. Ich bin eine Tratschwelle, ein ziemlich wässriges Geschöpf. Reden kann ich wie ein Buch, dafür bin ich auf dem Trocknen nicht besonders gut zu Fuß. In der Nachtschule geht es ja gerade noch, da gibt es Wasserkübel und Rinnen im Boden, die ein Vorankommen für unsereins erleichtern. Ich sehe mich selbst als „Wissenschaftlichen Expeditionsleiter“, hauptsächlich deshalb, weil die Idee zu der Expedition „auf meinem Mist gewachsen“ ist. Nun ja, eigentlich spielte auch der Zufall eine gewisse Rolle. „Zufällig“ stolperte nämlich unser SabberJupp (das ist ein Stollentroll, aber davon später) über meinen Transportkübel, so dass ich mich, da sich der Unfall in unserer Nachtschulbibliothek ereignete, über den gesamten Boden und bis unter ein Regal ergoss. Und dort fand ich dann das vergessene Kästchen aus nafklathischem Stahleichenholz, in welchem sich die Pläne, die Nachricht und der Schlüssel befanden… und mehr darf ich dazu leider nicht sagen. Die Folge war jedenfalls, dass ich die Anregung erhielt, eine Expeditionsmannschaft zusammenzustellen und vor dem Abmarsch den Schlüssel in Nachtigallers „Dunkelkammer“ zu benutzen, einem Schulraum, der normalerweise so finster ist, dass selbst das tiefste irdische Nachtdunkel dagegen wie hellster Mittagsglast wirkt. Aber auch von diesem Erlebnis kann ich erst an anderer Stelle berichten.

Die würdige Gestalt dort, die aussieht wie ein aufrecht gehender Elch, ist Herr Obstip von Kolon, ein Nattifftoffe. Diese Spezies zeichnet sich durch hohe Intelligenz, Zähigkeit und ein geradezu unglaubliches Gehör, jedoch auch durch einen gewissen Hang zu umständlicher, manche sagen langweiliger, Rede aus. Nicht umsonst stellt sie praktisch den gesamten Beamtenapparat der Megastadt Atlantis. Schwachpunkte der „Toffen“ (Vorsicht, diese Bezeichnung hören sie gar nicht gern) sind ihre empfindlichen Ohren. Obstip ist darüber hinaus ein weit gereister Abenteurer, der, wenn man seinen Erzählungen als Lügengladiator Glauben schenken will, bereits die gefährlichsten und aufregendsten Situationen mit Bravour gemeistert hat. Solche Leute kann man brauchen.

Zum Erkennen von Minus, dem Großen Schlachtschiffbezwinger (rechts neben Herrn von Kolons Fuß) benötigen Sie wahrscheinlich eine Lupe. Es handelt sich nämlich um einen Zwergpiraten. Typisch für diese Gesellen sind ihre beiden Holzbeinchen, Häkchen anstatt der Hände und ein gewisser Hang zur Prahlerei. Minus ist darüber hinaus mit einer beinahe legendären Anziehungskraft auf alle Arten von „holder Weiblichkeit“ und massenweise Mojo gesegnet. Leider resultiert daraus auch eine unbezähmbare Eifersucht und der Drang, jedem Rockzipfel hinterher zu rennen. Aber den Zwergpiraten deswegen zu unterschätzen, kann ein tödlicher Fehler sein. Beim Klabautermann.

Der Germinator. Dieses Wort sagt alles. Ein Schweinsbarbar wie ein… hm… Schweinsbarbar eben. Laut, ungehobelt, stur, beschränkt und ewig hungrig. Das alles gilt bei Schweinsbarbarens als Kompliment. Ach ja, und die Darmwinde. Kein Kommentar. Aber auch unerschrocken, stark wie Wotan und treu wie Gold. Ohne ihn hätten wir es nicht geschafft, denn manchmal kann Dickschädeligkeit auch von Nutzen sein. Aber ich will nicht vorgreifen. Ich kann Ihnen nur eines raten: Sollten Sie bei einem Besuch in der Nachtschule hinter sich den Schrei „HAAAPPPPS!“ und danach einen donnernden Knall hören, bringen Sie sich besser in Sicherheit. Möglichst weit weg.

Die fünf stark körperlich behaarten Wesen zur Rechten unseres schweinischen Freundes sind Hutzen. Genauer gesagt, Berghutzen. Und am genauesten gesagt: Vier Berghutzendamen und ein Hutzerich (manche sagen: Huter). Diese anschmiegsamen Haarbälle mit den schrecklich kreischenden Stimmen stammen aus den Hutzenbergen. Es gibt Geschichten, dass die erste Nachtschulhutze, Fredda die Haarige, noch nicht einmal des artikulierten Sprechens fähig gewesen sei und sich nur schriftlich verständlich machen konnte. Das hat sich inzwischen glücklicherweise gebessert, dennoch sind Hutzenstimmen selbst im besten Fall noch immer schrill und unangenehm. Und wenn sie sich über etwas aufregen und in ihren höchsten Diskant verfallen kann man den Rost von den Schulwänden bröseln sehen.
Da haben wir zunächst einmal Amanda. Sie als „wild“ und „ungezügelt“ zu bezeichnen, wäre wohl geschmeichelt. Mit ihrer impulsiven und äußerst direkten Art macht sie sich, außerhalb der Hutzenwelt natürlich, wenig Freunde. Auch sind ihre „äußerst witzigen Scherze“ überall gefürchtet. Ihr Lieblingsspruch lautet: „Ach fickt euch doch!“ Aber in der tiefsten Seele ist sie eine der unverstandensten Hutzen, die ich kenne. Auch wusste keiner von uns, dass sie im Geheimen unter einer schrecklichen Angst vor tiefen, dunklen Orten leidet. Das hätte beinahe zu einer Katastrophe geführt…

Kulla würde sich selbst wohl als „zivilisierte Hutze“ bezeichnen. Ihre Bestrafungsaktionen mit dem Paddel sind legendär, sie schwingt das Holz mit unübertroffener Grazie. Darüber hinaus macht sie mit ihren Kochkünsten jedem Hoawief Konkurrenz. Zimt muss aber an jedem Gericht dran sein, das ist ihr Prinzip. Dass sie sich dazu noch vor Beginn des Abenteuers die Zähne hat anspitzen lassen, jagte mir gehörigen Respekt ein. Ich vermute, dass sie sich auch deshalb für die Expedition gemeldet hat, um ihre Ur-hutzischen Wurzeln wieder zu entdecken.
Zwarn ist die Frau der knappen Worte. Das soll aber nicht heißen, dass man von ihr nichts hört – im Gegenteil. Mit ihrem Kampfdudelsack, den sie überall mit hinschleppt, flößt sie Freund und Feind gleichermaßen gehörigen Respekt ein. Ansonsten neigt sie eher zur Vorsicht und gibt lieber Unterstützung durch guten Rat aus der zweiten Reihe.

Die jüngste der Hutzen ist die etwas kapriziöse phellpe, die einzige Hutze die ich kenne, die rüschenbesetzte „Schlüpper“ und Haarschleifchen trägt. Dass sie ihren Höhlen-Schutzhelm mit Blümchen verzierte, ist typisch für sie. Aber wehe dem Macho, der den Respekt vor der Weiblichkeit vermissen lässt und zu seinem Entsetzen bemerken muss, dass ihre rot lackierten Fingernägel scharf geschliffen sind. Die Kraft der Jugend, gepaart mit einem unübersehbaren „überdrehtes-Supermodel-Komplex“ machen phellpe zu einer ernst zu nehmenden, aber nervlich nicht immer stabilen Nahkampfgegnerin.

Kommen wir zum Huter. Eigentlich ist Eaglechen, obwohl er für sein Leben gern grantelt und motzt, ein netter Kerl. Seine ständig schlechte Laune ist eher das Resultat des Leidens an seiner Umwelt, zumeist nervigen Erstklässern, die Zettelchen mit sinnlosen Fragen ans Schwarze Brett der Dunkelkammer hängen und generell einen Mangel an guter Kinderstube erkennen lassen. „Der Adler“, wie er oft respektvoll genannt wird, versteht sich selbst als moralische Instanz und „Herbeirufer“ besserer Zeiten, ganz egal, ob diese herbeigerufen zu werden wünschen oder nicht. Leider zwangen ihn ein unglückliches Schicksal (und eine aberwitzige Berghutze) dazu, die Ruhe und den Komfort des Raucherzimmer-Sofas mit den Unannehmlichkeiten einer Finsterbergtour zu vertauschen. Dass dies seine Laune nicht gerade verbessert hat, ist wohl nachvollziehbar.

Lenken Sie jetzt bitte Ihren Blick auf das kleine, kugelförmige, (nur für das Bild) ein wenig deprimiert dreinblickende Persönchen neben dem Hutzerich. Eine Schlechte Idee, finden Sie? Genau, das ist sie auch, unsere Linora. Eigentlich heißt sie ja 13U 47M 30S, aber den Namen hat sie schnell geändert, als sie vor vielen Jahren ihrem heimatlichen Bollogg-Kopf entkam und in Zamonien herumzuziehen begann. Linora ist die beste Läuferin, die man sich vorstellen kann. Ihre gedankenschnellen Beine und ihr untrüglicher Navigationssinn sollten uns mehr als einmal während der Expedition aus der Patsche helfen. Dazu hat sie ein sonniges Gemüt, das uns, zusammen mit ihrem Optimismus und ihrem gute Laune verbreitenden Wesen, immer wieder aufrichtete, wenn trübe Stimmung uns zu überwältigen drohte. Wie ich im Verlauf der Expedition noch mehrmals sagen sollte: Es war keine schlechte Idee, die Schlechte Idee mitzunehmen.

Und zuletzt…
Stollentrolle. Man muss sie einfach mögen…
Nein, nun mal im Ernst. Stollentrolle stinken, sind widerlich, schleimig, asozial und komplett verabscheuungswürdig. „Traue niemals einem Stollentroll“ ist ein geflügeltes zamonisches Wort. Egal, ob sie Trollocain, SabberJupp, IndianaSepp oder Lord Nelloz heißen mögen, ob sie sich als Höhlenforscher, Taschenkontrolleur, Hundefänger, Gebrauchtkarrenverkäufer oder gar Nachtschüler tarnen – es sind und bleiben Stollentrolle und man sollte ihnen nie den Rücken zudrehen. Und wer glaubt, die „zivilisierte Atmosphäre“ eines Schulbetriebes könne die Sozialisation eines solchen Schattenparasiten positiv beeinflussen, der ist mit Sicherheit gewaltig auf dem Holzweg. Es hatte also schon seinen Grund, weshalb ich mir nur schwer vorstellen konnte, einen Stollentroll ins Expeditionsteam aufzunehmen. Aber, und das hätte ich wissen sollen, „kommst du nicht zu ihnen, kommen sie zu dir.“ Und so blieb unser Trupp auch während des gesamten Abenteuers nicht von ihrer extrem nervigen Gegenwart verschont. Kähä. Upps…

Ja, das sind wir also. Wie Sie sehen, geschätzter Leser, schöne Leserin, verfügt die Nachtschule über einzigartige, zu allem fähige Pennäler. Leider konnte ich nur eine begrenzte Anzahl von ihnen mit auf die Reise nehmen. So musste ich mir erst einmal darüber klar werden, welche Situationen uns wahrscheinlich erwarteten und welche Voraussetzungen die Teilnehmer auf jeden Fall mitbringen sollten. Und wie erfährt man so etwas am ehesten? Natürlich durch das intensive Studium von Abenteuerromanen. Darum konnten mich meine Mitschüler kurze Zeit später Kisten voller Bücher aus der Bibliothek und diversen Wohnstollen schleppen sehen. „Sturz in die Hölle,“ „Die Uhdolf-Saga,“„Das Grauen im Tunnel,“ „Das Logbuch der ‚Ellidhi’,“„Jack Fearless und der Dschungel der Gefahren,“ „Die Aventüren des jungen Hubi Knödelsäger,“ „Die Reise nach Yholl,“ „SabberJupps unglaubliche Erlebnisse,“ dazu alle verfügbaren „Prinz-Kaltbluth“-Romane wurden von mir in Rekordzeit gelesen und analysiert. Und dann war es endlich soweit, mitten im vergangenen Mai, dass ich in die Dunkelkammer schwappen konnte, um mit einer Heftzwecke am dortigen Schwarzen Brett die folgende Anzeige auszuhängen:

STELLENANGEBOT
GESUCHT: DREI MUTIGE EXPEDITIONSTEILNEHMER
GEBOTEN: VIEL GEFAHR, VIEL RUHM, WENIG GELD

Der Nachtigaller-Stipendienfonds für bedürftige Nachtschüler finanziert eine Expedition in die Tiefen der Finsterberge. Mit der Expeditionsleitung betraut ist die Tratschwelle „Andray DuFranck“ (gleichzeitig wissenschaftlicher Leiter). Die folgenden Stellen sind noch zu besetzen:

1 mutiger Held. Muss heldenhaft wirken und Rettungsaktionen in letzter Sekunde durchführen können. Sollte positive Ausstrahlung auf weibliche Daseinsformen besitzen. Sollte coole Sprüche klopfen können.

1 hilfswilliger Schwerarbeiter mit wenig Verstand. Sollte gehorchen, schwere Lasten tragen und auf geheimnisvolle Knöpfe drücken können. Sollte auch hart im Nehmen sein. Sprachfähigkeit nur begrenzt vonnöten.

1 weibliche Begleitperson. Sollte sexy aussehen. Sollte ständig in Gefahr geraten können. Sollte die Moral der Truppe heben können (Kochen, Gesang, Nacktszenen etc.). Sollte offen für Beziehungen sein.

Die Teilnehmer müssen zusammenarbeiten können und teamfähig sein. Stollentrolle benötigen ein polizeiliches Führungszeugnis.

Gehalt: Pro Person und Tag 50 Pyra Pauschale. Gefahrenzuschlag möglich. Freie Verpflegung. Zahlung erst nach Ende der Expedition. Wir können leider keine Garantie auf unversehrte Rückkehr geben. Bitte vor Expeditionsbeginn privat versichern.

Bewerbungen nach folgendem Schema an dieser Stelle:

1) Name, Daseinsform
2) Beschreibung der eigenen Persönlichkeit
3) Besondere Fähigkeiten
4) Besondere Schwächen
5) Einige für Dich besonders typische Phrasen

Folgende Situationen sind bereits fest eingeplant:
- Besuch in Professor Nachtigallers streng geheimer „Kammer der vergessenen Patente“
- Begegnung mit einem verwirrten graubärtigen Zwergpiraten
- Ein Zusammentreffen mit dem „Nachtschulmonster“
- Erforschung des “Käsekuchens der Dimensionen“
- Bezwingung des „steilsten Finsterbergmadenstollens der Welt“ – hinab bis zur Mitte Zamoniens
- Kontakt mit spärlich bekleideten „Finsterbergamazonen“

Andray DuFranck wird ein Expeditionstagebuch führen und in der Dunkelkammer veröffentlichen.
Bewerbungsschluss ist Pfingstmontag, 23.59 Uhr.


Tja, und mit diesem einen schicksalhaften Reißnagelpiekser begann es… die Lawine rollte und niemand war mehr in der Lage, sie aufzuhalten.
Andray DuFranck
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Re: Expedition in die Tiefen der Nachtschule

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„Reise in die Tiefen der Nachtschule bis zur Mitte Zamoniens“

1. Tag

Eigentlich beginnt die Expedition ja schon heute, obwohl nicht einmal die gesamte Mannschaft feststeht. Auf meine Stellenanzeige in der Dunkelkammer haben sich mehr Nachtschüler gemeldet, als ich erwartet hatte; Leider auch mehr, als das ursprüngliche Expeditionsbudget verkraften kann. Ich bin also gezwungen, sehr sorgfältig auszuwählen.

Für die Stelle der „Nummer eins“ muss ich mich zwischen Herrn Obstip von Kolon und dem Zwergpiraten Minus entscheiden. Zweifellos erscheint Herr Minus von seinem Naturell her abenteuerlustiger als der eher „kompliziert“ auftretende Nattifftoffe. Seine geringe Körpergröße ist jedoch bei der notwendigen Zurschaustellung von Autorität und Führungsqualität eher nachteilig. Auch kann ich mir nicht vorstellen, wie er das Transportieren geretteter Damen bewerkstelligen will. Herr Obstip von Kolon verweist dagegen auf seine große Erfahrung und profunde Kenntnis des zamonischen Rechtssystems. Zwar gelten Nattifftoffen als zäh und sensibel, ich bin mir jedoch nicht ganz sicher, ob er in Extremsituationen das instinktiv Richtige tun würde. Dennoch traue ich ihm die Tätigkeit durchaus zu.

Lösungsvorschlag:
Sollten Herr Minus und Herr von Kolon einverstanden sein, werde ich eine kleine Erfindung des Eydeeten Hurzgall nutzen, und einen Höhlenhelm so modifizieren, dass er einen Zwergpiraten in einer Art „Aussichtskuppel“ beherbergen kann. Diesen Helm würde Herr von Kolon dann tragen. Mit Hilfe eines eingebauten Gedankenübertragungs-Kristalls könnte Herr Minus sich direkt ins Gehirn des Nattifftoffen „einklinken“, ihn beraten und sogar im Notfall, wenn es also auf rasende Reflexe und extremes Macho-Gehabe ankommt, kurzzeitig Herrn Von Kolons Bewegungsapparat steuern.

Nun zur Stelle des „treu-doofen Hilfswilligen (HiWi)“. Herr von Kolon empfahl hier nachdrücklich den Schweinsbarbar „Germinator“. Es haben sich jedoch auch der Wolpertinger „MauMau“ und sogar die Berghutze Amanda für den Job gemeldet. Obwohl ich selbst den Schweinsbarbaren auf Grund seiner ständigen Fresssucht und seiner unangenehmen Ausdünstungen für nicht sehr sozial verträglich halte, muss ich doch seine Loyalität und seine große Stärke anerkennen. Auch der Gimpel „Finn McOrnien“ hat sich beworben, doch erscheint mir dieses Völkchen auf Grund seiner durch Gimpgenuss hervorgerufenen Ziellosigkeit und seines relativ schwächlichen Körperbaus (womit ich nichts über seine Zähigkeit sagen will) für diese Aufgabe weniger als geeignet und ich muss den kleinen sympathischen Kerl leider ablehnen. Sollte er jedoch ein Kamedar besorgen können, werde ich ihn in einer späteren Expedition zu wüstenartigeren Gefilden gern berücksichtigen. Den Wolpertinger MauMau würde ich, wenn ich ehrlich sein soll, liebend gern als „mobile Eingreiftruppe“ in Reserve halten, denn es ist durchaus möglich, dass wir so sehr in die Klemme geraten, dass eine Rettungsaktion durch freiwillige Nachtschüler notwendig wird. In diesem Fall könnte ich beruhigter schlafen, wüsste ich den intelligenten und kampfstarken Wolpertinger auf Abruf bereit. Für Frau Amanda, die Berghutze, hat sich zwischenzeitlich eine andere Möglichkeit ergeben (siehe unten).
Folgende Entscheidung wird getroffen:
Herr Germinator begleitet die Expedition, Herr MauMau bleibt als „Feuerwehr“ in der „Expeditionszentrale“ der Nachtschule.

Vor wenigen Minuten hat mich eine Flaschenpost aus den Hutzenbergen erreicht. Im Zuge der Aktion „Mehr Hutzen im Team“ wurden zusätzliche Mittel für die Expedition in Aussicht gestellt, allerdings unter der Bedingung, dass ich mehrere Hutzen in die Gruppe aufnehme. Ich bin nicht abgeneigt, denn Hutzen sind eine leider noch zu wenig verstandene Spezies, die hier endlich die Gelegenheit erhalten müsste, ihre Talente deutlicher zum Ausdruck zu bringen. Leider gibt es da ein Problem – die Verständigung. Hutzengekreisch ist schon im Einzelfall unangenehm; mehrere Hutzen zusammen können einen infernalischen Lärm produzieren. Dazu kommt noch, dass Frau Zwarn darauf besteht, ihren Kampfdudelsack mitzunehmen. Das könnte zu lästigen Erdbeben führen.
Allerdings hat mir mein wissenschaftlicher Kollege, der Hutzerich Proddo, über eine neue Entwicklung berichtet, die sich „AJAX-Stimmpillen“ nennt. Diese Pastillen, die jedoch nur einige Stunden lang wirken, verleihen jeder intelligenten Daseinsform eine angenehme Stimme. Leider sollen sie noch nicht in der Praxis getestet sein. Es könnten unvorhergesehene Nebenwirkungen auftreten.
Sehr gerne hätte ich auch die Tratschwelle Blarbara mitgenommen, doch kann ich dies auf Grund ihrer Jugend und Unerfahrenheit leider noch nicht verantworten. Später vielleicht, wenn sie etwas älter ist. Ich biete ihr jedoch an, zusammen mit dem Wolpertinger „MauMau“ hier in der Nachtschule die Expeditionszentrale zu besetzen und uns nach besten Kräften mit Informationen aus der Nachtschulbibliothek zu unterstützen.

Lösungsvorschlag:
Ich wäre, bereit, alle vier Hutzen mitzunehmen, „Vier Hutzen für Minus“ sozusagen, falls sie sich bereit erklären, die Pastillen zu testen. Dies wären dann Amanda, phellpe, Zwarn und Kulla. Doktor Proddo wird mir sicherlich gern eine größere Menge der Stimmpillen zur Verfügung stellen.

Zu guter Letzt nehme ich gern das Angebot der Schlechten Idee Linora an, als „Botin“ zwischen Expeditionsgruppe und Hauptquartier zu fungieren. Sie ist gedankenschnell und ich bin sicher, dass sie überall durchkommt.

Nun muss ich nur noch meine „Wunschkandidaten“ über meine Entscheidung in Kenntnis setzen und deren Reaktion abwarten.
Andray DuFranck
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2. Tag

Da mir noch nicht alle Teilnehmer endgültig zugesagt haben, nutze ich den Tag, um wichtige Vorbereitungen für die Expedition zu treffen. Am einfachsten war es noch, die Flaschenpost an Doktor Proddo mit der Bitte um die AJAX-Stimmpillen abzufassen und zu versenden. Ich hoffe, dass die Lieferung per Blitz-Schneckenpost bis spätestens morgen eintreffen wird. Die Hutzen sind etwas misstrauisch über die möglichen Nebenwirkungen (sie befürchten wohl Haarausfall) und Frau Amanda schrieb mir gestern nachmittag, sie könne problemlos und sehr verständlich zamonisch reden, da sie einen Sprechkurs bei Tratschwellen absolviert habe. Das erscheint mir recht ungewöhnlich, aber da sie ihre Teilnahme zugesagt hat, werde ich mich wohl bald von ihren Fähigkeiten überzeugen können. Lediglich Frau Zwarns Kampfdudelsackklänge bereiten mir noch einige Kopfschmerzen. Vielleicht kann man in das Instrument einen Dämpfer einbauen ?

Der Höhlenhelm für Herrn von Kolon und den Zwergpiraten Minus beschäftigte mich glatt den ganzen Vormittag lang. Es ist nicht einfach, eine Eydeeten-Erfindung, die eigentlich für die Verständigung zwischen Baalbecker Würmchen und Großfüßigen Berten ausgelegt ist, an einen Nattifftoffen und einen Zwergpiraten anzupassen. Aber nach einiger Pfriemelei gelang mir das Kunststück endlich und zu meiner großen Freude zeigte sich sogar der zusätzliche Effekt, dass die bei dem Prozess freiwerdende Energie den Gedankenübertragungs-Kristall aufleuchten ließ, wodurch auf dem Helm eine Art „Grubenlampe“ entstand, die während der Wanderung den Weg erhellen kann. Gleichzeitig wird der Höhlenhelm die empfindlichen Ohren und das Geweih des Herrn Obstip vor Steinschlag schützen. Die schwankende Fortbewegung seines „Transportmittels“ wird dem wellengestählten Zwergpiratenkapitän Minus ganz sicher keine Probleme bereiten. Ich werde später eine kleine Zeichnung dieses technischen Wunderwerkes anfertigen.

Nach der anstrengenden Arbeit gönnte ich mir eine kleine Pause und grübelte dabei über die Art meiner eigenen Fortbewegung nach. Als wissenschaftlicher Leiter muss man ja autark sein und jederzeit dorthin springen können, wo neue Erkenntnisse locken. Es ist unmöglich, dies zu tun, während man als Welle von den Gefährten in einem Bottich herumgetragen wird. Lange fand ich keine Lösung. Dann jedoch fiel mir ein Ausspruch, er stammte von meiner Kollegin Schwappschiwapp, ein: „Tratschwellen kommen mit allem klar, außer mit Umweltverschmutzung, Tauchsiedern, Gelatine, Flaschen und Schafschändern1!“. GELATINE! Das war es! Ich habe es gleich ausprobiert und es klappte: Durch die Einnahme von Gelatinetabletten kann ich meinen Körper in eine relativ stabile humanoide Form bringen, in der er sogar zum Laufen und Springen fähig ist. Es war ein faszinierender, aber auch erschreckender Augenblick, als ich mich zum ersten Mal so im Spiegel betrachtete. Ich werde wohl einen langen weißen Kittel tragen müssen, um meinen Kameraden diesen Anblick zu erleichtern. Die Wirkung der Gelatine hält ziemlich lange an, ich werde mich nur vor stärkeren Hitzequellen hüten müssen, da bei Erwärmung ein „Schmelzeffekt“ eintritt. Heute Abend werde ich in meinem „neuen Körper“ noch etwas laufen üben; ich merke, dass ich noch ein wenig wackelig auf den Beinen bin.

Vor mir auf dem Tisch liegen einige Finsterbergkarten sowie Herrn Oiaks hervorragende Doktorarbeit über die Geschichte der Nachtschule. Ich studiere sie immer und immer wieder. Zu gerne würde ich wissen, wo die Falltür im Boden des Nachtschulstollens hinführt, die so gut getarnt ist, dass noch kein Nachtschüler sie gefunden, geschweige denn geöffnet hat². Zum Glück verfüge ich über die nötigen Hilfsmittel... aber davon soll zu gegebener Zeit die Rede sein. Zu Professor Nachtigallers Büro und zur „Kammer der unausgereiften Patente“ führt diese Falltür jedenfalls nicht, das weiß ich mit Sicherheit. Wozu ein kleiner Spaziergang in den Finsterbergstollen und ein längeres Gespräch mit einer uralten Finsterbergmade (samt gemeinsamer Rezitation von Herrn Mythenmetz‘ „Finsterbergmaden“-Gedicht) doch gut sein können...³

Mit Ungeduld erwarte ich eine Flaschenpost von Herrn Obstip. Wenn er den Posten nicht annimmt, werde ich selbst den Höhlenhelm aufsetzen und Minus den Großen herumtragen müssen. Er könnte sonst leicht unter unsere Füße geraten.

O weh, so vieles muss ich noch organisieren. Nahrungsmittel, Wasser, Rucksäcke, Decken, Werkzeug... eine Sisyphusarbeit. Nun denn, an die Arbeit. Morgen werden wir weitersehen.
Andray DuFranck
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Re: Expedition in die Tiefen der Nachtschule

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3. Tag

Endlich ist es soweit. Nur noch wenige Stunden, dann wird das Abenteuer beginnen. Oh, welch ein Stress. Ich hätte nicht geglaubt, dass die Vorbereitungen für eine Expedition einen solchen Verschleiss an Energie und Nerven mit sich bringen. Manchmal zweifle ich bereits an meinem eigenen Gedächtnis. So hätte ich schwören können, dass die Finsterbergkarten gestern noch in umgekehrter Reihenfolge auf dem Schreibtisch lagen. Und beim Einzeichnen der Route muss ich wohl schon sehr müde gewesen sein... welche Sauklaue. Das hätte ja ein Zwergpirat mit seinen Häkchenhänden besser hingekriegt. Aber was soll’s. Alles ist nun fertig vorbereitet und morgen werden wir abmarschieren.

Herr von Kolon hat mir einen netten Brief geschrieben. Er hatte sich über die sehr „direkte“ Meinungsäußerung der Berghutze Amanda etwas echauffiert und war geneigt, seine Teilnahme zu widerrufen. Glücklicherweise hat er es sich dann doch anders überlegt. Ich hoffe, dass es auf der Reise nicht zu unüberwindlichen persönlichen Konflikten und Desertationen kommt. Nur wenn alle eisern zusammenhalten und sich blind aufeinander verlassen können, haben wir eine Chance, das Ziel zu erreichen. Hutzen mögen auf den ersten Blick abschreckend erscheinen, aber sie besitzen ausgezeichnete innere Qualitäten, die uns in den Tiefen der Finsterberge das Leben retten können. Wie sich jedoch vier Hutzen als Gruppe verhalten, darüber habe ich leider nirgends Aufzeichnungen finden können. Ich werde mich überraschen lassen und das Beste hoffen. Für den Notfall habe ich jedenfalls bereits mein Testament gemacht.

Keinerlei Bedenken habe ich im Hinblick auf den Schweinsbarbaren Germinator. Er besitzt „genau die Menge an Intellekt, um die Rolle über die Rampe zu bringen“, wie es Herr Moers einstens so trefflich formulierte. Und nachdem ich neulich beobachtete, wie er ein ganzes Ochsenviertel zwischen seinen Bauchfalten hervorzog, ist mir um seine Kondition auch nicht bange. Es dürfte für ihn die leichteste Übung sein, die Ausrüstung zu stemmen. Ach ja, die Ausrüstung.... Herr von Kolon trägt eine geradezu gigantische Last mit sich herum... beziehungsweise: er lässt sie herumtragen. Auf jede Eventualität ist er vorbereitet, sogar einen Stockdegen (kommt mir das nicht irgendwoham... ääh... irgendwoher bekannt vor ?) hat er bei sich. Meine Hoffnungen, dass er das gesamte Material wieder unversehrt zurückbringt, sind jedoch eher gering.

Auf alle Fälle wird Herr Obstip den schönen Spezial-Höhlenhelm den ich mit so viel Mühe für ihn und Herrn Minus gebaut habe, tragen. Beide Herren haben sich übrigens darauf geeinigt, den eingebauten Telepathiekristall nicht zu nutzen, sondern auf „normale“ Art und Weise miteinander zu kommunizieren. Wie Herr Minus es jedoch einrichten will, beim zwischenzeitlichen Verrichten seiner Notdurft in der herrschenden Finsternis nicht platt getreten zu werden, das ist seine Sache. Ob ein Anstrich mit Leuchtfarbe helfen würde ? Natürlich habe ich auch für alle anderen Expeditionsteilnehmer formschöne und stabile Kopfbedeckungen besorgt. Niemand soll durch Steinschlag zu Schaden kommen. Die Helme mit Blümchenmuster habe ich mir (außer für phellpe, die einen solchen explizit verlangte) jedoch verkniffen... möglicherweise fühlen sich die Hutzendamen dadurch diskriminiert.

Zu meiner großen Freude hat auch die blitzschnelle Frau Linora zugesagt. Diese Schlechte Idee als Botin mitzunehmen, ist gar keine schlechte Idee, wenn ich das mal so flapsig sagen darf.

Alles ist vorbereitet.

Ich muss nur noch in der Raucherecke einen Brief an die Teilnehmer aushängen. Darin können sie mir Rückmeldungen und „Sonderwünsche“ mitteilen. All das werde ich, so gut es geht, berücksichtigen.

Ich glaube nicht, dass ich heute Nacht auch nur eine einzige Sekunde lang Schlaf finden werde...
Andray DuFranck
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Re: Expedition in die Tiefen der Nachtschule

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4. Tag

Wie recht ich doch hatte. Stunde um Stunde wälzte ich mich in meinem Kübel hin und her. Ich fühlte mich so eiskalt, dass sich noch nicht einmal die beiden eingeworfenen Schlaftabletten auflösen wollten und mir wie Wackersteine im Bauch lagen. Also schleppte ich mich zu mitternächtlicher Stunde noch einmal an mein heimisches Dimensionsloch. Schließlich beginnen wir die Expedition heute, am Geburtstag des „Großen Träumers“ – und das musste doch gebührend gefeiert werden. Nachdem ich eine riesige Geburtstagstorte in die Dunkelkammer gestellt und verziert hatte, gab eine von mir fix organisierte Musikgruppe noch das obligatorische Geburtstagsständchen zum Besten. Danach forderte ich die Herren Musiker auf, wieder in ihr Dimensionsloch zu kriechen und begab mich noch kurz zur Raucherecke, wo ich mit den anwesenden Nachtschülern der „Spätschicht“ zur Feier des Tages ein Gläschen Schampus leerte. Dann taumelte ich, nun doch etwas schlaftrunken, in meinen Kübel zurück.

Beinahe hätte ich verschlafen. Zum Glück weckten mich die vertrauten Frühstücks-Schmatz-und-Schlinggeräusche aus der Dunkelkammer noch rechtzeitig aus meinen beunruhigenden Träumen. Natürlich bewahrheitete sich meine Ahnung, dass ich von der schönen Geburtstags-Erdbeertorte keinen Happen mehr abbekommen würde. Wie ich später erfuhr, hatte der Zwergpirat Tachtöllpel (während ich in der Raucherecke weilte) die hungrige Musikerbande wieder zur Dunkelkammer zurückbeordert und sich zusammen mit ihnen so gründlich an der Leckertorte vergangen, dass bis zum Morgengrauen noch nicht einmal mehr Krümel übrig waren. Dass diese Stoffel aber auch die gesamte Kuchendekoration, alles wertvolle zamonische Sammlerstücke, haben mitgehen lassen, das stößt mir doch sauer auf. O weh, meine schöne Rumo²-Actionfigur. Ich werde während der Expedition mit Obstip über die Bildung einer Nachtschul-Polizeitruppe sprechen.

Endlich aber war es soweit. Eine Menge neugieriger Nachtschüler versammelte sich im Flur vor der Dunkelkammer. Frau Linora, die als Botin zwischen uns und dem Nachtschul-Hauptquartier dienen will, wurde von mir sofort zur Seite genommen und instruiert. Ich übergab ihr die Frequenzdaten des Telepathiekristalls, der sich in Obstips Spezial-Höhlenhelm befindet. Mit diesen Angaben kann eine Schlechte Idee jederzeit unsere Position orten, so dass wir auch in tiefster Finsternis für sie auffindbar sind. Wir haben außerdem beschlossen, dass Linora uns zumindest einen Tag lang begleiten wird, damit sie sich ein Bild von den Stollen und Gängen unter der Nachtschule machen kann. Verwinkelte Labyrinthe müssten schon von Natur aus ihr Element sein. Linora verschwand auch gleich mit Blarbara und MauMau im Lehrsaal, wo sie in einer Ecke, nahe den Bücherregalen der Bibliothek, das „Hauptquartier“ einrichten will.

Und da bahnten sich auch Herr von Kolon und der auf seiner Schulter sitzende Minus bereits den Weg durch die Menge der Wartenden. Flankiert wurden sie von den vier Hutzen, die die Gelegenheit genutzt hatten, sich von ihrer „typischsten“ Seite zu zeigen (phellpe mit Blümchenhelm, geringelten Kniestrümpfen und Schleifen im Haar, Kulla mit verwegen geschultertem Paddel, Zwarn mit dem aktionsbereit umgehängten Kampfdudelsack und Amanda, die einen gefährlich großen Rucksack, der, wie ich befürchte, jede Menge Ärger-Utensilien enthält, mit sich herumtrug). Hinter ihnen stapfte Germinator und balancierte die vorhandene Ausrüstung wie ein Wattepäckchen auf seinem breiten Rücken. Welch eine Kraft – ich bin schon gespannt, wer das Armdrück-Duell heute abend gewinnen wird: Amanda oder er. Hinter Germinator hielt sich sicherheitshalber niemand anders mehr auf – was jeder Schweinsbarbaren-Kenner völlig verstehen wird.

Nun war ich an der Reihe. Meine neuen Gelatinebeine zitterten und wabbelten als ich, angetan mit einem beinahe bodenlangen Arztkittel, zur Tür der Dunkelkammer mehr stolperte als ging. Während alle ihr Gepäck ablegten (und sich der inzwischen zurückgekehrte Herr MauMau drohend daneben als Wächter aufbaute), holte ich die Racker³ heraus und drückte sie Bimmelchen in die Arme, damit uns die Tiere nicht zwischen die Füße gerieten. Alle Expeditionsteilnehmer drängelten sich in den Raum. MauMau schloß die Tür hinter uns und passte auf, dass uns kein Stollentroll folgte. Die Spannung , die in der Nachtschwärze lag, war fast mit Händen zu greifen. Auf meine Anweisung hin schob Germi den Küchenkühlschrank zur Seite. Ich befühlte die schleimig-glitschige Kammerwand. Und endlich fand ich, was ich gesucht hatte: ein bleistiftdickes siebeneckiges Loch. Ein Griff in meine Kitteltasche förderte den dazugehörigen „Schlüssel“, ein glattes Kupferstäbchen, zutage. Ich verrate aber hier noch nicht, an welchem Ort in der Bibliothek versteckt ich das wertvolle Teil samt Gebrauchsanweisung gefunden habe. Spur- und geräuschlos verschwand der Schlüssel im Loch.

In unseren Köpfen erklang eine Stimme. Es war die Stimme des Professors. Tatsächlich... Nachtigaller selbst sprach zu uns. Woher nur? Wir konnten es nicht feststellen „Stellt euch in den grauen Kreis auf dem Boden, schnell-schnell!“ befahl uns der Eydeet. Wir beeilten uns, der Aufforderung Folge zu leisten und drängten uns auf dem Fleck, der vor einer Sekunde noch nicht da gewesen sein konnte, zusammen, auch wenn der Platz sehr beengt war. Plötzlich fühlte ich mich eingeklemmt zwischen Hutzenhaaren, Nattifftoffenfell und Schweinsbarbarenspeck. Minus funkelte mich mit verkniffener Mine aus seinem Sitz heraus an und hob wachsam die Häkchen. Dann begann sich der Boden unter unseren Füßen zu bewegen...

Wir glitten, auf der runden Platte stehend, wie mit einem Fahrstuhl aufwärts in Richtung Decke. Kurz bevor wir dort anstießen (und Minus sich schon zum Notausstieg bereitmachte, während er lauthals Piratenflüche in die Gegend schrie), öffnete sich auch dort ein Loch und wir standen unversehens in einer Kammer, von der wir noch nie etwas gehört hatten. Überall an den Wänden hinauf stapelten sich Kästen, Päckchen und Gestelle mit unverständlichen Gerätschaften. Auf schmalen Wandborden blinkten geheimnisvoll Drähte, Linsen und staubige Kristallsplitter.

Professor Nachtigaller begrüßte uns. Nein, ich muss mich korrigieren, es war nicht der echte Professor. Es war ein geisterhaft-durchscheinendes, grünlich leuchtendes Abbild seiner Person, aber es bewegte sich ganz natürlich und schien uns zu erkennen und zu verstehen. Ich bezweifle nicht, dass dieses „Simulacrum“ auch eine Erfindung des Professors selbst war. Prüfend sah die Gestalt uns an.

Aus dem „Lexikon der erklärungsbedürftigen Wunder, Daseinsformen und Phänomene Zamoniens und Umgebung“ von Prof. Dr. Abdul Nachtigaller
Zweydeet, der: Geisterhafte Stellvertretergestalt, die ein Eydeet mit mindestens sechs Gehirnen erschaffen kann, um „an mehreren Orten gleichzeitig“ zu sein. Der Zweydeet verfügt nur über begrenzte Energiereserven, kann aber völlig eigenständig handeln und Entscheidungen gemäß der Persönlichkeit seines Erschaffers treffen. Er ist meist so „eingestellt“, dass er sich aktiviert, sobald ein bestimmtes Ereignis eintritt (Betreten eines Raumes durch einen Fremden, Umlegen eines Schalters etc.). Zwischen den „Aktivierungsphasen“ legt der Zweydeet selbstständig Aufzeichnungen an, die es dem Erschaffer erlauben, alles von ihm Gesehene und Gehörte wiederzugeben und in seinem Eydeetengehirn zu speichern.

„Ihr wisst ja gar nicht, worauf ihr euch da einlasst, ihr Möchtegern-Forscher“ blaffte der „falsche“ Nachtigaller. „Ihr marschiert in den Rachen des Todes. Eure Chancen sind geringer als Null. Habt ihr auch euer Testament gemacht ?“ Ich nickte wortlos, beeindruckt von so viel Präsenz.

„Gut“. Das Abbild lächelte uns jetzt dünn an. „Eure Tollkühnheit ist bemerkenswert und zeugt von mehr Mut als Verstand. Sehr beeindruckend. Früher, als ich jünger war, da hätte ich wohl... aber lassen wir das. Ich werde euch einige nützliche Dinge aus dieser Kammer mitgeben. Es soll nicht heißen, Nachtigaller habe seine Schüler blind ins Verderben laufen lassen“. Der Eydeet steckte den Finger ins Ohr und wir hörten ihn zwischen den Gehirnen umherschalten.

„Hier in der „Kammer der vergessenen Patente“ bewahre ich alle meine Erfindungen auf, für die Zamonien noch nicht reif ist... sowie ein paar Dinge, die ich bei meinen praktischen Studien der Dimensionslochkunde aufgegabelt habe. Ich werde euch einige dieser Sachen anvertrauen. Lasst nicht zu, dass sie in falsche Hände fallen. Vernichtet sie, bevor ihr sie irgendwo zurücklasst“, instruierte Nachtigaller uns. Wir schauten uns verstohlen an. Dieses „Hilfsangebot“ klang mindestens ebenso gefährlich wie das Abenteuer, auf das wir uns einlassen wollten. Nachtigaller ignorierte unser Unbehagen und deutete auf einige Schachteln und seltsame Geräte, die auf einem Tisch bereit lagen.

„Hier haben wir einen Gennf-Detektor... damit ihr nicht unversehens in ein Dimensionsloch plumpst. Und dies ist Leuchtquallen-Spezialfutter, es verzehnfacht die Leuchtkraft einer Qualle für eine Stunde pro Körnchen... sehr praktisch. Hier eine aufblasbare Feuerstelle, sie spendet 20 Stunden lang Hitze zum Kochen und kann danach entlüftet und zusammengefaltet werden. Hängt diesen Kristall in Lava, wenn ihr welche findet, das lädt sie wieder auf. Dieses Seil hier ist stabil und trotzdem extrem dehnbar... es wird von einigen primitiven Kulturen bis heute zur Durchführung von Mutproben benutzt. Und für die Damen gibt es diese vier Überraschungspakete „Hutzenspaß 5000“; bitte öffnet sie nur im äußersten Notfall. Braucht ihr auch Waffen?“

Waffen? Ich war mir nicht sicher. Obstip hatte seinen Stockdegen, Minus trug einen Säbel. Die Hutzen waren furchtbare Nahkampfgegnerinnen (und sie besaßen dazu ein Paddel, einen Kampfdudelsack und ihre nervenzerfetzenden Kreischstimmen). Und Germinator verfügte neben seinen Fäusten über wirksame biologische Waffen. Nur ich selbst kam mir manchmal etwas hilflos vor. So entschied ich mich für ein praktisches, zusammenklappbares, von Nachtigaller optimiertes Schweizer Taschenmesser und hoffte, es nie im Kampf benutzen zu müssen.

Das Bild Nachtigallers wurde schwächer. Manchmal blendete es kurz weg, flackerte etwas und kam zurück. Hastig sammelten wir die Ausrüstung ein.

Obstip stellte sich vor der Gestalt in Positur. „Hoch verehrter Professor“ begann er, „auch wenn Sie sich uns hier nur als Abbild zeigen, möchte ich doch die Gelegenheit wahrnehmen, mich im Namen aller Nachtschüler, ja sogar aller gesetzestreuen Bürger Zamoniens, die dieses Projekt unterstützen, und der Nattifftoffischen Verwaltung, deren verdientes Mitglied ich bin, bei Ihnen zu.... nanu ?“

In diesem Moment verschwand das leuchtende Bild und das Licht erlosch. Es dauert eine Weile, bis man sich an eine plötzlich hereinbrechende Finsternis gewöhnt hat; dies war auch bei uns der Fall. Wir stolperten übereinander und ich hatte den Eindruck, dass ich in der Dunkelheit eine Hutze an der falschen Stelle berührte. Jedenfalls drosch mir jemand mit einem überraschten Quieken ein Paddel auf den Schädel.

„Rasch. Stellt euch zurück auf die graue Scheibe“ flüsterte es kaum mehr hörbar in unseren Köpfen.

Wenige Minuten später purzelten wir schwer bepackt wieder aus der Dunkelkammer heraus. An der Farbe unserer Gesichter war abzulesen, wie uns die Begegnung mit dem „Geist“ des Professors getroffen hatte.

Während Germinator einen lauten Furz der Entspannung abließ (was einige Nachtschüler zu rasanten Fluchtmanövern veranlasste), stellte ich mich mit phellpes Hilfe wieder auf die Gallertbeine. Obstip überwachte das Verstauen der erhaltenen Spezialausrüstung und auch Minus sparte nicht mit guten Ratschlägen, wie die „Beute“ rutschsicher unterzubringen sei. MauMau und Blarbara sperrten inzwischen die Mitte des Flurs ab und der Wolpertinger hob an einer in den Nachtschulkarten genau bezeichneten Stelle einige Bodenplatten weg. Darunter kam die berüchtigte „geheime Falltür“ zum Vorschein.

Sie war verschlossen. Natürlich. Wer würde die Tür zu solch gefährlichen Finsterbergzonen freiwillig offen lassen? Zunächst versuchten wir die Öffnung mit Gewalt. Aber selbst die geballte Kraft aller vier Hutzen, des Schweinsbarbaren und des Wolpertingers brachte die Falltür nicht um einen Millimeter nach oben. Das hatte ich befürchtet. Die Tür war, wie ich in einem Wälzer gelesen hatte, mit einem „Nachtigallerschen Kennwortschloss“ gesichert. Ohne Kennwort gab es keinen Zutritt.

Welches Passwort mochte der Professor gewählt haben? Mit solchen Lappalien pflegte er seine Gehirne nicht zu belasten. Vielleicht der Name eines geliebten Wesens ? Gab es da eine „schwache Seite“ bei ihm?

Das Glück war uns hold. Und es war wirklich das erste Mal wo ich einem Stollentroll, in diesem Fall Oiak, von Herzen dankbar sein musste. Ja, man kann sagen: Des Professors Haustierchen selbst öffnete uns das Schloss2. Knarzend und in den Angeln wimmernd hob sich die Falltür nach oben. Ein Schwall fauliger, seit Jahrzehnten nicht erneuerter Luft malträtierte unsere Riechorgane und Minus murmelte: „Hier stinkt’s ja wie in der Bilge der Ellidhi.“

Der Augenblick des Abschieds war gekommen. Wir knuddelten noch einmal alle Nachtschüler, die wir erwischen konnten. Minus verteilte tonnenweise heiße Küsse an die Nachtschülerinnen, er benahm sich wie ein Soldat, der ins letzte Gefecht zieht. Die Hutzen packten mit grimmigen Gesichtern ihre Rucksäcke auf, phellpe winkte mit allem, was Rüschen hatte und Zwarn setzte die Lippen ans Mundstück ihres Kampfdudelsackes.

Eine Sekunde später standen wir allein im leeren Flur. Zu heulendem Dudelsackjaulen kletterten wir in die Tiefe hinab. Ich flüsterte MauMau noch das Kennwort für die Tür ins Ohr, damit er selbst oder Linora uns im Notfall zur Hilfe kommen konnten. Ein letzter verzweifelter Blick, ein letztes Winken.... dann knallte die schwere Falltür hinter uns zu.

Wir saßen in der Dunkelheit. Wie erwartet, brach sofort ein totales Chaos aus.

Germinator rutschte auf dem glitschigen Boden weg und versuchte, sich an mir festzuhalten. Dabei schaffte er es, meinen Kopf so sehr einzuquetschen, dass ein Stück meines Tratschwellenhirns auf den Boden segelte, wo eine der Hutzen (ich glaube, es war Amanda) prompt hineintrat und ebenfalls ins Schleudern geriet. Gleich darauf beschwerte sich Kulla, dass jemand ihre Kehrseite als Fußabstreifer benutzte. Zwarn landete in der Verwirrung wenigstens weich auf ihrem Dudelsack, während ich mich am Ende unter dem breiten Hinterteil des Schweinsbarbaren wiederfand. Sehen konnte man immer noch nichts.

Glücklicherweise behielten Obstip und Minus die Nerven. Der Nattifftoffe kramte eine Quallenlampe aus seinem Gepäck und der Zwergpirat fütterte das Tierchen mit einer „Energiepille“. Helles Licht beleuchtete endlich die Szene.

Wir standen in einem würfelförmigen Raum, der wie ein Verlies wirkte. In eine Wand waren vier Metallkäfige mit dicken Gitterstäben eingelassen. Rostige Ketten mit Fußschellen hingen von der Decke. Futternäpfe und Säcke mit verschimmeltem Tierfutter, die Germinator sofort neugierig beschnüffelte (und, wie ich annehme, auch verkostete) lagen überall herum. Zu meiner Rechten gähnte eine gemauerte Türöffnung, direkt vor mir jedoch, in einem stollenartigen Loch, blinkte etwas Metallisches. Eine nähere Untersuchung war sicherlich angebracht.

Schnell waren die Aufgaben verteilt. Während Germinator an der Tür Wache hielt (wobei er immer wieder Schokocroissants, Hutzenmarmelade und andere Leckereien – Wo hatte er die bloß her?– zwischen seinen Bauchfalten hervorzog und mit lautem „HAAAAPPPPS“ verspeiste) und Linora ein wenig in den dahinterliegenden Gang spähte, untersuchten die Hutzen die Käfige und Obstip, Minus und ich das Stollenloch. Was wir entdeckten, war interessant.

phellpe und Zwarn waren sich sicher, dass in einem der Käfige eine Zeitlang jemand gefangen gehalten worden sein musste. Der Riegel war nämlich mit einem ekelhaften, glasharten, schleimähnlichen Harz zugekleistert. „Stollentroll-Rotz, mindestens drei Jahre alt“, meinte Zwarn. „Kenne ich aus den Hutzenbergen. Das einzige Zeugs, was selbst ein Eydeet mit der Kraft seiner Gehirne nicht beeinflussen kann.“ Noch interessanter war das Innere des Käfigs. Die Wände bestanden aus Metallplatten, die über und über mit winzigsten, scharf gestochenen, aber völlig unverständlichen Schriftzeichen bekratzt waren. Sie begannen: „Eintrag 00000000001: ☼♠▀►◙▲█◘▄◊☼○▲▼▪♥█“ und endeten mit „Eintrag 96792214083: Mir ist langweilig. Ich gehe jetzt.“ Was hatte das nur zu bedeuten? Am interessantesten jedoch waren die stählernen „Gitterstäbe“ dieses Käfigs. Die waren nämlich in der Mitte waagerecht geteilt, nach außen gebogen und wie Streuselschnecken säuberlich zum Käfigrand hin aufgerollt worden. Dabei waren sie mindestens fünf Zentimeter dick. Kulla und Amanda versuchten, einen zusammengerollten Stab wieder geradezubiegen. Trotz ihrer Hutzenmuskeln schafften sie es nur mit allergrößter Anstrengung, ein vorzeigbares Ergebnis zu erzielen. Wer hier gewirkt hatte, musste über unvorstellbare Kräfte verfügt haben... und über Stil3.

Auch das zweite Forscherteam fand Außergewöhnliches. Obstip analysierte die Ablagerungen der Wände und befand, dass das Stollenloch „ziemlich genau ein Jahr alt sein dürfte, wobei ich eine mögliche Fehlerquote von ein bis zwei Monaten, gemessen an der durchschnittlichen Wuchsgeschwindigkeit der Finsterbergalge für möglich halte, was jedoch nicht viel besagen muss, da das Klima hier unter der Nachtschule...“ undsoweiter undsofort...

Erschreckender noch war jedoch, dass in dem Loch eine tote Finsterbergmade lag.

Sie war grausam zugerichtet. Offensichtlich hatte jemand sie mitten in der Arbeit überrascht und sie musste sich, wie man an den Brandflecken der Wände ablesen konnte, verzweifelt gewehrt haben. Dennoch war sie wie durch eine Schrottmühle gepresst worden. Ihr verbeulter, zerschundener Metallkörper, die eingedrückte Kinnpartie und der plattgequetschte Hinterleib sprachen eine deutliche Sprache. Entsetzt sichteten wir in den Überresten jedoch auch Teile von abgerissenen, saugnapfbewehrten Tentakeln. Minus kletterte mit einem entsetzlichen Heulen auf den Überresten herum und hieb seinen Säbel in jeden Saugnapf, den er finden konnte. „Eine Bestie der Tiefe, eine Bestie der Tiefe !“ skandierte er und „Komm nur her, du überdimensioniertes Tentakeldingsbums. So was wie dich hab ich schon dutzendfach zu Kalamares mit Knobisoße verarbeitet. Bei allen Seeteufeln und Rhummfässern !“ Nichts rührte sich. Ich muss zugeben, dass ich mich nach diesem Ausbruch schon wesentlich sicherer fühlte.

Unsere Arbeit hier war getan. Linora kam aus dem Gang gehüpft und berichtete, dass die Passage vor uns sicher sei und mit sanftem Gefälle nach unten führe. Ich stupste Germinator an, der im Stehen eingeschlafen war. Jaja, das gute Essen. Der Schweinsbarbar schulterte das Gepäck, rülpste einmal entsetzlich laut in die Dunkelheit (womit er wohl hoffte, feindlich gesonnene Lebensformen zu vertreiben) und bildete dann die Nachhut, hinter Obstip, mir selbst und dem in Entdeckerlaune vorauseilenden Hutzenquartett. Wir passierten den Madenstollen, durch den die nun tote Finsterbergmade wohl den Weg zur „Gefängniskammer“ erreicht hatte, hielten uns jedoch weiter auf dem „regulären“ Pfad in die Tiefe, wie er in den alten Finsterbergkarten verzeichnet ist.

So marschierten wir stundenlang durch einen gemauerten Tunnel ohne Abzweigungen. Obstips Nattifftoffensinne ließen ihn vermuten, dass sich der Weg spiralförmig in die Tiefe wand. Immer wieder hörten wir das Geräusch tröpfelnden Wassers, das sanfte Sausen der Finsterbergbrise und manchmal auch... unheimliche Geräusche. Ein oder zweimal ein weiches Schmatzen und Blubbern hinter uns... sehr leise, aber deutlich... und einmal, von weit entfernt, Fragmente eines schaurigen Liedes:
„30 Mann sind mit auf dem Boot,
die Flagge ist schwarz, das Segel ist rot...“
Obstip und Minus erstarrten mitten in der Bewegung. Der Nattifftoffe wirkte, als habe er einen Schlag vor den Kopf bekommen. Minus aber brüllte von seinem Helmsitz herab (denn dort hatte er zwischenzeitlich Platz genommen):
„Noch sind wir im Hafen, doch nicht mehr sehr lang,
mit der Flut gehts hinaus und wir stehn unsern Mann!
Der Wind bläht die Segel, der Sturm schrubbt das Deck,
der Smutje serviert heute wieder nur Dreck...“
Und die Stimme antwortete ihm wie ein Hauch aus der Tiefe:
„Adieu, ihr Mädels im Hafenquartier,
wenn wir zurück sind, dann wartet ihr hier!“
Dann herrschte wieder Totenstille. Nur der Zwergpirat und Obstip unterhielten sich flüsternd und offenbar sehr aufgeregt. Wir legten eine kleine Pause ein, was Germinator Gelegenheit gab, seine Kalorienreserven zu ergänzen. Hin und wieder pflückte er auch eine der überall an den Wänden klebenden Leuchtquallen ab und ließ sie als „Zwischenmahlzeit“ in seinem immerhungrigen Rachen verschwinden.

Schritte erklangen. Die vier Hutzen kamen zusammen mit Linora von einem „Vorauskommando“ zurück und berichteten, sie hätten in einiger Entfernung einen sicheren Lagerplatz entdeckt. Das war eine gute Nachricht. Unsere Beine taten weh und ich befürchtete, dass die Wirkung meiner Gelatine nachließ.

Der „sichere Lagerplatz“ war, als wir ankamen, wirklich sicher. Sein vorheriger Besitzer, ein äußerst gefährlich aussehender Höhlenbär, lag mit verwundertem Gesichtsausdruck und gebrochenem Genick am Wegesrand, nachdem er offensichtlich eine kleine Meinungsverschiedenheit mit Amanda gehabt hatte. Es war zwar nicht mehr als eine große Ausbuchtung in der Höhlenwand, die uns beherbergen sollte, aber wir fanden alle Platz. Leider konnten wir nirgends Hängematten anbringen, so dass wir die Schlafsäcke auf dem Boden ausrollen mussten.

Kulla warf die tragbare Feuerstelle an und holte den großen Kochtopf aus dem Gepäck. Germinator erklärte sich bereit, den Bären zu häuten und zu tranchieren. Ich hätte nie geglaubt, dass ein solch großes Tier nur vergleichsweise so wenig Fleisch hergibt... nun ja. Kulla bereitete daraus ein wirklich wundervolles Bärengulasch. Eigentlich hatte ich angenommen, bei dieser Menge müsse noch etwas übrigbleiben, aber da hatte ich mich wohl getäuscht... nach einem größeren „HAAAAPPPS“ des Schweinsbarbaren konnten wir uns auch die Abfallbeseitigung sparen. Und, nachdem der Gute den Kessel ausgeschleckt hatte, sogar das Spülen.

Über den „Lagerabend“ will ich hier nur wenig berichten. Das Armdrück-Duell zwischen Amanda und dem Schweinsbarbaren wurde verschoben, da Germinator nach dem Essen wie ein gefällter Baum umgekippt war und wie ein Walross zu schnarchen begonnen hatte. Selbst Zwarns und phellpes Gute-Nacht-Lied konnte ihn nicht mehr wecken. Dafür begann sich beim Tröten des Kampfdudelsacks die hohe Höhlendecke zu bewegen. Ich befürchtete zuerst einen Stolleneinsturz, aber dann stob eine dichte Wolke dort hängender Fledermäuse in Höchstgeschwindigkeit flüchtend davon. Einige der Tierchen plumpsten tot vor meine Füße... mir fielen sogleich ihre widerlich langen Hauzähne auf. Gut, dass die Hutzen dabei sind. Wenn ich mir vorstelle, dass sich die pelzigen Scheusale während der Nachtruhe an unseren Körpersäften gelabt hätten, wird mir immer noch übel.

Aus dem „Lexikon der erklärungsbedürftigen Wunder, Daseinsformen und Phänomene Zamoniens und Umgebung“ von Prof. Dr. Abdul Nachtigaller
Hauzahnfledermaus, die: Blinder Flatterflügler, der sich in großen Schwärmen in Höhlensystemen aufhält und sich auf das Aussaugen nichtsahnender Touristen spezialisiert hat. Hauzahnfledermäuse hängen fast unsichtbar an der Höhlendecke und können wie Zecken jahrelang ohne Nahrung auskommen. Wenn sich ein Opfer in der Nähe zur Ruhe begibt, flattern sie zu Hunderten auf es herab und saugen es bis zum letzten Tropfen leer.

Amanda übernahm die erste Wache. Ich schlief unruhig und träumte, ich schwämme auf dem weiten Meer. Als ich zwischendurch kurz erwachte, sah ich, dass gerade Minus den Dienst am Feuer übernahm. Germinator schnarchte und rülpste gleichzeitig. Ein Fledermausflügel hing aus seiner „Futterluke“.
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Andray DuFranck
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Re: Expedition in die Tiefen der Nachtschule

Beitrag von Andray DuFranck »

EXPEDITIONSTAGEBUCH
„Reise in die Tiefen der Nachtschule bis zur Mitte Zamoniens“
5. Tag

Zum erstenmal in meinem Leben machte ich die trommelfellsprengende Erfahrung, von einer Hutze aus dem Schlaf gekreischt zu werden. phellpe hatte sich auf einen Felsbrocken gestellt und jodelte sich fast die Seele aus dem mit modischen Schleifchen verzierten Leib. Obstip presste die Hände auf seine langen Nattifftoffenohren und hielt mit zusammengebissenen Zähnen durch, bis das Heulen in einem schrillen Stakkato verklang. Dann stapfte er grimmig zur Weckhutze und begann, ihr einen Vortrag über gegenseitige Rücksichtnahme im Allgemeinen und die Empfindlichkeit seiner Gehörgänge im Besonderen zu halten, wobei er mehrmals belehrend mit dem Schimpfefinger drohte. Leider erreichte er damit nur, dass die übrigen Hutzen ihrer Genossin zur Hilfe kamen und lauthals ihre Kreischrechte, sowie den Anspruch auf Ausübung von Hutzentraditionen verteidigten. Wir würden wohl jetzt noch an dieser Stelle stehen und diskutieren, hätte nicht Minus sich mit seinem geballten Piratencharme dazwischengedrängt und: „Bei allen Seeschatten der Sieben Meere, Mädels, wir versäumen ja vor lauter Reden das Frühstück“ gerufen. Das wirkte. Amanda zischte dem immer noch deklamierenden Obstip ein kurzes „Ach lieb dich doch“ zu, drehte sich auf dem Absatz herum und eilte mit ihren Freundinnen zur Essensausgabe, während der Nattifftoffe, sprachlos ob soviel Respektlosigkeit, nur etwas von „anarchistischen Weibspersonen“ vor sich hinmurmeln konnte, seinen Schreibblock herauszog und sich eifrig Notizen machte. Als er sich dann aber endlich dazu bequemte, sich am Lagerfeuer niederzusetzen, um seine Mahlzeit einzunehmen, pupste es unter ihm so laut und langanhaltend, dass er bis unter die Ohrspitzen errötete. Wir brachen in brüllendes Gelächter aus: Amanda hatte die Gelegenheit genutzt, Obstip ein Furzkissen unterzuschieben. Von unserer Fröhlichkeit angesteckt, konnte er schließlich selbst nicht mehr lange säuerlich schauen und es geschah etwas, das man bei ihm bisher nur selten gesehen hatte: er lachte lauthals mit.

Nach dem stärkenden Frühstück (es gab kalte Butterbrote und einen leckeren, von Kulla mit etwas Zimt verfeinerten K-Kau) packten wir die Ausrüstung zusammen und setzten den Weg in die Tiefe fort. Zwischenzeitliches lautes Knirschen erinnerte uns immer wieder daran, dass Germinator die mitgenommenen Bärenknochen „verwertete“, indem er sie wie Salzstangen aufknabberte. Man musste nur aufpassen, dass man nicht in die Flugbahn seiner ausgespuckten Knorpelstücke geriet. phellpe behauptete mehrmals, der Schweinsbarbar ziele absichtlich auf ihren Popo und einmal kam es beinahe zu Tätlichkeiten, als sie Minus anraunzte, dass er bei seinen „Hutzenschutzmaßnahmen“ ständig „auf ihre rüschenbesetzten Schlüpper starren“ würde. Der Zwergpirat blieb daraufhin tatsächlich ganze zehn Minuten lang von ihr fern und beschäftigte sich dafür umso intensiver mit Zwarn, mit der er sich über „die wirkungsvollste Anwendung von Blasmusik“ unterhielt.

So drangen wir immer weiter ins Unbekannte vor, ständig begleitet vom Luftzug aus der Tiefe, dem schleimigen Gurgeln irgendwo weit hinter uns (Linora versuchte mehrmals, die Geräuschquelle durch einen Blitzspurt nach hinten zu identifizieren, doch ohne Erfolg) und erneut, diesmal lauter und deutlicher, einem von unten kommenden Gesang. Es war ein anderes Lied, verspielter und fröhlicher als das von gestern, aber keinem von uns bekannt.

„Tief unter der Eer-de, da-ha ist es schön, holla-di-riii, holla-di-rooo...“ konnten wir verstehen, bevor der Rest von der Finsterbergbrise hinweggeweht wurde.

Schließich, wir waren sicher schon wieder drei Stunden marschiert (Germinator nörgelte bereits unangenehm laut über eine notwendige „Verpflegungspause“ und seinen sicherlich bald eintretenden Hungertod) mündete der enge Gang in eine riesige, wassertriefende Felsenhalle, deren Wände und Decke sich irgendwo im Dämmerlicht fahler Leuchtalgen verloren. Überall wuchsen mannsdicke Stalagmiten in die Höhe, umrankt von farblosen schlingpflanzenartigen Gewächsen, die sowohl kriechend am Boden wucherten, als auch wie überlange verkochte Spaghettifäden von oben bis auf unsere Köpfe herabhingen. Unter unseren Füßen knirschte eine dicke Schicht aus Kalkbröseln, toten Kerbtieren und harten Pflanzenteilen. In vom Tropfwasser gebildeten Pfützen und Tümpeln wuchsen auch dicke Büschel langstieliger Pilze, die einen wenig vertrauenerweckenden Duft absonderten (was Germinator nicht davon abhielt, sie zu beschnüffeln, als genießbar zu bezeichnen und sich über sie herzumachen). Immer wieder kamen wir auch an dicken weißen Seilen vorbei, die aus einer gummiartigen Substanz bestanden und, wie es schien, Boden und Decke der Grotte verbanden. Irgendwie erinnerten sie mich an die Beschreibung, die ich einmal über Netze der Waldspinnenhexe gelesen hatte, mit dem Unterschied, dass dieses Material wohl auch gegen Nässe resistent war. Wir hielten zur Sicherheit Abstand und folgten dem Weg zwischen den Strängen hindurch abwärts bis zum Grund des unterirdischen Doms.

Und dort, wir sahen es, als wir hinter einem riesigen Stalagmiten hervortraten, erwartete uns ein majestätischer Anblick: wir standen am Ufer eines gigantischen schwarzen Sees. Und, es gab keinen Zweifel, diesen würden wir überqueren müssen. Ein Grunzen des Schweinsbarbaren riss uns aus der ehrfürchtigen Starre. Mit unnatürlich aufgequollenen und neongelb blinkenden Augäpfeln glotzte der Gute ins Dunkel. Offensichtlich erkannte er dort etwas, das wir nicht sehen konnten. Bevor Minus eine neue Energiepille an die Leuchtqualle verfüttern konnte, war unser „Mann fürs Grobe“ schon hinweggetaumelt. Endlich wurde die Lampe heller. Wir erkannten Germinator, der sich auf eine dicht am Ufer stehende Steinsäule zubewegte. An ihr lehnte ein unübersehbar großes Schild mit einem Pfeil und der Aufschrift: "Fremdlinge bitte diesen Knopf drücken !“

Mein Tratschwellenverstand sah für eine solche Situation nur eine einzige mögliche Reaktion vor: in Panik zu geraten.

Mit einem lauten: „Oh mein Gott, wir werden alle sterben !“ hechtete ich hinter den nächsten schützenden Felsblock. Meine Gefährten taten es mir, wohl aus Unsicherheit, nach. Und dann schrien vier Hutzen vor Schreck auf, als sie, von einem emporschnellenden Netz gefangen, in die Höhe gerissen wurden und irgendwo zwischen den von der Höhlendecke hängenden Stalaktiten verschwanden. Dabei hatte der Schweinsbarbar den Knopf auf der Säule noch überhaupt nicht berührt. Das tat er jetzt erst. Ein kräftiger Faustschlag rammte den Knopf samt Säule ungespitzt in den Boden. Irgendwo sehr hoch über uns wimmerten die eingeschnürten Hutzen vor Entsetzen. Einen Sturz aus dieser Höhe würde mit Sicherheit keine von ihnen überleben.

Dann sahen wir das Schiff, das über den See auf uns zusegelte. Und wir hörten das Lied...

„Siebzehn Mann auf des toten....“ „NEIN. NEIN. NEIN, ihr Idioten....“ „Tief unter der Erde, da ist....“ „NEEEIIIIIIIINNNN.... ihr lernt es nie....“ „Dreißig Mann sind mit auf dem Boot...“ „Na ENDLICH ! ENDLICH !!!“ „...sie lagen vor Madagaskar...“ „NNNNEEEEEIIIIIIIIIIIIIIIINNNNNNN !!!!! schluchzschluchzschluchz“.

Trotz der sicherlich todernsten Situation konnten wir uns ein Grinsen nicht verkneifen. Da schien ein Kapitän einige Probleme mit seiner Mannschaft zu haben. Obstip stupste mich an und deutete auf den Schweinsbarbaren, der inzwischen das Gepäck sowie alle seine Kleider von sich geworfen hatte und mit Schaum vor dem Mund zwischen den Tropfsteinen wilde Pirouetten drehte. Jaja, der Germinator. So kannten und liebten wir ihn.

Das Schiff näherte sich unterdessen dem Ufer. Es war eine beeindruckend aussehende Dreimastbark – leider war sie lediglich zwei Meter lang. Die Winselstimme, die wir gehört hatten, verfiel plötzlich in einen bellenden Kommandoton. „Alle Mann in die Wanten, ihr nixnutzigen Schwachköpfe“ klang es über Deck. „Ruder hart Backbord. Takelt den Klüver und rafft die Fock. Anlegemanöver vorbereiten, bei meinem klappernden Gebein !“ Das Schiff drehte schlingernd bei und krachte mit unsanftem Bums an ein kurzes hölzernes Pier, das ein Stück weiter rechts von uns ins Wasser ragte. Pfosten und splitternde Bretter flogen uns um die Ohren. Beim Versuch, eine Schlinge um einen Poller zu werfen, ging einer der seltsamen „Matrosen“ über Bord. Zwei weitere hüpften freiwillig hinterher, als der Kapitän des Schiffes wutschnaubend aufs Vorderdeck stürzte. Es war ein Zwergpirat.

Alles an ihm war grau. Grau waren die Haut, seine Piratenkluft, sein Dreispitz und tiefgrau war vor allem der lange verfilzte Bart, der ihm fast bis auf die grauen Stiefel herunterhing. Während sich seine im Wasser paddelnden Matrosenmännlein mühsam in Richtung Ufer bewegten, überblickte er die Lage und brach in das allerfieseste Zwergpiratenlachen aus, das ich seit heute morgen gehört hatte (als Minus der Große den Nattifftoffen beim Einsatz von dessen silbernem Geweihreinigungs-Set beobachtete).

„Heheheheheeeeee, bei allen Klabautergeistern und Haifischflossen, da sind mir ja endlich ein paar dumme Touristen in die Falle gegangen“ meckerte er und sprang wie Rumpelstilzchen auf den Planken herum. „Ich hatte schon geglaubt, ich müsste ewig auf meine persönlichen Sklaven warten.“

Solch dreiste Rede konnte der gesetzestreue Obstip auf den Tod nicht vertragen. Er trat kühn vor, baute sich drohend am Ufer auf und stemmte die Fäuste in die Seiten.

„Erstens, mein Herr“ begann er, „handelt es sich bei uns nicht um, wie sie es so vulgär ausdrücken „dumme Touristen“, sondern um durchaus „vielseitig begabte“ (wobei er einen schnellen Kontrollblick auf den Schweinsbarbaren warf, der sich gerade in einem Stalagmiten verbissen hatte) Schüler eines Elite-Institutes, nämlich der Nachtschule des Herrn Professor Doktor Nachtigaller aus den Finsterbergen, die sich auf einer friedlichen Expedition befinden und die laut „Gesetz über die Freiheit der Wissenschaft (GÜDFDW Band VIIIa §§ 58-91 und 131 ff.)“ von Privatpersonen in jeglicher Weise zu unterstützen und am Fortkommen nicht zu hindern sind. Sic est. Oder muss ich ihnen auch noch die dazugehörigen Paragraphen aus dem zamonischen Strafgesetzbuch (Band MCCXIIV §§ 433-582) zitieren, bevor Sie mir endlich Glauben schenken ? Zweitens, woher bitte maßen sie sich das Recht an, hier irgendwelche wie auch immer geartete Fallen zum Zwecke der Versklavung nichtsahnender Daseinsformen aufzustellen und diese gegen ihren Willen und den Willen ihrer Begleiter (das sind in diesem Falle wir) an unbekanntem Ort gewaltsam festzuhalten, was den Tatbestand der Freiheitsberaubung durchaus erfüllt ?!? Halten sie sich doch an ihre sicherlich nicht über eine gültige zamonische Arbeitserlaubnis sowie Lohnsteuerkarte verfügenden Matrosen, wenn sie unbedingt jemanden herumkommandieren wollen. In diesem Fall muss ich ihnen jedoch außerdem einen offensichtlichen Verstoß gegen das geltende Arbeitsrecht zur Last legen, wonach...“ Obstip hatte sich jetzt warmgeredet und begann, richtig in Fahrt zu kommen. Beinahe hätte er es auch geschafft, den grauen Kapitän mit seinen Litaneien in Tiefschlaf zu versetzen, doch dieser gerissene Fuchs hielt sich gewaltsam wach, indem er sich selbst mit seinen Häkchen zwei neue Löcher für Ringe in die Ohrläppchen bohrte – und das ohne jede Betäubung.

„SCHNAUZE, IKEA !!!!“ brüllte er Obstip ins Wort „es ist mir, bei Neptuns Bart, scheißegal, von welcher Penne ihr kommt. Das interessiert mich nicht die Bohne... Momemt mal. Nachtschule, sagtet ihr ? Nachtschule ??? Da war doch was...“ Für einige Sekunden machte der irre Glanz seiner Augen einer tiefen Trauer Platz und er flüsterte etwas, das so ähnlich wie „Magnolia, oh Magnolia“ klang, aber dann warf er den Kopf in den Nacken und schrie wie ein Wahnsinniger weiter. „Ich kenne keine Nachtschule, keinen Professor Gallenstein und keinen Zwergpiraten Mokko und ich will sie auch nicht kennen und ich habe sie nie gekannt. Ich bin ein Fels. Ich bin eine Insel. Die Hutzen gehören mir und ihr Heckenpisser dort solltet laufen was ihr könnt, zurück in eure Raucherecke, bevor ich euch zu Labskaus verarbeite ! Auf diesem See bestimme ich und keiner überquert ihn ohne meine Erlaubnis und ihr neugierigen schnüffelnasigen Fatzken schon gar nicht !“

Bevor der Nattifftoffe zu einer Erwiderung ansetzen konnte, sprang Minus vom Helm auf seine Schulter herab und flüsterte ihm etwas ins Ohr. Obstip knurrte Unverständliches und nickte dann langsam. Während der Zwergpirat über das Revers der Jacke bis zum Saum rutschte, sich dort abstieß und mit einem beeindruckenden dreifachen Salto durch die Luft segelte, um schließlich sicher auf seinen Stelzbeinchen zu landen, bewegte sich Obstip vorsichtig nach hinten und ließ dabei seine Ohren in Richtung der Decke kreisen. Offensichtlich bemühte er sich, die genaue Position der gefangenen Hutzen festzustellen. Mir selbst zitterten die Beine wie saure Sülze. Einen Augenblick lang dachte ich an die sicheren Räume der Nachtschule, an die Reserve, an Blarbara, MauMau und SabberJupp, die jetzt sicherlich in der gemütlichen Bibliothek saßen, RUMO spielten und dabei einen Eis-T tranken, und ich wünschte, sie wären hier gewesen – und ich dort. Stattdessen kauerte ich zusammen mit Linora hinter diesem verdammten Felsblock und versuchte, mir nichts Wichtiges entgehen zu lassen. Dies war eindeutig die Stunde der Helden.

Minus spannte die Muskeln, riss sein Hemd bis zum Nabel auf, zog lässig den Säbel und ließ ihn wie einen Wirbelwind am linken Häkchen kreisen, während er mit rechts eine Rolle Knaster aus der Brusttasche zog, ein Stück abbiss, kurz kaute und dann zwischen den Vorderzähnen hindurch einen dampfenden Kautabakstrahl genau vor die Füße des grauen Kapitäns spuckte, was diesem erst einmal gehörig die Sprache verschlug. Dann meinte er lässig: „Das wollen wir doch erst mal sehen, wer hier der Boss ist, bei allen Harpunen des Tyrex ! Komm her, Süßwassermatrose, und hol dir deine Abreibung. Ich fordere dich hiermit nach Piratenzucht und Sitte zum Duell. Wer verliert, pariert. Und das werde mit Sicherheit nicht ich sein, so wahr ich Minus der Große Schlachtschiffbezwinger heiße, du Herr der Sieben Planschbecken !“

Damit waren die Karten gemischt und der Zweikampf begann.

Der Zwergpiraten-Opa stieß ein schauriges Wutgeheul aus, ergriff ein herabhängendes Tau, klemmte sich ein paar Belegnägel unter den Arm und rutschte mit einer Behendigkeit, die man dem ergrauten Wicht niemals zugetraut hätte, zur beschädigten Mole herunter. Seine drei triefnassen Matrosen, die ihm dort entgegenkamen, stürzten sich mit Entsetzensschreien erneut ins Wasser, um ihm nicht in den Weg zu geraten.

Nun begann ein höllisches Katz-und-Maus-Spiel. Minus war zwar jünger und kräftiger, diesen Nachteil machte der Kapitän jedoch durch seine längere „Praxiserfahrung“ wieder wett. Immer wieder versuchte er, Minus mit geschleuderten Belegnägeln am Kopf zu treffen, was dieser jedoch durch gezieltes Abfangen mit Entermessern, die er aus allen möglichen Falten seiner Bekleidung zog, zu verhindern wusste. Als die Wurfgeschosse aufgebraucht waren, gingen beide wie selbstverständlich zum Nahkampf mit den schweren Piratensäbeln über. Pardon wurde hier wahrlich nicht gegeben und beim Klirren und Sirren der Angriffe und Paraden schien es oft, als seien hier nicht zwei, sondern ein Dutzend Kämpfer am Werk. Die Duellanten jagten sich gegenseitig zuerst am Ufer entlang, dann die Strickleiter hinauf aufs Schiff und quer über die Decks; ja sogar in der Takelage wurde gnadenlos weiter gefochten. Dabei ärgerten sie sich gegenseitig auch noch mit frechen Sprüchen. Rief etwa der graue Kapitän: „Ich werde dich häuten wie eine Zwiebel“, entgegnete Minus schlagfertig: „Wieso denn, dir steht doch jetzt schon das Wasser in den Augen.“ Die Schiffsmannschaft, insgesamt fünf schwarzbeschopfte Gesellen, die ihren Kapitän um das Dreifache überragten, hatte es sich inzwischen auf den Rahen bequem gemacht und verfolgte mit unruhigem Murmeln den Kampf.

Inzwischen war hinter uns Obstip zur Rettung der Hutzen geeilt. Da sich das Ganze zum Großteil in schwindelerregender, kaum beobachtbarer Höhe abspielte, lasse ich ihn hier am besten selbst zu Wort kommen:

Obstips Rettungsbericht:
„Da ich zu diesem Zeitpunkt nicht mit Sicherheit sagen konnte, wer wohl die Falle mit dem Netz gestellt hatte, musste ich davon ausgehen, dass solche Fanginstrumente in der gesamte Höhle auf Beute lauerten. Aus dem charakteristischen Geräusch, welches meine scharfen Nattifftoffenohren beim Hochschnellen der Hutzen vernommen hatten, schloss ich jedoch, dass die Falle mit den seltsamen Seilen, die wir überall gesehen hatten, zusammenhing. Eine rasche Untersuchung ergab, dass die taudicken Fäden tatsächlich äußerst elastisch waren, jedoch nicht klebrig, wie man es von Spinnenseilen normalerweise erwartete. Ich musste auf der Hut sein – eines oder mehrere insektenartige Wesen (die Tiefe bringt so manches zu Stande, ihrer Fauna ist alles zuzutrauen) schienen hier zu jagen. Ich hoffte, dass Minus noch etwas von dem Zwergpiratenkäpt‘n übrig lassen würde: wenn jemand Informationen hatte, dann der... doch für solche Überlegungen war jetzt keine Zeit mehr, die Hutzen mussten gerettet werden, bevor sie zu einem schmackhaften, wenn auch im Abgang etwas haarigen Mittagessen verarbeitet werden würden (worst case). Plötzlich vernahm ich ein gemeines Knirschen unter meinen Füßen. Mit einer mich selbst erstaunenden Reaktionsgeschwindigkeit zog ich meinen Stockdegen, kappte das Spinnenseil, neben dem ich stand, knapp über dem Boden und hielt mich am unteren Ende fest, welches sogleich in die Höhe schnellte und mich mit hinaufkatapultierte. Das also war der Trick dachte ich noch im Emporfliegen, die ganzen Seile waren in Wirklichkeit Netzfallen ! Nun gut, dieser unmittelbaren Gefahr war ich erst einmal entgangen. Außerdem befand ich mich nun sehr hoch oben - und (gelobt sei das Glück des Tüchtigen) gar nicht weit von dem Netz mit den Hutzen entfernt. Ich schwang mich hinüber und sah mir die Lage aus der Nähe an. Die Hutzen hatten sich mittlerweile etwas an ihre Lage gewöhnt und drohten, angesichts des spannenden Kampfes, der auf dem Schiff unter ihnen tobte, in wilden Aktionismus zu verfallen: sie kreischten im Chor und versuchten, unseren Zwergpiraten zu noch größerem Bravado anzutreiben. Ich bemühte mich derweil, sie zu beruhigen und überlegte fieberhaft, wie ich es hinbekommen konnte, das Netz wohlbehalten nach unten zu befördern. Doch in diesem Moment hatte Zwarn es geschafft ihren Kampfdudelsack bereitzumachen und sie fing an, ein Lied zur Anfeuerung von Minus zu spielen, bei dessen Klang die Stalaktiten bedenklich zu zittern begannen.

Mit Entsetzen hörte ich, wie sich dünne Erschütterungen in der jahrhundertealten Luft der Kaverne von jenseits des Sees in unsere Richtung bewegen, als wenn mehrere riesige achtbeinige Untiere sich von Seil zu Seil hangelten. Zwarn hat die Urheber der Netze alarmiert... gleichzeitig jedoch spürte ich, wie die Seile sich verhärten und immer unelastischer wurden. Die Schallwellen des Dudelsacks mussten dies in irgendeiner Weise bewirkt haben: die Erhärtung des Netzfadens war wohl eine Art Reaktion auf laute Geräusche und sollte dafür sorgen, dass gefangene, aus Leibeskräften schreiende Opfer nicht mehr umherzappeln konnten. Dank der Kaltblütigkeit der Hutzen war es erst so spät zur Aushärtung gekommen. Ich schaffte es daher gerade noch, das Netz mit vorsichtigem Einsatz des Stockdegens aufzuschneiden; so dass eine Öffnung entstand, durch die die Hutzen ihr Gefängnis verlassen konnten. Mit vereinten Kräften brachten wir das nun steinharte Gebilde zum Hin- und Herpendeln und schließlich erwischte Kulla mit ihrem Paddel das nächstgelegene Seil, welches noch eine Verbindung zum Boden besaß. Nach einer kurzen Sicherheitsbelehrung waren die Hutzen in der Lage, eine nach der anderen am Seil nach unten zu rutschen. Doch gerade als ich, als letzter, den Weg nach unten einschlagen wollte, hatte das erste krabbelnde Scheusal das Seil erreicht und sich einige Meter unter mir daran festgeklammert. Zum Glück waren die Hutzen bereits auf dem Boden der Grotte angelangt und eilten zum Schiff, wo Minus und der Kapitän sich gerade gegenseitig unter und über der „Planke“ zu erwischen suchten. Ich jedoch hing hier genau über dem Rachen einer gigantischen Wollspinne... ein schauderhafter Anblick ! Mir blieben nur zwei Möglichkeiten: der Kampf oder aber die Aufnahme diplomatischer Verhandlungen. Ich entschied mich - ganz Toffe - für den letzteren Weg und schleuderte dem Untier meine stets mit mir geführte Ausgaben von "Diplomatie auf nattiffhöchstem Niveau" und „ Erinnerungen an die zamonischen Erbfolgerempeleien und ihre Folgen (verfasst vom damaligen Adjutanten des Ratsvorsitzenden des atlantischen Magistrats)“ entgegen, um wenigstens eine faire Chancengleichheit bei den nun folgenden Verhandlungen zu garantieren (Grundsatz Nr. 423 des „Handlungsleitfadens zur Beilegung von Konflikten auf diplomatischem Wege“, Gralsund 1822: "Diskutieren Sie niemals mit jemandem, der sich unterhalb Ihres eigenen rhetorischen Niveaus befindet, sondern verwenden Sie lieber gleich schlagkräftige Argumente wie in den Grundsätzen 312-394 beschrieben"). Das wirkte. Von der Härte dieser Fakten förmlich erschlagen, verlor der Spinnenleib den Halt und stürzte in die Tiefe, wo er mit einem satten PLATSCH aufklatschte. Dies gab mir die Gelegenheit, das Spinnenseil ebenfalls zu nutzen, um zurück zum Erdboden zu gelangen und meinen Kameraden hilfreich zur Seite zu stehen.

Ende von Obstips Bericht

Das Jubelgeschrei der zurückkehrenden Hutzen veranlasste inzwischen Minus dazu „endlich mit den Spielchen aufzuhören und richtig zur Sache zu gehen“ wie er es ausdrückte. Er schien doppelt so groß zu werden, als er mit gewaltigen Sprüngen um den bereits keuchenden Piratenkapitän herumhüpfte und ihn mit der flachen Seite der Klinge so gehörig durchklopfte, dass grauer Staub in Wolken davonflog. Dies veranlasste die fünf Schiffsmatrosen wiederum dazu, bis ans äußerste Ende der Rahe zu kriechen, um das Geschehen besser verfolgen zu können. Durch die Gewichtsverlagerung krängte der Segler jedoch unvermittelt nach Steuerbord, so dass die vom Pech verfolgten Wichte abrutschten und erneut ein unfreiwilliges Bad im schwarzen See nahmen. Der inzwischen nicht mehr ganz so graue Pirat war an die Bordwand getaumelt und rang nach Luft. In dem Moment, als seine Mannschaft sich ins Wasser begab, richtete sich die Bark wieder gerade und der alte Zausel, der das Gleichgewicht nicht halten konnte, rumpelte gegen den Mastbaum und sackte dort theatralisch in sich zusammen. Minus, besser und gewandter zu Fuß, behielt die volle Kontrolle über sich, stellte ein Holzbeinchen auf das rechte Häkchen seines Gegners und warf sich stolz in Siegerpose. „Du verlierst, du parierst“ deklamierte er und der ehemals graue Kapitän antwortete keuchend, nach Piratenzucht und Sitte: „Ich verliere, ich pariere.“

Wie zur Bekräftigung verkündeten laute Erbrechensgeräusche im Dunkel der Höhle, dass bei unserem Schweinsbarbaren eine neue Wirkstufe des Höhlenpilzes eingesetzt hatte.

Linora und ich kamen aus unserem Versteck hervor und sprinteten, die wolligen Jäger an der Decke mehr vermutend als erkennend, so schnell wir konnten zum Schiff. Dort klopften wir Minus, der sich schon mit breitem Grinsen als Held feiern ließ, anerkennend auf die Schulter und ich drückte dem Nattifftoffen, der sich bescheiden im Hintergrund hielt, so fest ich konnte die Hand. Ich mag es, wenn jemand das, was er verspricht, wie selbstverständlich hält und kein Aufhebens darum macht.

Die Schlechte Idee kümmerte sich inzwischen um den halb bewusstlosen Kapitän. Während sie ihn hochpäppelte, drängten sich die fünf tropfnassen Matrosen heran und beobachteten die Szene mit verkniffenen Gesichtern. Schließlich öffnete der nun wieder fast normal aussehende Zwergpirat die Augen und schaute uns an. Der Wahnsinn war aus seinem Blick gewichen.

„Die ‚Zuckerhase‘ samt Kapitän und Mannschaft steht zu eurer Verfügung, Nachtschüler,“ krächzte er. „Wie geht es dem Professor ? Lebt der alte Ziegenbock überhaupt noch ?“

„Wir würden ihre Fragen gern beantworten, mein Herr, ich gebe jedoch zu bedenken, dass an der Decke über uns ein Bataillon angriffslustiger Wollspinnen lauert, deren Anwesenheit mir ein gewisses Unbehagen bereitet.“ entgegnete Obstip.

„Kein Problem“ erwiderte der alte Pirat. „Meine etwas beschränkten Helfer werden die Sache gleich entschärfen. Querro! Quarro! Zippo! Aggro! Fezzo! Jagt die Spinnen weg. Sagt ihnen, die Touristen sind unsere Gäste und werden nicht, ich wiederhole: NICHT angeknabbert.“ Er erhob sich. „Erdmännchen, und dann auch noch Trumpe“ murmelte er vor sich hin, „Was habe ich verbrochen, dass ich mit einer solchen Mannschaft geschlagen bin?“

Aus dem „Lexikon der erklärungsbedürftigen Wunder, Daseinsformen und Phänomene Zamoniens und Umgebung“ von Prof. Dr. Abdul Nachtigaller
Erdmännchen, die: Kleinwüchsige, erdbewohnende Spezies aus der Familie der Höhlengnome (möglicherweise verwandt mit den Bergzwergen und den Venedigermännlein). Erdmännchen werden ca. 20 Zentimeter groß, sind meist von kindlichem Gemüt und leben scheu und zurückgezogen als nomadisierende Stammesgemeinschaften in Erdtunneln unter allen Kontinenten. Es gibt fünf Stämme, die in der Regel ganz unter sich bleiben: Wirsche, Wolde, Gilche, Trumpe und Murke. Beherrscht werden sie von einem gemeinsamen König, der „Kaweh“ genannt wird. Angeblich existiert auch eine geheime „Erdmännchenfestung“, wo sich diese Kreaturen einmal jährlich treffen, um gewisse Rituale durchzuführen und gemeinsam ein großes Festmahl einzunehmen.

Während die fünf Helferchen hurtig die Wände erklommen und im Dunkel des Stalaktitenwaldes verschwanden (wo man nur noch ihr aufgeregtes Schnattern vernahm), fand unser „Gastgeber“ sogar seine Manieren wieder. „Mein Name ist Grünbart“ stellte er sich vor und machte eine formvollendete Verbeugung vor den Hutzen, was ihm Minus‘ missbilligenden Blick einbrachte. „Obwohl mein Bart doch inzwischen recht grau ist und ich mich auch einmal Graubart nannte, wollen wir doch bei meinem alten Namen bleiben. Ich war wirklich vor langer Zeit selbst Nachtschüler, bis mich Frustration und der Hass auf alle anderen Daseinsformen hier in die Tiefe der Tunnels trieben. Vor zwei Jahren traf ich dann diese umherirrenden Erdmännchen (sie bezeichnen sich selbst als Flüchtlinge) und wir begannen, mit Hilfe der Spinnen hier am See ein Schiff zu bauen. Sie ist doch prächtig, nicht wahr, meine „Zuckerhase“ ? Die Planken bestehen aus getrockneten Pilzbrettern und alles Tauwerk und die Segel aus Spinnenseide. Und segeln tut sie wie ein Schwan.“ Stolz zeigte Grünbart noch einmal auf sein Werk. „Also denn. Wenn meine doofen Hilfsmatrosen zurück sind und ihr euren Schweinsbarbaren wieder eingefangen habt, kann ich euch ans andere Seeufer bringen.“

Kulla warf einen widerwilligen Blick auf unseren immer noch ziellos herumtaumelnden Träger. „Es reicht mir jetzt,“ knurrte sie und entblößte dabei scharfgeschliffene Zähne. „Schaut mal her und lernt, wie man so was richtig flott erledigt !“ Sie stapfte in Germinators Nähe, riss mit voller Absicht an einer dort hängenden Falle und ließ sich fangen, wobei sie schon im Flug das Netz so gründlich in Fetzen zerkaute, dass sie schließlich frei unter der Decke hing. Warum tat sie das ? Und dann... unglaublich... ließ sie sich mit lautem „Banzai“-Ruf einfach herunterfallen.

„Das geht doch nicht. Das überlebt selbst eine Berghutze nicht“ war mein einziger Gedanke. Die anderen Hutzen kischerten. Sie ahnten, was jetzt passieren würde.

Vom Kampfschrei der Hutze alarmiert, sah der Schweinsbarbar nach oben, sah Kulla auf sich niederstürzen. Seinen entsetzten Blick werde ich nie vergessen. Angst lähmte seine Gliedmaßen und er schien sich auf sein nahes Ende vorzubereiten. So funktionierte Kullas „Ausnüchterung mit der Holzhammermethode“. Hätte Germinator allerdings seinen Helm noch aufgehabt, es wäre für die Hutze nicht so glimpflich abgegangen. So aber landete Kulla, zu einer Kugel zusammengerollt, mit voller Wucht auf der dicken Speckschwarte wie auf einem Gummisack (was die letzten Reste der Pilzmahlzeit durch sämtliche Schweinsbarbarenöffnungen nach draußen trieb) prallte ein paarmal auf den Boden und richtete sich schließlich mit lautem „Ta-Daaaah“ und erhobenen Armen auf wie eine Trapezkünstlerin, die gerade die Dreifachschraube ohne Netz geschafft hat.

Nun konnten wir Germinator gefahrlos zum Ufer rollen und (mit Rücksicht auf seine Dreckkruste) mit ein paar Wasserspritzern wieder zu Bewusstsein bringen. Einige Nachwirkungen, die zu einem exzessiven Hormonausstoß geführt hatten, waren jedoch nicht so leicht zu beseitigen, so dass phellpe verschämt die Hände vor die Augen schlug (jedoch immer wieder verstohlen durch die Finger linste). Jedenfalls gelang es dem Schweinsbarbaren nur mit Gewalt, seine Lederhosen wieder anzulegen und er klagte noch Tage später über einen mörderischen Muskelkater in seinen „Swänsen“, das heißt, im vorderen und im hinteren.

Schließlich waren Mannschaft, Gepäck und Passagiere einträchtig am Seeufer versammelt. Nur - wie wollte der hilfsbereite Grünbart all das transportieren ? Wir bewunderten die Rumpfkonstruktion seines Seglers, aber, so stabil sie auch wirkte, sie bot ja kaum genügend Platz für einen von uns (außer natürlich für Minus), geschweige denn für die Ausrüstung. Obstips oder Germinators Gewicht würde das schöne Schiff mit Sicherheit auf den Grund des Sees schicken, befürchteten wir offen. Grünbart grinste uns jedoch, als er dies hörte, verschmitzt an, griff in die Tasche und brachte einige Wurzelstücke zum Vorschein, die er an alle „Großen“ verteilte, wobei er uns bat, sie erst dann in den Mund zu stecken, wenn wir uns das Gepäck aufgeladen hätten. Auf unsere Frage, was zum Geier das denn für ein Zeugs sei, meinte er mit schelmischem Augenzwinkern: „Raxel. Aber nur leihweise.“

Aus dem „Lexikon der erklärungsbedürftigen Wunder, Daseinsformen und Phänomene Zamoniens und Umgebung“ von Prof. Dr. Abdul Nachtigaller
Raxel, das: Wurzel der äußerst seltenen Schrumpfwurz (Ragula Pixiliaris), die nur in abgelegenen Höhlensystemen unter Zuckerwüsten gedeiht. Leicht süßlich schmeckend und von gummiartiger Konsistenz hat dieses Pflanzenteil etliche besondere Eigenschaften: Erstens kann man es fast unendlich lange im Mund behalten, jedoch nie ungewollt verschlucken, da es den Schluckreflex außer Kraft setzt. Zweitens schaltet es das Hungergefühl ab, verlangsamt die Verdauung und versorgt den Körper gleichzeitig mit allen lebensnotwendigen Stoffen, so dass man problemlos wochenlang ohne feste Nahrung auskommen kann. Die dritte und wichtigste Eigenschaft ist jedoch, dass ein Stück Raxel durch Ausschüttung eines bisher nicht analysierbaren Enzyms den Körper des Kauenden, sowie alles von ihm getragene Material auf 15% seiner Ursprungsgröße verkleinert. Dieser Effekt verschwindet auf der Stelle, sobald das Raxel durch Ausspucken oder Ausscheidung wieder aus dem Körper entfernt wird.

Ich fertigte eine Kopie meiner aktuellen Höhlenkarte an und drückte sie Linora in die Hand. Sie sollte die Unterlagen und Nachricht von unseren Abenteuern in die Nachtschule tragen, sich dort etwas entspannen und dann zu uns zurückkehren. Auch sollte die Besatzung des Hauptquartiers versuchen, in den Büchern der Bibliothek weitere Informationen über den unterirdischen See und die möglicherweise dahinter lauernden Gefahren zu sammeln. Vor allem SabberJupp, das spürte ich, war sicherlich fast nicht mehr zu bremsen. Ich konnte nur hoffen, dass er uns nicht auf eigene Faust nachkam oder, schlimmer noch, einen „Bericht über SabberJupps megastarke Abenteuer und seine heroische Rettung der inkompetenten Nachtschulexpeditionäre“ verbreitete. So etwas war ihm durchaus zuzutrauen. O weh, diese Kopfschmerzen...

Als Linora nach vielem Winken und Knuddeln mit flinkem Schritt zwischen den Stalagmiten verschwunden war, steckten wir die Raxel in den Mund und begannen vorsichtig darauf herumzukauen. Und siehe da - es wirkte. Innerhalb eines Wimpernschlages sahen wir uns drastisch verkleinert. Minus und Grünbart reichten mir nun bis über die Knie, das Schiff schien zu beeindruckender Größe zu wachsen und auch die Erdmännchen waren jetzt beinahe mit mir auf Augenhöhe. So bestiegen wir die „Zuckerhase“, verstauten die Ausrüstung unter Deck und legten ab, wobei wieder zwei Trumpe ins Wasser plumpsten und gerettet werden mussten. „Sie lernen es nie“ jammerte der Kapitän und vergrub resignierend das Gesicht zwischen den Häkchen.

Die Fahrt verlief zunächst ruhig und sehr angenehm. Obstip und phellpe führten, begleitet von Zwarns Dudelsackklängen, Grünbarts Lieblingstanzlied von den „30 Mann auf dem Boot“ auf, das wir damals aus den Tiefen der Höhle hatten klingen hören. Den Refrain sangen wir alle zusammen und es schwang so viel wilde Frische darin, dass Grünbart mit Tränen in den Augen ein volles Fass herausrollte und uns alle zur Verkostung seines „Selbstgebrannten“ einlud. Da vergaß sogar Minus, der bisher eifersüchtig über „seine Hutzen“ gewacht hatte, die Zurückhaltung und ließ sich den Humpen bis zum Rand füllen. Den nachfolgenden Armdrück-Wettbewerb mit Amanda verlor er zwar, aber er führte dies auf den „unfairen Vorteil“ zurück, den die Hutze durch ihre Verkleinerung erlangt habe und beharrte auf einer späteren Revanche. Im Anschluss erfreuten uns die Erdmännchen Querro und Quarro mit einer Klimmzug-Vorführung, bei der sie sich immer wieder mit dem Ruf „Ich hab mehr Kwaft als du“ gegenseitig anheizten. Wir Männer sprachen derweil dem Rhumm gut zu und so kam es, dass wir einer nach dem anderen unter den Tisch sanken und zu schnarchen begannen. Alle... bis auf die Hutzen, und darum wird nun Amanda berichten, was während unseres Rhumm-Rausches geschah.

Bericht der Berghutze Amanda:
Was ein Scheiß, jetzt soll ich hier auch noch aufschreiben, wie wir das Nachtschulmonster allein alle gemacht haben, nur weil die Kerls wieder gesoffen haben wie die Löcher, ach fickt euch doch. Also die Schwanzlurche hatten sich unter den Tisch gesoffen mit Rhumm und waren sternhagelvoll, nur die hibbeligen Erdmännchen haben nix intus gehabt und sind gesegelt (aber auch nicht immer geradeaus). Da denk ich mit einmal: Warum schaukelt denn das Schiff so, es ist doch gar kein starker Wind. Und die phellpe, die Jammerhutze, wimmert gleich: „Huch herrjeh, ich werde seekrank.“ Und dann seh ich, wie hinter uns was Riesiges, Tentakeliges geschwommen kommt und das ist fast so groß wie das Schiff. Ha, die Männer waren ja zu nix mehr zu gebrauchen, das sind sie eh nie, verdammte Kacke. Und die Erdmännchen, als sie das Vieh gesichtet haben, sind wie der Blitz unter Deck verschwunden und haben sich in die Hosen geschissen vor Angst. Waffen ? Wozu braucht unsereins Waffen ? Wir Hutzen sind Waffen. Die allergefährlichsten, auch wenn man das nicht meint, wenn man die phellpe sieht, die Kraulhutze. Die hat sich natürlich gleich hinter Zwarns Sack versteckt, dem Dudelsack natürlich, und hat ausgesehen, als ob sie gleich flennen wollte. Die Kulla, was ein ganz gemeines Biest ist mit ihren angespitzten Zähnen, stupst die Zwarn in die Seite und sagt: „Die ersten fünf Tentakel gehören mir“ und die Zwarn antwortet: „Ist mir ganz recht, geht ihr beide nur vor, ich erledige den Rest und schnipple die Tentakel, die ihr abrupft, schon mal für die Kalamares klein.“ Und dann ist das Vieh schon fast über dem Schiff.

Die Kulla und ich springen wie die Wilden auf das riesengroße Ding drauf, aber das schockt uns gar nicht, weil wir ja Hutzen sind und Hutzen haben vor nix Angst, zumindest die meisten. Die phellpe kriegt jetzt auch Mut, fährt ihre langen scharfgefeilten Fingernägel aus und sticht wie besengt auf ein paar Saugnäpfe ein, die ihre Schleifchen mit Schleim bekleckert haben. Das mag das Vieh gar nicht und es haut der phellpe einen Tentakel um die Ohren, so dass die über Bord fliegt. Dabei kriegt die natürlich Wasser in den Mund, spuckt es aus und... dabei spuckt sie das Raxel mit aus. Sie selbst wird wieder groß und im Laderaum des Schiffes knirscht es gewaltig, weil ihr Rucksack auch wieder groß wird. Aber sie geht nicht unter. Nicht sehr, meine ich, weil das Wasser gar nicht tief ist. Wirklich, das Wasser von dem See war nur einen halben Meter tief. Überall. Wir hätten einfach durchwaten können. Und das Nachtschulmonster, das uns so riesig vorgekommen war, war in Wirklichkeit nur ein wenig größer als wir. Jetzt ging’s ab. Die phellpe hat dem Vieh die Tentakel zu Schleifchen gebunden, wie sie ihr vor die Finger kamen. Die Kulla und ich haben geboxt, gebissen und gekratzt wo wir nur konnten. Und die Zwarn hat uns von hinten mit „Ja, das macht ihr sehr gut“ - Rufen angefeuert. Leider konnte ich mein Raxel nicht auch rausnehmen, denn dann wäre durch meinen riesigen Rucksack wohl der Laderaum der „Zuckerhase“ geplatzt. Aber wir haben das auch so geschafft, unserer geballten Power hat das Vieh nichts entgegenzusetzen gehabt und schließlich hat die Kulla ihr Paddel gegriffen und den Stiel bis zum Anschlag in seinen Körper gerammt und dann war es endgültig am Arsch. Die phellpe hat sogar noch ihr Raxel wiedergefunden, das schwamm auf dem Wasser, und ruck-zuck war sie mitsamt ihrem Zeugs wieder klein.
Und das war das Schönste – der Anblick von den Kerlen, wie sie am nächsten Morgen aufgewacht sind und das tote Biest gesehen haben und die Kinnladen sind ihnen bis auf die Brust runtergefallen, ach fickt euch doch.

Ende von Amandas Bericht
Andray DuFranck
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Re: Expedition in die Tiefen der Nachtschule

Beitrag von Andray DuFranck »

EXPEDITIONSTAGEBUCH
„Reise in die Tiefen der Nachtschule bis zur Mitte Zamoniens“

6. Tag

Als ich am nächsten Morgen erwachte, fühlte ich mich wie nach einem Tsunami. Zwergpiraten-Rhumm ist ja generell nicht von schlechten Eltern, aber Grünbarts „Selbstgebrannter“ hatte bei mir eine nicht unerhebliche Wasserverschmutzung ausgelöst. Mühsam schwappte ich auf Deck herum, suchte die Gelatine und war kurz davor, mich aufbrühen und durch einen Filter mit K-Fee laufen zu lassen. Warum nur, so bereute ich schon, hatte ich mich selbst zum Leiter einer solch hirnverbrannten Expedition gemacht ?

Natürlich waren die übrigen Nachtschüler längst alle auf den Beinen und hatten bereits das Gepäck ausgeladen, denn wir waren unter Grünbarts Kommando (der Kapitän war als allererster wieder nüchtern geworden) bereits vor einer halben Stunde am anderen Seeufer angekommen. Minus hatte jedoch darauf bestanden, sich von der gutmütigen phellpe noch einmal zum Nachtschulmonster zurücktragen zu lassen, „um zu kontrollieren, ob die Bestie wirklich hin ist, bei allen sieben Seeteufeln.“ Man könne sich auf die Beobachtungen von Hutzen nicht immer verlassen, meinte er, wahrscheinlich sei das Vieh nur scheintot und würde uns nach einigen Stunden der Regeneration weiterverfolgen. Und tatsächlich, so erzählte phellpe später, habe er an Ort und Stelle seinen Piratensäbel in das Nachtschulmonster gestoßen, danach erklärt, er habe den genau an dieser Stelle liegenden zentralen Nervenknoten erwischt und erst jetzt bestehe endgültig keine Gefahr mehr. Auf phellpes Schulter sitzend und laut: „Ich bin der Sieger, ich bin der Bezwinger aller Monster aus der Tiefe“ krähend, kehrte er zu uns zurück.

Während die Expeditionsmitglieder bereits ihre Raxel zurückgegeben hatten und dabei waren, am Strand ein stärkendes Frühstück einzunehmen, begab ich mich mit Grünbart in die Kapitänskajüte, denn er hatte sich angeboten, einen Blick auf unser Kartenmaterial zu werfen. Als erstes fiel mir die schöne Urkunde mit der Aufschrift „Nachtitur“ an der Wand auf. Grünbart wurde etwas verlegen und ich beeilte mich, ihm zu versichern, dass er, wenn er es in seiner Grotte nicht mehr aushalte, in der Nachtschule ein stets gern gesehener Gast sei. Der Kapitän dankte, meinte aber, das könne noch etwas dauern, er wolle erst einmal einen Zugang zum Fluss „Finsterwasser“ finden und die Seefestigkeit der „Zuckerhase“ erproben. Nach diesem Törn könne man ja weitersehen. Dann rollte er auf dem kleinen Schreibtisch meine Finsterbergkarte aus und studierte sie stirnrunzelnd.

„Ihr wisst, dass ihr euch in Stollentroll-Gebiet begebt ?“ fragte er mit einem vorsichtigen Unterton in der Stimme. „Und der Pfad, der hier als ‚sicher‘ eingetragen ist, scheint mir das ganz und gar nicht zu sein. Passt auf, die Kerle sind zu allem fähig. Wählt im Zweifelsfall den Weg, der weniger nach altem Schweiß riecht. Und lasst euch von ihren Versprechungen nicht täuschen. Traut niemals, niemals einem Stollentroll, selbst, wenn er Geschenke bringt.“ Damit sagte er mir nichts Neues. Ich war, ehrlich gesagt, etwas enttäuscht, denn ich hatte mir genauere Informationen erwartet. Stollentrolle, damit kannte ich mich aus. Die Nachtschul-Stollentrolle wie SabberJupp, Trollocain und Ohjann gaben sich zwar nach außen hin trollisch, waren aber im Innersten liebenswerte Wesen. Warum sollte es hier unten anders sein ? So rollte ich die Karten wieder ein und ging hinaus. Der Zwergpiratenkapitän schaute mir mit zweifelndem Blick hinterher.

Der Abschied war kurz und schmerzlos. Während Grünbart seine Erdmännchen-Matrosen mit wilden Seemannsflüchen wieder in die Wanten trieb (und Germinator zum Abschied einen donnernden sauren Furz abließ, der das Schiff mindestens zehn Meter weit hinaus in den See pustete), nahmen wir unser Gepäck auf und folgten dem Gang aus der Höhle hinaus, erneut in die Tiefe. Ich stand inzwischen wieder sicher auf meinen Gelatinebeinen und auch mein Raxel war zurück in Grünbarts Besitz übergegangen. Fast ganz... denn ein kleines Stück hatte ich mir, als er nicht hinschaute, mit dem Taschenmesser abgeschnitten und als Probe in einem Sammelbehälter verwahrt. Eine solche Pflanze war es wert, zu späterer Zeit in der Sicherheit eines Labors genauer studiert zu werden. Vielleicht konnte sie helfen, unvorhersehbare zamonische Wohnraum- und Ernährungsprobleme zu lösen.

Der Gang, durch den wir uns nun bewegten, war wesentlich roher und urwüchsiger als der Tunnel vom Nachtschulkeller zum See. Auch hier trafen wir wieder Leuchtquallen in großer Zahl an, sowie schleimige Finsterbergschnecken, die ein leichtes Opfer für Germinators Appetit waren. Ein paarmal begegneten wir Wollspinnen, aber die Ungeheuer wichen uns aus und waren offensichtlich bedacht, Abstand zu wahren. So näherten wir uns nach zweistündigem Marsch einer auf meiner Karte verzeichneten Tunnelgabelung. Schon von weitem klang uns jedoch ein schrilles, unmelodisches Pfeifen entgegen, begleitet von lauten Hammerschlägen.

Ich wies Germinator und Minus an, unseren Rücken zu sichern, damit uns kein überraschender Dolchstoß zwischen die Schulterblätter ereilen konnte. Begleitet von Obstip und den Hutzen legte ich die letzten Meter bis zur Gabelung zurück. Wie erwartet, befand sich dort ein Stollentroll. Wir konnten ihn riechen, bevor wir ihn sahen.

Der Stollentroll, angetan mit verschwitztem Shirt und einer schmutzigblauen Latzhose, stand auf einem Hocker und nagelte mit sichtbarer Freude und einem dicken Bergmannshammer große pfeilförmige Schilder an die Tunnelwände. Die nach links, in einen bergauf führenden Korridor zeigenden Tafeln trugen die Aufschrift: „Dahin, wo du hin willst“. Alle anderen, die nach rechts in einen abfallenden Pfad wiesen, schrien uns ein „Zum sicheren Tod“ entgegen. Nun war guter Rat teuer.

Der Stollentroll hüpfte von seiner improvisierten Leiter, vertrat uns den Weg und smirkte. „Zollkontrolle, Zollkontrolle“ plärrte er, „ich bin ein getarnter Zollinspekteur. Es tut mir aufrichtig leid, aber ich muss ihr gesamtes Gepäck durchsuchen. Haben sie Wertsachen, Waffen, Esswaren, hübsche Frauenspersonen bei sich ? Bitte alles hier abliefern, Mitnahme ist nicht gestattet. Kähähähä.“ Na, das war ja ein starkes Stück. „Und wenn wir uns weigern sollten ?“ fragte ich herausfordernd. Der Troll grinste mit gespielter Trauer und schnippte mit den Fingern. Irgendwo hinter uns krachte etwas schweres Metallisches von der Decke und ich war mir plötzlich sicher, dass es kein Zurück mehr gab. „Ihr solltet den Wunsch der Stollentroll-Mafia respektieren und euch unsere Freundschaft erkaufen, so lange ihr noch könnt,“ meinte der Schattenparasit nun gefährlich lauernd. „Dies ist ein Angebot, das ihr nicht ablehnen könnt. Seid mir nicht böse, ich kann halt nicht anders, denn in Wirklichkeit bin ich ein verkleideter Mafioso, huhä.“

In diesem Moment stürzten mindestens zwei Dutzend mit Spießen bewaffnete Stollentrolle aus verborgenen Alkoven in Höhlenwand und –decke hervor. Wie der Blitz hatten sie uns eingekreist und pieksten in Richtung unserer Beine. Die Hutzen gingen sofort in Kampfstellung und Zwarn trat einem Troll, der ihren Dudelsack zu perforieren versuchte, so heftig in die Klöten, dass dessen Trollfreundin mit Sicherheit in der nächsten Zeit keine Freude mehr an ihm haben würde. Die Situation drohte zu eskalieren, aber so weit durfte ich es nicht kommen lassen. „Halt!“ schrie ich, „Zurück! Wir verhandeln. Wo ist euer Chef ?“ Das war ein kluger Schachzug, denn ein einzelner Troll wird sich zwar immer als einziger Boss und Oberchef der gesamten Stollentrollheit ausgeben, eine Horde dieser Biester bringt sich damit aber selbst in Schwierigkeiten. Und um diese Frage zu klären, zogen sich die fünf offensichtlich stärksten Troll-Exemplare überraschend diszipliniert in den nach unten führenden Stollen zurück, während die Übrigen uns weiter in Schach hielten. Dann vernahm man das Klatschen einiger Ohrfeigen, das Zusammenbumsen von Trollköpfen und das Geräusch splitternder Zähne, bevor der uns wohlbekannte Hammertroll als Einziger smirkend wieder zum Vorschein kam. Zwar hatte er ein blaues Auge und ihm fehlten zwei Beißerchen, aber sonst schien er kaum verletzt zu sein.

„Weiter im Text,“ deklamierte er, „nun ist ja klar, wer hier das Sagen hat. Rückt eure Wertsachen raus, dann lassen wir euch unbehelligt laufen. Nein... was erzähle ich da... tut es nicht... wehrt euch lieber. Das Ergebnis ist dasselbe, aber es macht mehr Spaß, kähähähähä! Sobald die erste Hutze einen Finger rührt, machen wir den Toffen kalt. Und dich, Glibberkerlchen“, er zeigte auf meine Wenigkeit, „werde ich mit Freude über fünfzig Quadratmeter Höhlenfußboden verteilen, dass es nur so spritzt. Huhä.“

Irgendwie hatte ich mich in meiner Einschätzung gründlich verhauen. Diese Stollentrolle waren nicht mit ihren relativ „zivilisierten“ Nachtschulvettern zu vergleichen. Sie waren nicht lästig, sondern böse. Richtig Böse. BÖSEBÖSEBÖSE. Und es gibt wirklich nichts schlimmeres, als in der Gewalt eines sich in seiner eigenen Bosheit suhlenden Stollentrolls zu sein. Leider kam mir diese Einsicht etwas zu spät.

Trotz ihrer zahlenmäßigen Überlegenheit schienen die Schattenparasiten es jedoch nicht auf eine offene Konfrontation ankommen lassen zu wollen. Ich vermutete, dass sie in ihrem tiefsten Inneren doch feige waren, sie setzten uns zwar gehörig zu, aber vielleicht fiel uns ein Ausweg ein, wenn wir etwas Zeit gewinnen konnten. Also ging ich zum Schein auf den Anführer ein. „Was hättest du davon, wenn du uns umbringen lässt?“ fragte ich. „Lebend nützen wir dir mehr. Herr Obstip von Kolon hier kann dir einige Gesetzeslücken aufzeigen, mit denen du in der Oberwelt Zamoniens unbeschränkte Macht erlangen könntest. Und unsere Ausrüstung und die Geheimwaffen, die wir hier drin haben, nützen dir gar nichts, solange wir sie dir nicht erklären. Also.. wie ist es? Du kriegst die wirklich wichtigen Sachen und mit dem Rest lässt du uns alle weiterziehen.“

Stollentrolle zeigen zwar einen erschreckenden Mangel an Mitgefühl und Gewissen, aber als dumm kann man sie wirklich nicht bezeichnen. Ihre natürliche Gier nach Überlegenheit ist jedoch ihre Achillesferse... und das nutzte ich schamlos aus. „Ich werde mich dir unterwerfen und dir alles verraten“ flüsterte ich mit verschwörerischem Grinsen , während ich meinen Kameraden heimlich zuzwinkerte. „Du solltest nur sichergehen, dass nicht so viele deiner Trollfreunde von diesen mächtigen Geheimnissen erfahren und profitieren.“ Das saß. Der Stollentroll sah sich als Herr der Lage und mein Hinweis auf die Konkurrenz in den eigenen Reihen machte ihn misstrauisch. „Fünf von euch Pennern kommen als Sicherung mit“ befahl er seinen Leuten. „Der Rest macht hier Pause. Und wehe euch, einer verpisst sich ins Lager und pfeift dem Großen Troll was ins Ohr. Dem ziehe ich höchstpersönlich die Haut ab, kapiert ?!“

Er winkte uns zu sich und, gefolgt von fünf lanzenschwingenden Trollkriegern, marschierten wir in den nach unten führenden Tunnel hinein.

Bereits nach einigen Dutzend Metern erreichten wir eine kleinere Kammer, in der vier übel zugerichtete Stollentrolle hockten und sich die Köpfe und diverse andere Körperpartien rieben. Da keiner von ihnen Lust verspürte, erneut auf den Hammertroll loszugehen, krabbelten sie auf dessen leises „Buh“ schnellstmöglich hinaus. Germinator krampfte mit kaum unterdrücktem Zorn die Fäuste zusammen, er hätte am liebsten sofort „reinen Tisch gemacht.“ Ich hatte aber die Befürchtung, dass die bewaffneten Stollentrolle sich in diesem Fall an den nicht ganz so kampferfahrenen Obstip oder, noch schlimmer, an meine Person halten würden... und das behagte mir ganz und gar nicht. Wir konnten es uns nicht leisten, einen Schwerverletzten zu transportieren. In diesem Falle wäre die Expedition gescheitert, bevor sie richtig angefangen hätte. Nein, es musste auch anders gehen.

Ich gab dem Schweinsbarbaren zu verstehen, dass er das Gepäck absetzen solle und hoffte auf das Beste. Der Stollentroll stolzierte um die Ausrüstung herum, kicherte hämisch und fummelte an den silberglänzenden Verschlüssen, während wir uns in einer Reihe an der Wand aufstellen und mit erhobenen Händen abwarten mussten. Gierig wühlte der Wicht in unseren Habseligkeiten, sabberte, warf Sachen auf die Erde und gab dazu flatulenzartige Missfallenslaute ab. Es passte ihm wohl nicht, was er da fand. Schließlich aber erreichte er, wie ich insgeheim gehofft hatte, die Überraschungspakete Marke „Hutzenspaß 5000“. Diese waren in buntes Glitzerpapier gewickelt und fesselten seine Aufmerksamkeit sofort. Er war drauf und dran, so ein Ding auszuwickeln und seine dicke Trollnase hineinzustecken.

phellpe, die neben mir stand, unterdrückte ein Würgen. Von allen vier Hutzen war sie die sensibelste und der Gestank der Trolle nach ranziger Butter, Fäulnis und Fußmuff war wirklich atemberaubend. Wenn nicht gleich etwas geschah, würde sie sich nicht viel länger zurückhalten können (oder wollen, denn ich hatte den Eindruck, als habe sie vor, den widerlichen Wicht mit ihrem Mageninhalt zu überraschen). Doch in diesem Moment klappte der Hammertroll die erste Schachtel auf.

Sofort explodierte der Raum in einer Welle unerträglich lauter Musik. Musik, so bezeichne ich das jetzt und hier... aber dies war harter Hutzenrock reinsten Wassers, der einen überfährt wie eine Dampfwalze. Gespielt auf Kampfdudelsäcken, Voltigorkischen Bassrüttlern und Fhernhachischen Almtuten - und so basslastig, das er alles, was sich nicht rechtzeitig festhalten konnte, gegen die umliegenden Wände klatschte. Wir hatten Glück, denn wir standen schon dort, den Stollentrollen ging es jedoch nicht ganz so gut. Vor allem der Hammertroll, der direkt an der Quelle der Beschallung gestanden hatte, wand sich mit schmerzverzerrtem Gesicht wie ein Regenwurm am Boden und schrie „Aufhööören, aufhööören, biiiiitttteeeeeee !!!“ Der „Brüllwürfel“ kündigte daraufhin eine gesangliche Darbietung von „Hairhutz Fredda“ an. Das war zu viel für unsere Bewacher. Sie warfen die Speere von sich und ergriffen die Flucht bergaufwärts, leider jedoch nicht, ohne im Gegenzug unsere Rucksäcke zu ergreifen und mitzunehmen. Flink waren sie schon, die Kerle; ehe wir uns versahen, waren sie mit ihrer Beute verschwunden. Ich bemerkte jedoch gerade noch, wie der tollkühne Minus einen herabhängenden Lederriemen ergriff, daran emporkletterte und sich in einer Seitentasche verbarg.

„Ccchhhuuutttzzzeeennnbbbäääärrrgggeeeeee rrriiieeessseennngggrrroooooßßß“ kreischte inzwischen die „Hairhutz“ aus dem Überraschungspaket. Zwarn begann wie ein yhôllischer Teenager zu juchzen, schnappte sich ihren Dudelsack und ging ab wie eine Rakete, während ihre Kolleginnen wild die Haare schüttelten und ihren Frust beim gemeinsamen „Abrocken“ herausließen. Auch Germinator konnte nicht widerstehen, die Schinken im wilden Pogorhythmus zu schwingen. Dass den Tanzenden dabei der Stollentroll immer wieder vor die Füße geriet, war wohl eher Zufall. Obstip und ich hielten uns bei der Hopserei lieber dezent im Hintergrund und ertrugen die Beschallung mit säuerlichem Lächeln, während wir uns gegenseitig leidende Blicke zuwarfen.
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Schließlich, als wir den Eindruck hatten, der Stollentroll sein nun genug herumgeschubst worden... nein, ich will ehrlich sein, ein paar Minuten nach diesem Zeitpunkt, zogen wir das heulende Bündel mit Hilfe von Obstips Wanderstock aus dem Getümmel und schritten zur Inquisition. Und da ich mich beim ersten Kontakt definitiv in die Nesseln gesetzt hatte, überließ ich diesmal dem Nattifftoffen das Reden. Dies war jedoch nur möglich, weil die Hutzenmusik langsam zu verstummen begann. Ein letzter Akkord, ein letztes „Ccchhhuuutttzzzeeennn-sssccchhhrrraaaiiiiiiiiiiiii“, dann löste sich das Kästchen unspektakulär in seine Bestandteile auf.

Dem Nattifftoffen war anzumerken, dass er auf Grund der ernsten Lage nicht bereit war, eine Verzögerungstaktik unseres Gefangenen zu tolerieren. Man konnte beinahe die Rasierklinge in seiner Stimme spüren, als er, entgegen seiner sonstigen weit ausholenden Art, präzise zur Sache kam. „Ich will wissen, wo unsere Rucksäcke hingebracht werden und was hier eigentlich los ist, du kleine ranzige Pestbeule“ zischte er in einem Tonfall, der dem Troll die fahlgrüne Blässe unter die Haut trieb. „Und genau das wirst du uns jetzt sagen, da ich dich ansonsten nach § 212d des Zamonischen Gesetzbuches.. des.. räuberischen.. Überfalls.. bezichtigen.. UND HIER AN ORT UND STELLE MIT DEN OHREN AN DIE WAND NAGELN WERDE, du verpickeltes Stück Trollscheiße !!! Puh, das musste doch einmal gesagt werden können. Ich hoffe, dieser einmalige unkontrollierte Ausrutscher findet seinen Weg nicht an die Öffentlichkeit, Herr Expeditionsleiter.“ Das konnte ja wohl nicht sein Ernst sein. Wann hatte man schon einmal die Möglichkeit, den Wutausbruch eines Nattifftoffen zu dokumentieren ? Wenn das so weiterging, konnten noch mehrere Nachtschulgenerationen von unseren Erkenntnissen zehren. Auf Obstips Einschüchterung hin bequemte sich der Schattenparasit schließlich dazu, einige Informationen preiszugeben.

„Ich habe keine Schuld daran, guter Massa,“ heulte er, während ihm zwei Krokodilstränen aus den Augenwinkeln rannen, „der Große Troll ist größenwahnsinnig geworden. Ich bin doch nur ein kleiner freundlicher Stollentroll, der jederzeit hilfsbereit sein will. Aber dieses.. dieses... Ding... hat mich dazu gezwungen, all die schlimmen Sachen zu machen.“ Ich will mir ersparen, die gesamte endlose Tirade hier wörtlich wiederzugeben, aber schließlich stellte sich die Lage so dar:

Hier in der Nähe gab es offensichtlich einen Ort, an dem eine Laune der Natur (oder eine künstlerisch begabte Eisenmade) in der Stollenwand ein riesiges Gesicht mit einem offenen Maul geformt hatte, das einem Stollentrollkopf frappierend ähnlich sah. Diese tempelartige Höhlung lag direkt an einem Verbindungstunnel zwischen zwei vielbenutzten Finsterbergmadenstollen („Trollstraßen“ nannte unser Gefangener sie) und wurde von den Schattenparasiten aus einer tiefen archaischen Scheu heraus so gut es ging gemieden. Musste doch einmal einer hindurch, warf er dem Gesicht eine „Bestechungsgabe“ (meist Müll, Steine oder getrocknete Exkremente) hin und machte, dass er fortkam. Eines Tages vor längerer Zeit hatte dann der „Große Troll“ zu kommunizieren begonnen. Zuerst war eine schwache Stimme in den Köpfen der Vorbeihastenden zu hören gewesen, die immer wieder „Vrahoks, überall Vrahoks“ winselte und sporadisch stundenlange Schmerzensschreie von sich gab. Dann hatte die Stimme einem vorbeilaufenden Troll befohlen, aus herumliegendem Müll eine Trommel zu bauen, diese ins Maul des steinernen Gesichtes zu stellen und ein Steinchen daraufzulegen. Seit diesem Tag konnte der „Große Troll“ richtig sprechen. Er hatte zwar immer noch „geistige Aussetzer“ (manchmal befahl er den Trollen, auf den Händen zu laufen oder im Chor sein Lieblingslied „Große Uhren machen Tick-Tack“ zu singen), aber in den letzten Monaten war er immer öfter dazu übergegangen, Parolen wie „Stollentrolle aller Länder, vereinigt euch“ und „Vom Stollentroll lernen heißt siegen lernen“ in die Gegend zu brüllen. Er schwadronierte von seinem Ziel, mit einer gewaltigen Armee die Obenwelt zu überrennen. Und jeder, der ihn hörte, hatte im Innersten den Wunsch verspürt, ihm zu gehorchen.

„Jedenfalls“ schloss der Stollentroll, während er sich die Nase in meinen weißen Kittel schneuzte, „haben wir seitdem eine bewaffnete Garde. Und wir müssen alles ausspionieren. Es existiert eine Schule hier in den Finsterbergen, die wir finden und infiltrieren sollen. Aber keiner, den der Große Troll losgeschickt hat, ist jemals wieder zurückgekehrt. Wir sind alle soooo verzweifelt. Hilf uns, Obstip von Kolon, du bist unsere letzte Hoffnung...“

Und während wir alle tief betroffen den Blick senkten, uns die Augen wischten und ich mich mühte, den Schleim an meinem Kittel zu ignorieren, sprang der Stollentroll auf die Füße und rannte wie eine Kakerlake aus dem Raum, jedoch nicht zurück zur Weggabelung, sondern durch einen Seitenausgang weiter hinab ins Unbekannte. Lange noch gellte uns sein hämisches „Ich bin frei, ich bin endlich frei, kähähähähä !“ in den Ohren. Seinen Hammer, den er zurückgelassen hatte, steckte sich Germinator hinter den Gürtel.

Wir machten Bestandsaufnahme. Die kleinen Biester hatten Zwarns, Kullas, phellpes, Obstips und meinen eigenen Rucksack mitgehen lassen. Amandas „Riesenteil“ und Germinators Ausrüstungspacken waren ihnen wohl zu schwer gewesen. Aber das Schlimmste war, dass Minus irgendwo zwischen den gestohlenen Gepäckstücken steckte. Wir mussten den Freund und das Material zurückhaben. Also schlichen wir den geflüchteten „Gardetrollen“ hinterher, wieder bergauf.

Der Weggabelung näherten wir uns besonders vorsichtig, denn wir vermuteten einen erneuten Hinterhalt. Aber die versteckten Nischen waren leer und niemand lauerte uns auf. Bevor wir uns jedoch in den noch unerforschten Gang wagten (der ja „Dahin, wo du willst“ führen sollte), tippte mir der Nattifftoffe noch einmal auf die Schulter. „Nicht so rasch, Herr DuFranck,“ meinte er. „Meine Erfahrung und meine weitreichenden Studien sagen mir, dass wir uns in besonderer Weise absichern sollten. Falls sich meine Befürchtungen bewahrheiten, könnten wir ins offene Messer laufen. Glücklicherweise haben wir den Schweinsbarbaren bei uns. Ich hoffe nur, dass ich Frau Amandas Naturell richtig eingeschätzt habe.“ Er ging zu der Hutze hinüber und tuschelte kurz mit ihr, worauf sie ihren Rucksack öffnete und einen Klumpen zäher Kittmasse hervorzog. Daraus formte Obstip zwei dicke Bälle, die er Germinator auf die Ohren drückte. Der Schweinsbarbar glotzte ihn zwar verständnislos an, fügte sich aber in sein Schicksal (und widerstand nach einem Klaps des Nattifftoffen auch der Versuchung, die improvisierten Ohrstöpsel aufzuessen). Solcherart vorbereitet, zogen wir im Gänsemarsch und möglichst leisen Schrittes los.

Nach einer knappen Viertelstunde erreichten wir die erste „Trollstraße“. Glücklicherweise bedeutet „vielbenutzt“ hier unten „ein bis zwei Daseinsformen pro Tag“, darum liefen wir kaum Gefahr, entdeckt zu werden. Und da aus einem Nebengang in der gegenüberliegenden Tunnelwand das Lied „Große Uhren machen Tick-Tack“ drang, war mit ziemlicher Sicherheit klar, wohin wir uns wenden mussten: immer dem Lärm nach.

Je weiter wir voranschritten, desto mehr fühlte ich mich wie ein ferngelenkter Apparat. Ich wusste zwar, dass ich einem Ziel zustrebte, aber ich hatte das Gefühl, als würden meine Füße nicht mehr anhalten können und von alleine marschieren. An den Gesichtern der Übrigen sah ich, dass sie ähnlich empfanden wie ich; Verzweiflung malte sich in ihrem Minenspiel, dennoch schob uns ein von außen kommender unwiderstehlicher Wille weiter. Nur Germinator trollte sich unbekümmert und mit lautem Pfeifen hinter uns her. Eine dicke Dunstwolke schien sich über mein Gehirn gelegt zu haben - ich sah und hörte und roch, aber alles Wollen und Werten war gelähmt. Wie auf Kommando hoben wir alle gleichzeitig die Hände und legten sie unserem Vordermann bzw. unserer Vorderhutze auf die Schulter. Germinator grinste:„Oh, Polonäse. Toll, das macht Spaß“ und hängte sich ebenfalls mit an. So zogen wir wie die Schafe auf dem Weg zur Schlachtbank unaufhaltsam voran, zwischen Reihen unbeweglicher, spießbewehrter Stollentrolle hindurch, bis vor den „Großen Troll.“

Der häßliche Steinkopf redete uns an. Und die tiefe, ölige Stimme, das kann jeder von uns bestätigen, kroch durch unsere Trommelfelle bis ins innerste Mark und krallte sich dort fest wie ein Krebsgeschwür. Ich fühlte mich verseucht und besudelt, aber unfähig zu handeln, denn mein Körper erschien mir zum Eisklumpen gefroren, hilflos jeglicher Gemeinheit unseres „Marionettenspielers“ ausgeliefert. „Ihr gehört mir“ summte die Stimme, „ihr werdet meine Hände und meine Füße sein, denn morgen gehört mir die Nachtschule... und übermorgen ganz Zamonien.“

Spätestens, als wir auf diese Worte nicht reagierten, merkte auch der Schweinsbarbar, dass mit uns etwas nicht stimmte. Unsicher trat er vor Kulla hin und wedelte mit der Hand vor ihren Augen herum, doch sie blinzelte nicht einmal. Dann drehte er sich dem Gesicht zu. „Was hast du mit meinen Freunden gemacht ?“ schrie er es an. In seinen Mundwinkeln bildeten sich leichte Schaumflocken, während er sich immer mehr in seine Wut hineinsteigerte. Schließlich packte er die Nase der Trollfratze und begann, daran zu rütteln. Als sich nichts bewegte, donnerte er seine Stirn zweimal dagegen, was Steinbrocken in alle Richtungen spritzen ließ. Zwar fielen ihm dabei auch die Ohrstöpsel ab, aber in seinem Zustand war er für die Indoktrinationen des „Großen Trolls“ sowieso nicht mehr empfänglich.

Die Stimme des Götzen verriet nun einen Anflug von Panik, als sie befahl: „Hutzen, haltet mir dieses Ungeheuer vom Leib !“ Auf das Kommando hin sprangen Amanda, phellpe, Kulla und Zwarn gleichzeitig nach vorn, klammerten sich an Germinator fest und versuchten, ihn zu Boden zu ringen. Amanda grabschte mehrmals nach dem Bergmannshammer am Gürtel unseres Kameraden und sang dabei „If I had a hammer,“ gab diese Versuche jedoch nach einigen Fehlgriffen wieder auf. Doch den Schweinsbarbaren außer Gefecht zu setzen war nicht so einfach, wie der „Große Troll“ sich das wohl gedacht hatte. Er wehrte sich verzweifelt und schaffte es sogar, Kulla mitten ins Gesicht zu rülpsen, was die arme Hutze für kurze Zeit würgend auf die Bretter schickte. Dann jedoch riss Amanda seinen Kopf nach hinten und phellpe trat mit ihren Stahlkappenschuhen gegen sein linkes Knie. Alle Kämpfenden wälzten sich nun in einem Knäuel auf dem Boden herum und es war nicht zu erkennen, wer letztendlich die Oberhand behalten würde.

Plötzlich spürte ich, wie der Nebel in meinem Hirn verschwand und mein Wille zurückkehrte. Obstip und den „Trollsoldaten“ schien es ebenso zu gehen. Ein paar Dutzend eingeschüchterter Stollentrolle unter Kontrolle zu halten, war für den „Großen Troll“ durchaus machbar, aber vier Hutzen in einem Kampf gegen einen Schweinsbarbaren zu koordinieren, überstieg wohl seine Fähigkeiten. Doch während ich noch benommen dastand und versuchte, zu ergründen, was um mich herum geschah, schien der Nattifftoffe auf diesen Augenblick nur gewartet zu haben. „Er braucht all seine Kraft für die Hutzen“ schrie er sofort los. „Herr Minus, wo sind sie ? Ab in den Helm, bevor es zu spät ist ! Vergesst den Trollkopf. Der Stein auf der Trommel ist unser Problem. Aber nicht anfassen, um Gotteswillen nicht...“ Ein unsichtbarer Hieb ließ den Nattifftoffen taumeln und unterbrach seinen Redefluss. Dann sah ich den Zwergpiraten auf Obstip zurennen. Weiß der Teufel, wo er sich die ganze Zeit über versteckt gehalten hatte. Flink wie ein Eichhörnchen sauste Minus am hochgewachsenen Nattifftoffenleib empor und „enterte“ den Helmsitz. „Volle Fahrt voraus,“ brüllte er, „jetzt hat dein letztes Stündlein geschlagen, Donnerkiesel ! Jo-ho-ho, der Teufel und der Rhumm, die bringen uns noch um !“

Die Stollentrolle, die in mehreren Reihen hinter uns standen, glotzten derweil einander und ihre Waffen mit kaum verhohlenem Widerwillen an. Langsam legten sie die Speere auf den Boden und bewegten sich betont „unauffällig“ in Richtung Ausgang, wobei sie sich gegenseitig fadenscheinige Entschuldigungen („Aus dem Weg, ich bin Arzt und muss dringend zum OP“, „Meine Frau/ Bewährungshelferin/ Domina erwartet mich“, „Ich geh mal eben den Wolpertinger Gassi führen“) zumurmelten. Fassungslos musste der „Götze“ miterleben, wie seine „treue Soldatenschar“ sich in alle Winde zerstreute. „Bleibt doch hier, bitte, meine kleinen Freunde,“ donnerte es aus seinem Maul, „gemeinsam werden wir die Welt erobern !“ Und genau in diesem Moment rollte sich der Schweinsbarbar mitsamt der an ihm hängenden Hutzenschar vorwärts und kickte mit einem gut gezielten Fußtritt die Trommel aus dem Maul der Figur. Der darauf liegende Stein flog durch die Luft, direkt auf Obstip zu. Und er hätte ihn mit Sicherheit auch getroffen, wäre nicht Minus mit seinen schnellen Reflexen am „Steuer“ des Toffen gewesen. Obstips Hand mit dem Stockdegen sauste wie der Blitz nach oben, erwischte den teuflischen Kiesel in der Luft und wehrte ihn ab. Der Stein fiel auf den Boden, rollte ein Stück und blieb vor Germinators Gesicht liegen. Jetzt konnte ich ihn deutlich erkennen. Er war nur so groß wie eine Murmel und schien in Säure gelegen zu haben, so zerfressen und teilweise geschwärzt war seine Oberfläche. In unseren Gehirnen kreischte seine Stimme voll Todesangst so laut, dass uns die Köpfe zu platzen drohten. Die Augen traten uns aus den Höhlen und wie der berüchtigte „Sack Reis“ fielen wir um, schlugen längelang auf den Boden, zuckend, als ob eine elektrische Ladung uns durchströmte.

Ja, wir alle – außer Germinator. Aus irgendeinem Grund schien der Schweinsbarbar immun zu sein gegen die Gewalt des Steins. Auf dem Bauch liegend zog er den Bergmannshammer aus dem Gürtel und knirschte: „Bei Mjölnir, jetz is genug. Ich mach dich dot !“ Und das tat er dann auch.

Der Hammer sauste durch die Luft, Germinator legte seine ganze Kraft in diesen Schlag. Mit einem lauten Knall zerschmetterte er den größenwahnsinnigen Kiesel zu Grus und Mus.

Der Alptraum war vorbei. Wir lagen auf dem Boden und keuchten, von einer Zentnerlast befreit. Als ich wieder einigermaßen „aktionsfähig“ war, schleppte ich mich zu dem verbliebenen Sandhäufchen, um es näher zu untersuchen. „Vorsicht, Herr Expeditionsleiter“, warnte mich Obstips Stimme, „ich befürchte, es handelt sich hier um Zamomin. Beziehungsweise um das, was von ihm übrig ist. Aber es stellt wohl jetzt keine Gefahr mehr dar.“

Während ich die Reste dieses grauenhaften denkenden Elements mit einem Bürstchen zusammenfegte und in einer Bleiflasche verschloss (die ich selbstverständlich sorgfältig versiegelte), zum einen, um die Gefahr zu beseitigen, zum anderen zwecks späterer Analyse im Interesse der Nachtschulwissenschaft, teilte mir der Nattifftoffe auf meine Nachfrage hin auch mit, warum er uns so schnell den entscheidenden Hinweis hatte geben können. „Schon aus den Informationen des Stollentrolls,“ so meinte er, „hatte ich ein Stück Zamomin als Urheber dieses Unheils vermutet. Weiß der Professor, aus welcher Untenwelt das Ding gekrochen ist. Jedenfalls war es zum Glück recht klein und schwach, aber immer noch gefährlich genug, um der Nachtschule ernste Probleme zu bereiten. Zum Glück bin ich als Diplomat aber daran gewöhnt, in zwei Ebenen gleichzeitig zu denken (man muss ja auch inmitten einer längeren Debatte manchmal die schönen Dinge des Lebens an sich vorüberziehen lassen). Während ich mich daher vordergründig mit meinen Gesetzestexten beschäftigte und das Zamomin sich durch den Dschungel der Paragraphen kämpfen ließ, bewahrte ich im Hinterkopf noch ein kleines Eckchen freien Willens, damit ich, wenn nötig, sofort aktionsbereit war. Was ja auch eintrat.“ Jetzt war mir vieles klarer. Ich hatte doch gewusst, dass es von Nutzen sein würde, einen Nattifftoffen mitzunehmen.

Nach einer kurzen Verschnaufpause zeigte uns Minus, wo die Rucksäcke versteckt waren. Glücklicherweise hatten die Stollentrolle noch keine Gelegenheit gehabt, sie zu plündern. Amanda ließ es sich währenddessen nicht nehmen, sich die beiden herumliegenden Kittkugeln als „Riesenbrüste“ anzumodellieren, wobei sie Minus‘ Hilfsangebot dankend ablehnte. Dem Zwergpiraten fielen beinahe die Gucker aus dem Schädel, als die Hutze mit kessem Hüftschwung an ihm vorbeispazierte und mit ihrer Vorstellung unsere Stimmung deutlich besserte. Rasch schlangen wir ein paar Ölsardinen herunter, luden das Gepäck wieder auf und verließen so schnell wir konnten diesen unheimlichen Ort auf demselben Weg, den wir gekommen waren. Die Aufschrift der Richtungspfeile schreckte uns nicht mehr, lieber gingen wir „in den sicheren Tod“, als in dieser Gegend länger zu verweilen.

Ich schreibe dies, während ich an unserem neuen Lagerplatz sitze und keinen Schlaf finden kann. Wir haben uns hoffnungslos verirrt. Stundenlang marschierten wir weiter in die Tiefe und fanden uns schließlich in einem Stollenlabyrinth wieder, das laut meiner Karte überhaupt nicht an dieser Stelle sein dürfte. Nach kurzer Zeit hatten wir völlig die Orientierung verloren. Obstips Kompassnadel dreht sich nur wild im Kreis (offensichtlich ist das Gestein hier sehr erzhaltig) und auch die Kreidepfeile, die wir an die Wände malen, scheinen wie von Zauberhand zu verschwinden oder, noch schlimmer, plötzlich in gänzlich andere Richtungen zu zeigen. Die wenigen Leuchtquallen, die hier leben, sondern ein giftgrünes Flackerlicht ab, das die Schatten lebendig werden lässt und, zusammen mit den Echos unserer Stimmen, die urplötzlich aus unverhofften Richtungen zu uns zurückdringen, den Eindruck vermittelt, wir seien von umherhuschenden Gestalten umzingelt. Tatsächlich jagten Amanda, phellpe und Zwarn fast eine Stunde lang Phantome durch die Gänge, bevor sie, frustriert und total erschöpft, aber zum Glück vollzählig, wieder an unserem Lagerplatz eintrafen. Hier, in der Mitte des Labyrinths, hatten wir uns zur Rast entschlossen. Wenigstens werden wir heute nacht in unseren bequemen Hängematten schlafen können. Kulla hat dankenswerterweise wieder den Küchendienst übernommen und röstet Nachtschulmonster-Kalamares (natürlich mit einem Hauch Zimt) über der Feuerstelle. Germinators Knie ist dick angeschwollen, das sieht nicht gut aus. phellpe, die nun ihren Helm gegen ein Krankenschwestern-Häubchen vertauscht hat, hat ihm einen Kräuterverband gemacht und auch unsere Schrammen und Blessuren geschickt verarztet. Am schlimmsten aber ist der schwache Piepton, den der Gennff-Detektor seit zwei Stunden von sich gibt. Wir haben keine Möglichkeit gefunden, ihn abzustellen. So liegt er unter den Rucksäcken, warnt vor sich hin und nervt uns alle ganz gewaltig.

Trotz meiner Erschöpfung konnte ich keinen Schlaf finden. So sitze ich eben hier und schreibe das Expeditionstagebuch. Gerade ist Amanda von Obstip abgelöst worden, der in den nächsten zwei Stunden Wache halten wird. Dass die Hutze vor dem Zubettgehen noch etwas „Dampf abließ“, indem sie mit ihren Aquaschuhen über mich hinweg trampelte, um dann minutenlang auf meinem Gelatinekörper herumzuspringen, ließ ich, wie ein leidgeprüfter Vater die Angriffe seiner halbwüchsigen Tochter, gnädig über mich ergehen. Tratschwellen halten in dieser Beziehung ja einiges aus. Erst als ich platt war wie ein Pfannekuchen, ließ die „Harte Hutze“ von mir ab und krabbelte mit zufriedenem Grinsen in ihre Hängematte.

Der Nattifftoffe, dem ich vorher noch schnell mein Notizbuch zum Korrekturlesen in die Hand gedrückt hatte, bemängelte bei dieser Gelegenheit meine Darstellung der Vorgänge vom heutigen Vormittag. Hatte das hier herrschende Finsterbergklima etwa Wahnvorstellungen in mir erzeugt ? Jedenfalls überreichte mir Obstip eine schriftliche „Gegendarstellung“, die ich, die Beurteilung den geneigten Lesern überlassend, gern meinem Bericht anfüge.
Andray DuFranck
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Re: Expedition in die Tiefen der Nachtschule

Beitrag von Andray DuFranck »

EXPEDITIONSTAGEBUCH
„Reise in die Tiefen der Nachtschule bis zur Mitte Zamoniens“

7. Tag

Wie lange ich geschlafen hatte, weiß ich nicht. Als ich jedoch endlich erwachte, war unser Lagerplatz beinahe leer. Nur phellpe, die gerade den Verband um Germinators blau schillerndes Knie wechselte, nickte mir kurz zu und wies auf die Reste des Frühstücks, die noch neben der Feuerstelle standen.

Während ich neue Gelatine einwarf und, ganz im Wortsinne, „langsam wieder in Form kam,“ hörte ich phellpes Bericht an: „Sie haben geschlafen wie das Tote Meer persönlich, Andray. Da sind die anderen Hutzen auf die Idee gekommen, es mit der alten „Bindfaden-Methode“ zu probieren. Obstip war dagegen, aber sie hörten nicht auf seine Warnungen. Da hat er den Gennf-Detektor geholt und ist mitgekommen, „zur Schadensbegrenzung“, wie er sagte. Minus wollte die Hutzen auch nicht schutzlos fortgehen lassen, also war er ebenfalls mit dabei. Und jetzt sind sie schon seit über einer Stunde fort und man hört nichts mehr von ihnen, noch nicht einmal ein Echo...“

Tappende Schritte erklangen aus einem der Tunnel. Jemand näherte sich. Es war der uns wohlbekannte Stollentroll.

„Zamonisches Gesundheitsministerium, Nahrungsmittelkontrolle“ stellte er sich vor, während er ungeniert die Reste der Frühstückseier aus der Pfanne kratzte und in seinen Mund stopfte. „Nunja, könnte noch etwas angebrannter sein und Zimt ist auch zu viel dran. Aber ich will ja mal nicht so sein, huhä.“ Phellpe hinderte inzwischen den Schweinsbarbaren mit sanfter Gewalt daran, aufzuspringen und die Kreatur am Hals zu packen. Ich ließ mich in gebührendem Abstand von unserem ungebetenen Gast auf dem Boden nieder und achtete darauf, dass er dem Gepäck nicht zu nahe kam. „Haben Sie drei Hutzen, einen Nattifftoffen und einen Zwergpiraten gesehen ?“ fragte ich den Troll mit erzwungener Höflichkeit. „Sie sind irgendwo hier im Labyrinth unterwegs.“

„Vielleiiiicht, vielleicht auch nicht“ smirkte dieser, „aber in meiner gleichzeitigen Eigenschaft als Beamter der zamonischen Personenkontrollbehörde darf ich dir darüber leider keine Auskunft geben, aus Datenschutzgründen, Du verstehst doch sicher, kähähähä. Ich könnte dir aber, gegen eine gewisse Aufwandsentschädigung von, sagenwirmal, 10 Pyras, einen Gegenstand überlassen, den ich hier in der Nähe gefunden habe und der, wie ich glaube, deinen Freunden gehört. Na?“ Er hatte mich in der Falle. Was sollte ich anderes tun? Ich bequemte mich zum Zahlen. Der Stollentroll steckte das Geld in seine schmierige Hosentasche und warf mir etwas zu, das ich mit Entsetzen als ein Knäuel Bindfaden erkannte.

Zwischenbericht der Schlechten Idee Linora:
Schnell wie ein Gedanke, ja, so sind wir eben, wir Schlechten Ideen. Muss man sich normalerweise geistige Fußfesseln anlegen, um mit dem langsamen Schritt dieser „Spaziergänger“ zurechtzukommen, tut es jetzt wieder einmal richtig gut, die Beine wirbeln zu lassen. Huch, was war das denn eben? Das Nachtschulmonster? Vorbei, vorbei. Sie würden schon damit fertig werden, schließlich hatten sie das Abenteuer ja gesucht. Da war ja auch schon unsere Raststelle von heute nacht. Unglaublich, wie lange wir für dieses kurze Wegstück gebraucht hatten. Noch ein kurzer Endspurt, und schon tauchte der „Nachtschulkeller“ wieder vor mir auf. Ich hämmerte gegen die Falltür. Nichts rührte sich. Schöne Bescherung. „Ju-hupp! Blarbara! MauMau! Aufmachen!“ brüllte ich, aber ohne Erfolg. Ich musste mich wohl in Geduld üben.
Endlich, drei Stunden später, hatte das Schicksal ein Einsehen. MauMau kontrollierte das „Verlies“ und ließ mich heraus. Sofort eilten wir zum „Hauptquartier“, wo ich Bericht erstattete und Andrays Kartenmaterial übergab. Dann gönnte ich mir ein paar Stunden Schlaf in meinem gemütlichen Wohnstollen.
Leider war meine Ruhe nur von kurzer Dauer. In aller Herrgottsfrühe wummerte Blarbara an meine Tür. „Linora!“ schrie sie, „Aufwachen, wach doch bitte auf ! Sie sind in höchster Gefahr. Wenn du sie nicht rechtzeitig erreichst, kommen sie nie mehr lebend zurück...!“ „Nur keine Panik, Mädel,“ murmelte ich schlaftrunken, „ich bin ja schon so gut wie unterwegs.“
Nun, so schnell wie sich Blarbara das in ihrem jugendlichen Überschwang dachte, ging es nun doch nicht. Zuerst einmal erfuhr ich von MauMau, dass SabberJupp das Kartenmaterial nachkontrolliert und dabei entdeckt hatte, dass die dort eingezeichnete Route mitten in ein Gebiet führte, das auf „Trollkarten“ mit der Gefahrenstufe „Drei schwarze Totenschädel auf Grabstein“ markiert war, was bedeutete: für alle anderen Daseinsformen – tödlich, für Stollentrolle – langweilig. Er müsse erst einmal eine neue Route planen und einzeichnen, habe er gemurmelt, und dies brauche Zeit. Gerne unterstelle ich ihm, dass er wirklich alles möglichst genau und richtig machen wollte, aber ich muss gestehen, dass ich nach 16 Stunden doch ein wenig ungeduldig wurde. Endlich kam MauMau und drückte mir die neuen Papiere in die Hand. Versorgt mit vielen guten Ratschlägen, sauste ich erneut los in die kaum erforschte Tiefe.
Ich übertreibe nicht, wenn ich sage, dass ich am See der Finsternis so schnell war, dass ich das Gewässer ohne Schiff überqueren konnte – ich rannte einfach über die Wasserfläche und hatte kaum Zeit, der „Zuckerhase“ zuzuwinken, auf der Kapitän Grünbart wieder in höchster Lautstärke seine Mannschaft drillte. Dann versperrte ein primitives Fallgitter meinen Weg. Glücklicherweise waren die Zwischenräume so weit, dass ich mich ohne Probleme hindurchquetschen konnte. Ich erreichte eine Gabelung... und dann wurde es schwierig. Wo sind sie hin ? Ich werde mich auf mein Gefühl verlassen müssen.

Ende von Linoras Zwischenbericht

Der Bindfaden ! Dieser gewissenlose Schattenparasit hatte den Bindfaden mitgenommen ! Das bedeutete, dass meine Freunde jetzt hilflos irgendwo im Labyrinth umherirrten bis zum erschöpfungsbedingten Exitus. Der Stollentroll schickte sich soeben mit leutseligem Winken an, den Ort seiner Schandtat zu verlassen. „Halt, Herr Troll, wie auch immer sie heißen mögen,“ schrie ich ihn an. „Ich gebe ihnen, was sie wollen, aber holen sie meine Expeditionsteilnehmer da heraus !“

„Was sie doch für ein Riesenglück haben,“ smirkte der Stollentroll, „denn mein wahrer Name ist IndianaSepp, der berühmte Abenteurer und Archäologe. Gegen eine geringe Aufwandsentschädigung von, sagenwirmal, 500 Pyras, kann ich Sie alle hier rausbringen. Zahlung bitte im Voraus und in bar. Kähä.“

Ich stand kurz vorm Verzweifeln. 500 Pyras – wo wollte ich die nur auf die Schnelle hernehmen ? Frustriert kickte ich gegen Amandas riesigen Rucksack – und erstarrte vor Schreck. In dem Rucksack bewegte sich etwas. Meine Beobachtung vom gestrigen Abend schoss mir durch den Kopf. Es war also doch keine Sinnestäuschung gewesen. Mit fliegenden Fingern knüpfte ich den Verschluss auf. Das Segeltuch fiel nach unten – und zum Vorschein kam ein gefesselter und geknebelter Berghutzerich.

„Eaglechen!“ riefen Germinator, phellpe und ich gleichzeitig.

„Das geht zu weit“ mischte sich plötzlich der Stollentroll ein und wedelte mit einem speckigen Papierlappen vor meiner Nase herum. „Ein illegaler Personentransport in meinem Dienstbereich, das ist eine bodenlose Unverschämtheit. Geheime Trollpolizei, sie sind alle verhaftet. Leisten sie keinen Widerstand und folgen sie mir zum Gefängnistrakt.“ „Mooooment mal,“ widersprach ich, „erst behaupten sie, sie seien vom Gesundheitsministerium, dann wollen sie der Abenteurer IndianaSepp sein, und jetzt verhaften sie uns einfach. Können sie sich nicht endlich mal für eine Maskierung entscheiden ? Man wird ja ganz durcheinander. Außerdem sehen sie doch, dass unser Schweinsbarbar hier überhaupt nicht transportfähig ist. Und diesen Hutzerich.. ja.. (ich griff in Notwehr zu einer dreisten Lüge) ...den sehe ich zum ersten mal. Und für das Verhalten der Expeditionsteilnehmer übernehme ich schon gar keine Verantwortung, sie sind mir freiwillig gefolgt. Wenden Sie sich in diesem Falle an Herrn Obstip von Kolon, der fungiert als mein Rechtsbeistand, ist aber zur Zeit leider irgendwo im Labyrinth verschollen. Sie haben Pech, ohne den Nattifftoffen gehe ich nicht von hier weg.“

Der Stollentroll kam ins Grübeln. Fast konnte man sehen, wie sich in seinem Kopf die Zahnräder drehten. Ich nutzte die Gelegenheit, Eaglechens Fesseln zu lösen und seinen Knebel zu entfernen. Kaum war er wieder sprechfähig, schimpfte er bereits los wie ein Rohrspatz. phellpe, die die ganze Zeit lang den Schweinsbarbaren liebevoll bemuttert hatte (ich fürchte, sie hat immer noch ein schlechtes Gewissen wegen des Tritts gegen sein Knie, für den sie überhaupt nicht verantwortlich zu machen ist), tat nun ihr Möglichstes, um den Hutzerich zu beruhigen, indem sie ihn mit einigen zarten Streicheleinheiten und Massagen verwöhnte. Ich verstärkte inzwischen den psychologischen Druck auf den Stollentroll. „So gern ich Ihnen das Geld sofort auszahlen würde, ich kann es nicht,“ jammerte ich, „weil die Hutze Zwarn den Geldsack bei sich trägt. Sie sehen, es ist in ihrem eigenen Interesse, uns schnellstmöglich wieder zusammenzuführen.“ Der Stollentroll schien jetzt klein beigeben zu wollen. „Also gut, ich suche deine Kameraden,“ bequemte er sich. „Aber wehe, ihr rührt euch hier von der Stelle. Und lasst es euch bloß nicht einfallen, euch von einem Konkurrenztroll ausbeuten... äääh... retten zu lassen. Ich komme wieder.“ Mit diesen Worten schlurfte er in den nächstbesten Stollen hinein und verschwand im Dunkel.

Kriegsrat war angesagt. Eaglechen wäre beinahe senkrecht an die Decke gegangen, als ich ihm mit aller Vorsicht den Ernst unserer Lage klar machte. Wie es allerdings Amanda geschafft hatte, ihn zu betäuben, zu fesseln und in den Rucksack zu stopfen, wollte er uns nicht verraten. Sobald sich die Gelegenheit dazu bot, das verkündete er auch ganz offen, würde er uns „Spinner“ verlassen und zur Nachtschule zurückkehren. Dort würde man ihn mit Sicherheit bereits sehnlichst vermissen. „Hauptsache weg von dem miefenden Schweinsbarbar“ motzte er. „Ehrlich, Germinator, deine Käsefüße sind langsam nicht mehr zum Aushalten.“ Germi protestierte. Seine Füße, so argumentierte er, seien seit Jahren unter einer soliden Dreckschicht versteckt. Käseduft könne da keinesfalls durchdringen. Nein, der Mief müsse von woanders kommen. Er schnupperte in die Luft. „Ja, jetz merk ich’s auch“ meinte er. „Dort, wo du stehst isses besonders stark. Guggt, der Boden hebt sich unner euch... nix wie weg von da. Bei Wodans Rache, das sieht ja echt gefährlisch aus.“

Tatsächlich beulte sich der Boden unter unseren Füßen bedenklich aus. Die Gepäckstücke purzelten auf die Seite, Pfanne und Kochtopf rollten davon. Dann drang ein Furzgeräusch an unsere Ohren, gegen das selbst Germinators unangenehmste Darmwinde wie eine Fhernhachische Schmusballade erschienen, übelriechende Gassäulen zischten aus den Spalten zwischen den Bodenplatten, ein unheimliches unterirdisches „PLOPP“ ertönte – und dann sackte alles wieder in sich zusammen. Mauerstücke rotierten um 180 Grad, Quallenlampen flammten auf wie Magnesiumfackeln, Kreidepfeile und Schriftzeichen erschienen überall auf den vibrierenden Stollenwänden, um mit geisterhafter Langsamkeit wieder zu verblassen. Phellpe schlug sich gegen die Stirn und kratzte mit ihrem Fingernagel einen grauen Belag von der Wand ab. „Irrläuferflechte,“ stöhnte sie. „Jetzt ist mir klar, warum unsere Markierungen verschwinden.“

Aus dem „Lexikon der erklärungsbedürftigen Wunder, Daseinsformen und Phänomene Zamoniens und Umgebung“ von Prof. Dr. Abdul Nachtigaller
Irrläuferflechte, die: Auch „Kreidefresser“ oder „Höhlenforschers Fluch“ genannt, hat dieser felsgraue, semi-intelligente Symbiot aus Alge und Pilz schon den Tod vieler braver Abenteurer verschuldet. Die Irrläuferflechte hat die Fähigkeit, Kalziumkarbonat zu absorbieren und (zwecks Erhöhung ihrer Widerstandsfähigkeit) in ihre Zellstruktur einzulagern. Dabei speichert sie die Formen der absorbierten Kreidesymbole, um diese unvermittelt an anderer Stelle wieder auftauchen zu lassen. So kann es vorkommen, dass einem verirrten Wanderer kurz vor dessen Erschöpfungstod noch die an die Wand geschriebene Warnung eines Vorgängers erscheint.

Germinator bekam einen stieren Blick. „Käsekuchen !“ brüllte er plötzlich. „Das riecht hier nach Käsekuchen, wie meine Mami ihn gebacken hat. Weg da, ich will meinen Käsekuchen, und zwar sofort !“ Er war nicht mehr zu halten. Bevor die Hutzen ihn bremsen konnten, krabbelte er zur Raummitte und begann, die Bodensteine herauszureißen. Unter diesen kam eine Schicht groben Gerölls zum Vorschein und nochmals darunter...

„KÄ-SE-KU-CHEN !!! Ich glaub es nicht !!! Ein gigantischer Käsekuchen !!!“ waren des Schweinsbarbaren letzte verständliche Worte, gefolgt von Schmatzen, Schlingen und einem unbeherrschten „HAAAAAPS,“ als der Fresssack sich wie ein Maulwurf in den Boden wühlte. Ich hatte die Befürchtung, dass er freiwillig nicht mehr zum Vorschein kommen würde.

Wie groß war wohl das Ding unter dem Fußboden ? Eaglechen, phellpe und ich machten Stichproben, entfernten hier und da Steinplatten, gruben, prüften und erreichten schließlich die Wände unseres Rastraumes, ohne auf einen Außenrand des „Käsekuchens“ zu stoßen. Offensichtlich erstreckte dieser sich unterhalb des gesamten Labyrinths. Germinator würde ziemlich lange zu daran knabbern haben.

„Germi“ rief ich in das Loch hinunter. „Schmeckt’s noch ? Geht es dir gut ? So melde dich doch !“ Keine Antwort. Entweder sprach der Schweinsbarbar nicht mit vollem Mund (was jedoch nicht zu seinem Naturell passen würde), oder er war schon zu weit weg oder... ich wagte nicht daran zu denken.

Aus dem „Lexikon der erklärungsbedürftigen Wunder, Daseinsformen und Phänomene Zamoniens und Umgebung“ von Prof. Dr. Abdul Nachtigaller
Gennfmilch, die: Milchigweiße, säuerlich riechende Flüssigkeit, die entsteht, wenn sich die Luft in der Nähe eines Dimensionsloches so sehr mit Gennf anreichert, dass das Gas unter dem großen Eigendruck seinen Aggregatszustand ändert und sich schlagartig verflüssigt. Die entstehende „Gennfmilch“ ist in sich stabil und gerinnt schnell, wobei sie eine cremige Konsistenz annimmt (dann auch „Sennff“ genannt) und schließlich zu wohlschmeckendem „Gennfkäse“ reift. Wird eine große Menge dieses Materials nun starker Hitze ausgesetzt (Thermalenergie, Vulkanismus), kann es zur Entstehung von einer Art „Käsekuchen“ kommen. Forscher spekulieren seit längerer Zeit, dass ein solcher „Käsekuchen der Dimensionen“ dazu fähig sein könnte, in seinem Inneren neue Dimensionslöcher zu erzeugen, was erklären würde, warum die Gesamtzahl der Dimensionslöcher trotz des stetigen „Zuwachsens“ alter DLs infolge Zeitschneckenschleimverhärtung immer weiter ansteigt.

Frustrierte Stimmen und unterdrückte Hutzenflüche ertönten aus einem Gang. Ich traute meinen Augen nicht. Amanda, Kulla, Zwarn, Obstip und Minus trotteten herein, schimpften über „dieses verdammte verrückte Labyrinth“ und schauten verwundert, weil ich sie so entgeistert anglotzte. „Verdammt,“ rief ich, „hat dieser miese.. äääh... talentierte kleine Troll euch tatsächlich gefunden und hergebracht !“

„Wovon reden sie denn, Herr DuFranck ?“ fragte Obstip indigniert zurück. „Wir brauchen keinen Retter und schon gar keinen dieser grauenhaft riechenden Schattenparasiten. Wir waren doch sicher angeleint. Natürlich waren meine Zweifel am Sinn dieser Aktion gerechtfertigt: Kein Ausgang in Sicht und eines der Garnknäuel haben wir unterwegs leider auch verloren, aber immerhin haben wir unbeschadet zurückgefunden... Oh. Was ist das ? Sie hier, Herr Eaglechen ? Das ist aber eine unverhoffte Überraschung. Sagen sie bloß, sie hätten solche Sehnsucht nach uns gehabt, dass sie mit Frau Linora zurückgekommen sind. Frau Amanda, was ist denn ? Freuen sie sich nicht über unseren Besuch ? Warum verstecken sie sich denn hinter dem Zwergpiraten ? Aberaberaber... Herr Eaglechen... wer wird sich denn einer Hutzendame so ungestüm an den Hals werfen ? Lassen sie Frau Amanda los, ich bitte sie. Sie röchelt ja schon vor Freude.“

Tatsächlich brauchte es Obstip, Zwarn und mich auf einer, Kulla und phellpe auf der anderen Seite, um das Hutzenpärchen wieder voneinander zu trennen. Mit einem saftigen „Ach fickt euch doch“ setzte Amanda sich schmollend in eine Ecke, was Kulla zu einem abschätzenden „Pöh“ veranlasste. Sie drehte ihrer Kollegin die Kehrseite zu und spähte in das Käsekuchenloch hinein, um nach schweinsbarbarischen Extremitäten zu forschen. Als sie mit käseverschmiertem Haar wieder auftauchte („Was ein öder Geschmack. Viel zuwenig Zimt!“), hatte sie jedoch nichts von Germinator entdecken können. Es half nichts. Jemand musste hinterhersteigen. Jemand, der möglichst klein war…

„Warum starrt ihr mich denn alle so an? Habt ihr Fugofisch gefressen, ihr Landratten?“ raunzte Minus uns an. „Na gut, bindet mir die Kordel an den Gürtel und ich gehe runter. Aber wehe, wenn der Hutzerich mit seinen Fummelfingern meinen Mädels zu nahe kommt. Hört ihr, Amanda, phellpe, Zwarn, Kulla: Lasst ihn nicht an euch ran, den Lustmolch. Hier steht euer treuer Beschützer, der mit euch durch dick und dünn geht, beim Klabautermann.“ Mit diesen Worten ließ er sich mutig ins Loch plumpsen.

Bericht des Zwergpiraten Minus der Große Schlachtschiffbezwinger:
Ha, potz Donner und Däuwel, das wird schamma Zeit, dass mich die Welle auch ma was berichten lässt, nüch. Beim hohlen Zahn des Roten Korsaren, jetzt muss ein erfahrener Seebär wie ich schon einen Käse entern, wou kommen wir da noch hin. Tjä Kinners, denn muss euch der gute Onkel Minus mal zeigen, wie souwas geiht. Halleluja, ich rutsch die Strippe runner wie ne geöilte Sprotte un häng gleich mal den Riecher innen Wind, ob mir da was von unserem Desertör reinweht, sou Darmwinde, nüch, die sind ja sein Markenzeichen jawollja. Aber das riecht hier alles nur nach Käs, igitt, ich bin doch kein Käskopp, die taugen eh alle nix außer der Frau Antje, wat ne flotte Deern is. Jedenfalls kletter ich weiter runner un denk noch: ,,Lieber fress ich nen Zentner Thunfisch samt Salzlake, als noch mal in so’n Stinkekäs reinzusteigen. Wenn’s nich wegen dem Germinator wär, was ja’n bannig guter Kumpel is, hätt ich auch die Mädels nie mit dem notgeilen Hutzerich alleine gelassen… wie der meine Zwarn so angestarrt hat, nee nee, hoffentlich passiert da nix, während ich wech bin“.

Un wie ich da so immer tiefer kletter, hör ich auf einmal, wie in meiner Nähe jemand gleichzeitich lacht un schmatzt, da denk ich, das kann ja nurma unser Germi sein, der is der einzige, wou ich kenne, wou so was fertichkriecht: lachen un dabei futtern und ich tast mich da mal vor, weil da in dem Käseklops isses stockfinster wie inner Dunkelkammer, naja, wenichstens fast, jawoll. Un ich komm dann in so’n Riesen-Käseloch un da steckt der Schweinekerl im Fußbouden fest un kischert sich eins, un gleichzeitich kratzt er mit beiden Pfoten links un rechts den Käs zusammen un schmeißt sich die Brocken ins Maul. Un ich schrei: „Beim Schlund der Gourmetica, Germi, willse nich langsam aufhörn un wieder rauskomm?“ un die Fresswutz antwortet: „Geht leider nich, ich steck innem Dimensionsloch fest un komm da nich mehr raus.“

Dascha nun en starkes Stück, nöch, un weil der Germi zufällich noch ne Leuchtqualle als Zwischenmahlzeit unner der Achsel versteckt gehabt hadde, kann man hier sogar was erkenn’ und ich geih um ihn rum und kuck mir den Schlamassel an. Taaaatsächlich… der Kerl steckt mit den Füßen voran in nem Mini-Dimensionsloch drin wie’n Korken in der Rhummflasche, un hätte er nich so ne fette Wampe, wär er schon längst auf Nimmerwiedertschüss inne Unendlichkeit gesegelt… un noch viel weiter. Auf jeiden Fall sacht er, dass da auf der annern Seite was is, was ihn an en Füßen kitzelt un an en Beinen zieht un weil das Dimensionsloch sich langsam dehnt wie’n billjes Ankertau, rutscht er gaaaaaanz langsam da rein. Na, dascha mal ne schöne Bescherung. Was, wenn er uns tatsächlich verloren geht in der Weite des Alls? Ich ziech wie ein Bekloppter an seinem Kragen, aber ich kriech ihn nicht raus. „Mach mal hinne“, sacht der Germinator, „Ich hab das Gefühl, das Ding hier kriecht gleich’n Schluckauf.“ Au Scheiiiiße. Wenn wir den Dicken verliern, wer trächt dann das Gepäck? Denk nach, Minus, denk nach, sach ich mir un dann fällt mir doch was ein.

Ich nix wie widder rauf zu de Kumpels, dallidalli un schrei dem Toffen zu, der grad zu mir ins Loch linst: „Obse, komm inne Gänge un schmeiß mir den Kristall ausem Höhlenhelm zu, sonst geht uns die Sau verlorn da unnen un wir finden den nie mehr wieder!“ Naja, der Elch is keen Dummer, was daher kommt, weil er in letzter Zeit so viel mit mir zusammen is. Un er kapiert gleich, was ich will un macht kein Geschiss, puhlt den Klunker raus un gibt en mir. Un ich renn hastewaskannste (joi, wir Zwerchpiraten ham das eben drauf) zu Germi runter, der wo schon beinahe ganz im Loch drinne ist un nur der Kopf un die Arme gucken noch raus. Ich drück ihm den Kristall inne Wurstfinger un schrei ihm noch ins Ohr: „Halt das Ding gout fest, olle Schwarte, wir finn’ dich wieder!“ un während ich Fersengeld geb, stülpt sich dat ganze Loch mitsamt Schweinsbarbar IN SICH SELBST REIN (dat is wirklich die Wahrheit, mir is jetz noch schlecht) un es macht ein Riesen-PLOPP un dann sin beide endgültich weg.

Ende des Berichtes von Minus der Große Schlachtschiffbezwinger

Als Minus mit einem Gesicht wie sieben Tage Flaute aus dem Käseloch wieder auftauchte, wusste ich, dass die Sache nicht gut ausgegangen war. Dass ich dennoch die Hoffnung nicht aufgegeben habe, liegt an Linora… und an IndianaSepp. Ja, richtig. Der Stollentroll tauchte auch wieder auf, gerade dann, als wir so richtig gefrustet waren. Das machte die Situation nicht unbedingt angenehmer. Zum Glück konnte Kulla ihn davon überzeugen, dass sie den Geldsack an den nun verschwundenen Schweinsbarbaren abgegeben habe und der Schattenparasit hatte geantwortet: „Kein Problem. IndianaSepp weiß, wo die kleinen Dimensionslöcher hinspringen, um Kraft zu tanken: zum Schuttabladeplatz der Zeit, kähä. Jetzt machen wir erst mal eine schöne Pause und essen was Gutes… und dann… gegen einen kleinen Aufpreis…“ „…bringst du uns schnurstracks dorthin, kähähä!“ beendeten wir alle (außer Amanda und Eaglechen) den Satz im Chor. Der Stollentroll schaute uns verwundert an. „Woher wisst ihr denn das?“ fragte er leicht beleidigt.

Aus dem „Lexikon der erklärungsbedürftigen Wunder, Daseinsformen und Phänomene Zamoniens und Umgebung“ von Prof. Dr. Abdul Nachtigaller
Schuttabladeplatz der Zeit, der: Sagenhafter Ort in der Dimension Chrosonopol, vergleichbar dem Auge eines Orkans, wo sich angeblich aller Müll und die bewältigte Vergangenheit aus allen Dimensionslöchern ablagern. Das Phänomen kann dadurch erklärt werden, dass Chrosonopol nur den Zufluss von Gennf und Dimensionsmaterie zulässt und keinen Weitertransport des mitgespülten Abfalls ermöglicht. Das würde bedeuten, dass jegliches Dimensionstreibgut, selbst die Moloch, irgendwann auf dem Schuttabladeplatz der Zeit landet, wenn es nur lange genug durch die Dimensionen segelt. Dies alles ist jedoch eine unbewiesene Vermutung, genau wie die Annahme, neu entstandene Dimensionslöcher würden sich als erstes nach Chrosonopol begeben, um dort wie an einer Mutterbrust ihre erste Gennfmahlzeit zu sich zu nehmen und sich mit Zeitschnecken zu versorgen.
Der im westlichen Europa recht bekannte Barde Reinhard Mey (offensichtlich ebenfalls ein erfahrener Dimensionslochreisender) hat diesen Ort in einem Lied besungen, in dem es heißt:
„Im Herzen von Chrosonopol,
zwei Megawatt nach Omega,
zehn hoch zwölf Angström gegen Süd
liegt, was bisher noch niemand sah.
(...)
Da also liegt, vom Eis befreit,
der Schuttabladeplatz der Zeit.“

Ja, und jetzt warten wir erst einmal auf Linora. Ihr Spürsinn wird uns helfen, den Kristall samt dem hoffentlich noch daran hängenden Schweinsbarbaren wiederzufinden. Und wir müssen uns auch um Amanda kümmern. Ich weiß nicht, was mit ihr los ist, aber sie sitzt die ganze Zeit lang apathisch in einer Ecke und lässt niemanden an sich heran, selbst Minus mit all seinem Zwergpiratencharme nicht. Wir werden am besten erst noch einmal darüber schlafen. Morgen sieht die Welt vielleicht schon wieder ganz anders aus.
Andray DuFranck
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Re: Expedition in die Tiefen der Nachtschule

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EXPEDITIONSTAGEBUCH
„Reise in die Tiefen der Nachtschule bis zur Mitte Zamoniens“

8. Tag

Die Zwangspause behagte mir überhaupt nicht. Erstens machte mich das tatenlose Warten rasend, zweitens war IndianaSepps Gesellschaft alles andere als angenehm. Außerdem fühlte ich mich nach dem überlangen Nachtschlaf noch recht ausgeruht und meldete mich daher freiwillig zur ersten Wache. Zuallererst aber trug ich den Topf mit dem Stollentroll-Essen (und dem darin sitzenden und lauthals schnarchenden Sepp) möglichst weit weg. Kulla knirschte immer noch beleidigt mit den Zähnen, denn der Troll hatte sich beim Zubereiten seiner Mahlzeit alle Mühe gegeben, die Kochkünste der Hutze derart mit Füßen zu treten, dass wir ihr Paddel verstecken mussten, da sie den Schattenparasiten ansonsten mit Sicherheit totgeprügelt hätte. Nicht nur, dass er sich gegen Zimt im Troll-Eintopf wehrte, nein, er besaß auch noch die Frechheit, seine Latschen mitzukochen, Nasenpopel hineinzuflitschen und als Höhepunkt in hohem Bogen rückwärts in die Brühe zu finkeln. Fast sehnte ich mich nach der Gesellschaft Trollocains zurück, was schon einiges heißen soll. Das Essen selbst hatte unser „Zwangsbegleiter“ unter Absingen schweinischer Lieder in der kalten Suppe sitzend eingenommen, während wir Übrigen (außer Amanda, die stoisch an ihrem Platz sitzen blieb und sich weigerte, auch nur einen Schritt zu tun) so weit als möglich zurückwichen, um nicht von oben bis unten bekleckert zu werden. „A stollentroll at its best“ kann man dazu nur sagen.

Nach zwei Stunden weckte ich Zwarn, die mich ablösen würde. Ich wunderte mich, dass auch Obstip und Minus sich erhoben, obwohl sie noch gar nicht an der Reihe waren. Der Nattifftoffe hatte offensichtlich einen neuen Plan. „Wir müssen sicherstellen, dass Frau Linora uns schnellstmöglich findet, wenn sie zurückkehrt,“ meinte er. „Leider haben die tückischen Echos bisher mein normalerweise ausgezeichnetes Nattifftoffengehör so sehr durcheinandergebracht, dass ich noch nicht einmal unsere relative Position feststellen konnte. Aber mir ist nicht entgangen, dass wir mit dem Schnarchen unseres „Freundes“ Sepp, dem Piepsen des Gennf-Detektors und dem Quäken von Frau Zwarns Kampfdudelsack drei durchdringende und genügend unterscheidbare Geräuschquellen besitzen, mithilfe derer Minus und ich durch Triangulateration feststellen können müssten, wo sich der bergauf führende Tunnel befindet. Wenn wir den haben, müssen wir uns im Notfall nicht mehr auf die Führung des Stollentrolls verlassen, sosehr mir auch der Gedanke widerstrebt, unseren Kumpan Germinator einfach zurückzulassen, was jedoch die Möglichkeit nicht ausschließt, dass wir später noch einmal hierher zurückkehren, um ihn zu suchen. Auf jeden Fall könnten wir aber Linora am Eingang zum Labyrinth „abfangen“, bevor sie vielleicht auf die Idee kommt, den Signalen des beim Schweinsbarbaren befindlichen Kristalls zu folgen und uns dadurch völlig verfehlt.“ Dies leuchtete mir ein. Meine Aufgabe sollte es daher sein, mit dem Kochtopf und dem darin befindlichen Sepp möglichst vorsichtig (und möglichst weit) in irgendeinen beliebigen Tunnel zu marschieren, natürlich angeleint, damit ich auch wieder zurückfinden konnte.

Die trübe Quallenlampe in einer Hand, den Bindfaden mit der anderen hinter mir abrollend und den Topf mit Sepp dabei auf dem Kopf balancierend, schob ich mich langsam durch einen Gang, der mir so vertrauenerweckend erschienen war, wie jeder der drei Dutzend anderen auch. Von Zeit zu Zeit klopfte ich an die Wand, was die dort klebende Irrläuferflechte jedesmal dazu veranlasste, Pfeile, Schriftzeichen und unbekannte Symbole in der Nähe erscheinen zu lassen. Offensichtlich reagierte sie auf Erschütterungen. Dadurch wurden mir auch innerhalb kurzer Zeit solch unverständliche Sätze wie „This wall says nothing,“ „Kilroy was here“ und „AmAnDa LiEbT OiAk“ präsentiert. Ich widerstand der Versuchung, den Sprüchen ein durchaus ernst gemeintes „Wer das liest, ist boof“ hinzuzufügen, was nicht allzu schwierig war, da ich die Kreide vergessen hatte. Schließlich hatte ich das Garnknäuel ganz abgerollt und stand nun schlotternd im Halbdunkel. Und es passierte, was nach Murphys Gesetz ja passieren muss... der Troll hörte auf zu schnarchen. Er wälzte sich stattdessen unruhig jammernd in seiner Brühe hin und her. Offensichtlich träumte er von Blumen, Vogelgezwitscher und Daseinsformen, die den Begriff „Ärger“ nicht kannten – ein wahrer Stollentroll-Alptraum eben.

Ich fluchte halblaut vor mich hin. Natürlich. Wieso geschah so etwas immer nur der Tratschwelle? Kaum stand ich an fester Position, fiel die Geräuschquelle aus und Obstip und Minus konnten nicht triangulaterieren. Sepp musste wieder zu schnarchen beginnen... aber wie? War es vielleicht möglich ihn mit einem Wiegenlied zu beruhigen? Ich musste es versuchen.

„Fänggenaufstand in Atlantis, Schreie gellen durch die Nacht, / In den Straßen und den Gassen werden Greife umgebracht...“ begann ich vorsichtig. Und das alte Teufelszyklopen-Kinderlied tat seine Wirkung. Als ich bei „Und an jeder Wäscheleine hängen abgerissne Beine / Sind sie mürbe und schön trocken, frisst man sie mitsamt den Socken“ angekommen war, schnarchte der Schattenparasit schon wieder selig. Und ich stand da im Dunkel, trommelte nervös gegen die Wand und wartete... wartete so konzentriert, dass ich vor Schreck laut aufschrie (wobei natürlich der Topf samt Sepp mit lautem Getöse auf den Boden donnerte), als mir von hinten jemand ins Bein zwickte.

„Nanu, warum so schreckhaft, Andray?“ fragte eine freundliche Stimme von unten. Mir fiel ein Eisberg vom Herzen. Hinter mir stand Linora. So sehr mir das Wellenherz in dieser Sekunde auch raste, ich konnte nicht umhin, die kleine Schlechte Idee hochzuheben und feucht abzuknuddeln. „Wie hast du uns in diesem verfluchten Labyrinth nur gefunden?“ wollte ich natürlich sofort wissen, aber Linora murmelte nur bescheiden etwas von „weiblichem Instinkt“ und „Erfahrung aus dem Bollogg-Hirn“ bevor sie das Thema wechselte und den Wunsch äußerte, auch den Rest der Expeditionsmannschaft begrüßen zu dürfen. Rasch setzte ich ihr daher die neue Situation auseinander. „Hülföh,“ tönte es derweil unter dem Topf hervor, „Hülft mür dönn koiner? Üch bün blünd göwordön! Huäää!“

In diesem Moment spürte ich ein dreimaliges Zupfen an der Leine. Das bedeutete, dass Obstip und Minus die Triangulaterationsmessungen beendet hatten und ich zurückkommen sollte. Ohne auf das Plärren des Trolls zu achten, nahm ich den Suppentopf am Henkel, ignorierte geflissentlich die herausragenden Stinkefüße IndianaSepps und folgte dem Verlauf der Schnur zum Lager zurück, während Linora mit der Quallenlampe vorneweglief. Unterwegs setzte ich die Gute gleich über unsere schwierige Lage und das Verschwinden Germinators in Kenntnis, was sie bedenklich mit dem Kopf wackeln ließ. „Ich könnte euch im Handstand und mit verbundenen Augen hier rausbringen“ meinte sie, aber von diesem ‚Schuttabladeplatz der Zeit‘, von dem unser kleiner schmieriger Freund hier spricht (sie zeigte auf den Topf mit den herausguckenden Troll-Latschen), habe ich noch nie etwas gehört. Wenn wir den Schweinsbarbaren wirklich retten wollen, werden wir dem Troll wohl oder übel vertrauen müssen. Eine ziemlich schlechte Idee, finde ich.“ Sie seufzte kurz, dann traten wir aus dem Gang heraus und erreichten endlich wieder unser Lager.

Linoras Rückkehr zur Expeditionstruppe wurde allgemein mit Freude aufgenommen – und schien auch einen positiven Einfluss auf Eaglechen auszuüben. Der Berghuter, wohl schon in Erwartung einer baldigen Heimkehr in die Raucherecke, bequemte sich sogar dazu, aufzustehen und brummig, zu fragen, wie es denn bitteschön jetzt weitergehen solle und ob wir faules Pack jetzt endlich in die Puschen kämen, bevor wir alle hier unten versauerten. Nur Amanda, völlig in tiefster Depression vergraben, würdigte Linora keines Blickes und schien sich zu einer Haarkugel zusammenrollen zu wollen, so sehr verweigerte sie sich ihrer Umgebung. Das konnte ja heiter werden...

Aus zwei weiteren Gängen erklang jetzt das Tappen von Schritten. Zwarn, Obstip und Minus kamen herbei und wickelten ihre Schnurknäuel auf, wobei sie mathematische Formeln vor sich hin murmelten. Schon vom beiläufigen Hinhören wurde mir ganz schwurbelig im Wasserkopf, denn die Zahlen und Begriffe, die da durch die Luft flogen, überstiegen meinen Tratschwellenverstand. Ich muss zu meiner Schande gestehen, dass die Gralsunder Trigeonometrie noch nie mein Lieblingsfach war, nicht einmal mein zweitliebstes.

Aus dem „Lexikon der erklärungsbedürftigen Wunder, Daseinsformen und Phänomene Zamoniens und Umgebung“ von Prof. Dr. Abdul Nachtigaller
Modulare Inter-Sensorische Triangulateration: Das Prinzip der Modularen Inter-Sensorischen Triangulateration (MIST) wurde vor 17 Jahren von dem Eydeet Hurzgall Ibn Meisinger an der Universität von Gralsund durch Zufall entdeckt. An einem besonders rabenschwarzen Montag ging in Hurzgalls Labor alles schief, was nur schiefgehen konnte, gleichzeitig verlor der Eydeet beim unerwarteten Auftreten eines vergessen geglaubten Innenohrproblems vollkommen die Orientierung und war nicht mehr in der Lage, zu eruieren, wo er sich befand. Direkt vor ihm explodierte mit blendendem Licht eine Petrischale voller Natrium-Phogarren-Konzentrat, links hinter ihm entwich gefrorenes Dullsgarder Friedhofsgas mit schrillem Zischen aus einem undichten Kühlbehälter und rechts neben ihm sprengte mit ohrenbetäubendem Geschrei das auf Dreimetergröße angewachsene Leidener Männlein „Runkelstiel“ (Hurzgall las in seiner Freizeit vorwiegend „Prinz-Kaltbluth“-Romane) seinen Glasbehälter und drohte, Hurzgalls heimlich verehrte Laborassistentin Annarita zu verschleppen. In diesem Moment überfiel Meisinger die Erkenntnis: „Ich weiß jetzt, wo ich bin! Ganz tief in der Scheiße!“
Nachdem der Eydeet aus dem Universitätsklinikum entlassen worden war, formulierte er auf Grundlage dieses Vorfalls eine Vermessungstechnik, die nur sensorisch hochbegabten und mit logischer Denkfähigkeit ausgestatteten Daseinsformen zugänglich ist. Es würde zu weit führen sie hier im Detail zu erklären, nur soviel sei gesagt: es genügen drei deutlich unterscheidbare und hinreichend starke gleichartige Reizquellen (Geräusche, Gerüche, Lichter etc.), um mit Hilfe der Hurzgallschen Modularformel S1*n²-[cos¥+S2(µ/3-c³)]ª~(Grundvektor x)*(zΏ/S3) bezogen auf NN und unter Einbeziehung der BrechungskonstanteΔ*[sin p 3/¿-275042895,1903] = π/2 den eigenen Standort sowie den Anstiegsvektor des Untergrundes zu bestimmen.
Zum Triangulaterieren fähig sind außer Eydeeten (die sogar auf Grund dreier verschiedener Reizquellen peilen können) zum Beispiel Wolpertinger (Geruch, Gehör), Nattifftoffen (Gehör, Analysis), Zwergpiraten (Richtungssinn) oder Horchlöffelchen (Gehör), sofern sie zusätzlich geistig in der Lage sind, die Triangulaterationsformeln zu verstehen und anzuwenden. Berghutzen hingegen, die sich normalerweise mit einer nicht rational fassbaren „aus-dem-Bauch-heraus“-Methode orientieren, stehen dem Phänomen der Triangulateration äußerst skeptisch gegenüber.

Schließlich nickten Obstip und Minus einander zufrieden zu (wobei Minus sich natürlich nicht zurückhalten konnte, die Hutzendamen mit seinem entwaffnenden Charme anzulächeln) und der Nattifftoffe kritztelte etwas in sein ledernes Notizbüchlein, welches er ja stets bei sich trägt. Danach ruhte er sich jedoch nicht etwa auf seinen Lorbeeren aus, sondern eilte zu Amanda hinüber, deren Besorgnis erregender Zustand ihm nicht entgangen war. Unruhig fühlte er ihr den Puls und leuchtete in ihre starr nach vorne blickenden Pupillen. Nach der Untersuchung stellte er sich dann unauffällig neben mich und teilte mir seine Erkenntnisse mit. Wie ein Stich fuhr es mir da durch die Seele: Amanda litt unter der lebensgefährlichen Abschüssigen Tiefendepression.

Aus dem „Lexikon der erklärungsbedürftigen Wunder, Daseinsformen und Phänomene Zamoniens und Umgebung“ von Prof. Dr. Abdul Nachtigaller
Abschüssige Tiefendepression, die: Die Abschüssige Tiefendepression (Subalternismus) ist eine glücklicherweise recht seltene Allergiekrankheit, die erst in extremen Gebirgstiefen zum Ausbruch kommt und hauptsächlich Daseinsformen befällt, die nicht an die Luft in kalten, dunklen Höhlen gewöhnt sind oder die eine unbewusste Abneigung dagegen hegen. Der Verlauf führt, ausgehend von schlagartig eintretenden Depressions- und Rückzugsanwandlungen über die komplette Nahrungsverweigerung hin zur Starrsinnigen Katatonie und, im Extremfall, zu Auszehrung und Herzmuskelkrampf. Es heißt unter Höhlenforschern, der Tod durch Abschüssige Tiefendepression sei eine der langsamsten und qualvollsten Todesarten, die es gibt.
Gegen die Abschüssige Tiefendepression ist kein Heilmittel bekannt. Erkrankte müssen schnellstmöglich ans Tageslicht gebracht werden, bevor sie sich sogar gegenüber ihren eigenen sensorischen Eindrücken verschließen und irreparable Schäden davontragen. Beginnt der Patient, blind ins Leere zu starren und sich kugelförmig zusammenzurollen, ist es meist schon zu spät.

IndianaSepp, über und über mit Trollsuppe bekleckert, hatte sich indes zappelnd aus dem Kochtopf herausgestemmt. Natürlich smirkte er über beide Backen, als er mit gespitzten Ohren unsere besorgten Gespräche verfolgte und sich schon in Vorfreude auf den kommenden Geldsegen die Hände rieb. Dann zog er ein zerfleddertes, speckiges Büchlein aus dem Hosenbund, schwenkte es in der Luft und rief mit theatralischer, um Aufmerksamkeit heischender Stimme: „Maine Damän und Härrän, härgehörcht und Lauscher aufgespärrt. Ich als Ihr därrzeitig geheuerter Raiseföhrer möchte Ähnen nun die weitere Route beschreiben, auf dass alle Bescheid wissen, was vor uns liegt. Onser Ziel ist der Schottabladeplatz der Zeit, der, wie Sie alle wissen, in der Dimension Chrosonopol lägt. Aaaaaaber, höre ich sie fragän, wiiiie sollen wir da hinkommen? Oder sänd wir etwa schon ganz nahe dran?“ Der Stollentroll machte eine Kunstpause und glotzte wie ein Uhu in unsere angespannten Gesichter.

„Aaalso ich habe zwei Nachrichten för Sie, eine gote und eine schlechte“ fuhr er endlich fort. „Zuärst die gote... nach Chrosonopol geht es dorch ein ‚domestiziertes Dimensionsloch‘. Däse Reise dauert nor eine Sekunde.“ Wir entspannten uns ein wenig. Noch bestand also Hoffnung. Aber wir hatten uns (natürlich) zu früh gefreut.

„Leiiiiider dauert där normale Wäg zom ‚domestizierten Dimensionsloch‘ etwas länger. Wir mössen dorch den Langen Korridor (7 Tage), dann dorch die Kavernen der Langeweile (9 Tage), dann die Ewige Rampe hinonter (4 Tage), dorch die Grotte der Extremen Gleichgültigkeit (11 Tage), öber den Nachtwandlersteg (3 Tage) än die Schneckengruft (8 Tage) ond am Ände dorch den Gähnenden Kriechgang (6 Tage). Alles seeeehr langweilig. Alles seeeehr sicher. Genau richtig für Touristen wie euch. Rechnen wir noch die Ruhepausen dazu, dann sind wir in spätestens drei Monaten da. Kähä.“

Plumps. Amanda kippte nach vorne um.
Oha. Zeit, in Panik auszubrechen.

Man kann an einer Tratschwelle viele gute Eigenschaften finden (so man denn lange genug sucht), aber eines ist sicher: Nerven aus Stahl gehören nicht zu den Stärken unserer Spezies. Da hilft auch keine Gelatine. Ich warf die Arme in die Luft und rannte laut zeternd durch den Raum.

„Omeingottwirwerdenallesterben! Omeingottwirwerdenallesterben! Omeingottwirwerdenallesterben! Omeingottwirwerdenallesterben! Omeingottwirwerdenallesterben! Omeingottwirwerdenallesterben! Omeingottwirwerdenallesterben! Omeingottwirwerden...AUA!“

Eaglechen vertrat mir den Weg, ließ mich mit einem satten ‚Platsch‘ auflaufen und drosch mir die Suppenkelle auf den Schädel, so dass ich betäubt zu Boden ging. Dann packte er mich um die Wellenmitte und stopfte mich in Amandas Rucksack, wo ich Zeit und Muße hatte, wieder zu mir selbst zu finden. Und in dieser Krise war es ausgerechnet die zartfühlende phellpe, die nun die Initiative ergriff.


Bericht der Berghutze phellpe:

„Hutzenschwestern und –brüder! Toffen! Zwergpiraten!“ brüllte ich durch den Raum. „Haltet ein! So geht’s nicht! Wir dürfen jetzt nicht den Kopf verlieren! Wir dürfen die Hoffnung nicht sausen lassen! Nur intim können wir kommen... äh... ich meine... im Team können wir vorwärtskommen! Wir müssen uns gegenseitig achten und lieben! Der Eagy den Minus, der Obsti die Kulla... ja, lasst uns einander knurschen... huch?“

Ich erschrak fürchterbar bis in die untersten Rüschen, als Eaglechen einen Wutschrei ausstieß. „Jetzt is aber genug!“ wütete dieser herrlich wilde Krafthutzerich, „Keiner kann mir befehlen, lieb zu diesem Zwergpiraten zu sein. Mir reicht’s! Ich geh jetzt! Egal wohin. Aber ich gehe. Schön‘ Tag noch!“ Damit grabschte er sich Amandas Rucksack samt unserem Herrn Expeditionsleiter drin und bevor ich ihn festhalten konnte, stürmte er, vor Zorn immer wieder auf den Boden stampfend, in einen der dunklen Gänge hinein.

„Darf ich vielleicht auch noch mal was sagen?“ meldete sich in der folgenden betretenen Stille die nun etwas eingeschüchtert klingende Stimme von IndianaSepp, „Also das ist so... es gibt da auch noch eine Abkürzung zum Dimensionsloch, die dauert nur vier Stunden und ein paar Schrammen. Man muss dazu in einen Schacht springen, aber der ist gut getarnt und ihn aufzuspüren kostet euch nur...“

Ein neuerliches festes Fußaufstampfen drang an meine zarten Öhrchen, es folgte das Splittern einer Steinplatte irgendwo in der Tiefe eines dunklen Korridors und dann ein schriller, langsam schwächer werdender Schrei.

„Upps“ schluckte IndianaSepp etwas enttäuscht. „Mir scheint, euer Freund hat ihn schon gefunden. Kähä.“

Na, das ist ja wohl die Höhe, dachte ich mir. Nicht genug, dass der plöde Troll immer wieder unseren Herrn Expeditionsleiter aufs Kreuz legt, nein, jetzt versucht er die Masche auch schon bei uns Hutzen. Der ist wohl falsch gepolt. Ich hab ihm mal kurz meine spitzgefeilten Fingernägel vor die Nase gehalten, die Zwarn hat ihre scharfen Zähne gebleckt und Kulla liebevoll ihr Paddel getätschelt. Ja, so muss man die Kerle behandeln, damit sie kapieren, woher der Wind weht. Der Stolli ist also beinahe ins nächste Rattenloch gekrochen, bevor er sich zusammengerissen und „Hinterher, mir nach!“ gequiekt hat. Aber Obsti hat zum Glück die Nerven behalten.

„Nur nichts überstürzen“ hat er kommandiert und den Stollentroll mit spitzen Fingern am Schlafittchen festgehalten, „irgendjemand muss auf Amanda und das Gepäck aufpassen. Zwarn, phellpe, Linora und ich begleiten IndianaSepp. Sollten wir in vierundzwanzig Stunden nicht zurück sein, müsst ihr euch irgendwie ohne uns zurück zur Nachtschule durchschlagen. Die Wahrscheinlichkeit, dass wir wieder zusammenfinden, ist dann fast gleich null. Minus, hier ist mein Notizbuch. Ich habe aufgeschrieben, wie du den nach oben führenden Weg findest. Mach alles so, wie ich es dir vorhin beim Triangulaterieren gezeigt habe, dann schafft ihr es. Und jetzt... wünscht uns Glück.“

Hui, war der Toffe diesmal kurz angebunden. Ganz der Held eben. Und diese Führungsqualitäten... hach. Da wird mir immer ganz blümerant bei so viel Männlichkeit. Der Minus guckte schon ganz säuerlich, aber er sagte nichts, weil die Situation ja schon ernst genug war. Obstip schnappte sich eine Lampenqualle, stopfte ihr eine Leuchtpille in den Schlund und griff sich einen seiner Rucksäcke und den Spazierstock. Dann gab er IndianaSepp einen herzhaften Schubs und gemeinsam rannten wir los.

Der Stollentroll kannte das Labyrinth wie seine schleimige Westentasche, soviel war sicher. Ohne Zögern fand er den richtigen Gang und bei keiner Abzweigung musste er zweimal überlegen. Es dauerte nur wenige Minuten, bevor wir an einem kreisrunden Loch im Fußboden standen, aus dem ein käsiger Geruch drang. Ringsherum lagen Splitter einer zertrümmerten Steinplatte, die wohl einmal zum Verschluss der Öffnung gedient, aber Eaglechens kräftigem Aufstampfer nicht stand gehalten hatte. Sofort untersuchten die Zwarn und ich die Wände des Lochs und prüften, ob wir da runterklettern konnten. Aber, das sah ich gleich trotz meiner jungen Jahre, das war kein gewöhnliches Eisenmadenloch. Okay, der Durchmesser stimmte, aber die Wände waren blankpoliert und mit einer Art Fett eingerieben, was sie voll glitschig machte und sich bestimmt auch beim Runterrutschen in alle Haare setzte, was für eine Sauerei. Meine schönen Schleifchen. Irgendjemand würde dafür bezahlen müssen, das schwor ich mir.

„Wenn ihr euren Hutzenkumpel und den Wellerich wiedersehen wollt, müssen wir hier durch, aber fix!“ drängelte der Stolli. „Keine Angst, das tut nicht sehr weh, mir jedenfalls nicht, kähä“. Damit zog er seine Hose runter (Uch, was ein Anblick, mir und Linora ist ganz übel geworden), setzte sich auf sein horniges Hinterteil und ließ sich in die Öffnung plumpsen. Und weil der Herr von Kolon jetzt das Kommando übernommen hat, geb ich auch die Berichterstattung gern an ihn weiter, aber bitte nicht zu weitschweifig, Obsti, du weißt schon, denk dran, dass dein Geschrobtes nicht nur von Nattifftoffen gelesen wird...“

(Ende des Berichts der Berghutze phellpe. Herr Obstip von Kolon macht weiter.)

Nun denn, als neuer kommissarischer Expeditionsleiter möchte ich mich bei Ihnen erst einmal für Ihr Vertrauen bedanken und festhalten, dass ich mich dessen würdig erweisen werde und die Expedition nach bestem Wissen und Gewissen, wie es schon der eher unbekannte Sigobertus Brünnenfeld tat, durch diese Stollen führen.. aua, Frau phellpe, ist ja schon gut, ich werde mich ein wenig zurücknehmen. Seufz.

Aus dem „Lexikon der erklärungsbedürftigen Wunder, Daseinsformen und Phänomene Zamoniens und Umgebung“ von Prof. Dr. Abdul Nachtigaller
Sigobertus Brünnenfeld: Ein Hundling, der vor über 200 Jahren lebte und sich als Abenteurer, Wissenschaftler und Autor versuchte. Seine Leidenschaft für das Unbekannte trieb ihn (gleich nach seinem Studium der Geologie) von Gralsund aus in die weite Welt, wo er zusammen mit seinem Freund, dem Menschen Votan von Oslo, etliche Abenteuer erlebte, bevor er sich einer Expedition auf der Suche nach der Quelle des Flusses Finsterwasser anschloss. Gerade noch einmal mit dem Leben davongekommen, schrieb er daraufhin im Fieberwahn seine Erlebnisse nieder und ließ sie unter dem Titel „Dorthin, wo die Sonne nie scheint – auf Schnüffeltour am Arsch der Welt“ auf eigene Kosten veröffentlichen. Leider glaubte ihm niemand und die Bücher wurden nicht verkauft. Es ist anzunehmen, dass Brünnenfeld aus Frustration über sein Scheitern den Freitod in den Friedhofssümpfen von Dull suchte.

Dies war wohl der steilste Finsterbergmadenstollen, den ich je gesehen hatte. Er führte fast senkrecht in die Tiefe, aber es blieb uns nichts anderes übrig, als IndianaSepp hinterherzuspringen. Wenn er den Sturz überleben würde, dann wir erst recht. „Im Abstand von zehn Sekunden!“ rief ich meinen Begleiterinnen zu, dann hüpfte ich so würdevoll wie möglich in den Schacht.

Was für eine Fahrt. Den Beginn kann man wohl nur mit dem Sturz in ein Dimensionsloch vergleichen, lediglich mit dem Unterschied, dass die erlösende Saloppe Katatonie nicht eintritt und die Sitzfläche stattdessen immer heißer wird. Als es nach verbranntem Fell zu riechen begann, wechselte ich die Position, aber das ging auch nicht lange gut. Kaum hatte ich mich gedreht, begann es irgendwo anders, unangenehm zu werden. Zwischendurch versuchte ich, meinen Rucksack als eine Art Kissen zu benutzen, aber als ich mich zum erstenmal auf eine beinahe glühende Schnalle stützte, gab ich diese Idee rasch wieder auf. Wir stürzten und stürzten. Irgendwann schien mein gesamter Körper nur noch eine einzige große Brandblase zu sein, so kam es mir wenigstens vor. Dann, ich wagte es fast nicht mehr zu glauben, ging die Fahrt vom Sturz in ein sanfteres, nicht mehr ganz so steiles Rutschen über. Das war die gute Sache. Leider wand sich die Rutsche jetzt in immer kleiner werdenden Spiralen weiter. Das war für mein empfindliches Gleichgewichtsorgan eher schlecht. Nattifftoffen hassen nichts mehr, als einen „Drehwurm“ zu bekommen. Erstens ist es höchst würdelos und zweitens dauert es Stunden, bis die Welt um einen herum wieder zu rotieren aufhört.

Dann war der Schacht zu Ende. Ich stürzte frei nach unten, auf eine, wie es aussah, ebene Fläche zu. „Lebewohl, du schöne Welt“ dachte ich resigniert. Aber dann sah ich den Kopf des Stollentrolls aus der scheinbar festen Erde auftauchen.
PLATSCH.
Das war keine Erde, sondern weicher Schlamm. Gerettet.
AUA.
Der Schlamm war leider nicht kühl, wie ich insgeheim gehofft hatte. Er war kochend heiß. Jedenfalls kam es mir mit meinem aufgeschürften Körper so vor. Ich machte, dass ich Luft bekam und mich auf trockenen Grund vorkämpfte, bevor hinter mir phellpe in den klebrigen Matsch eintauchte. Es folgten Zwarn und Linora. Alle hatten es lebend, wenn auch mit etlichen Blessuren, überstanden. Leider vermisste ich nach dem Sturz in den Dreck meinen Höhlenhelm. Er musste sich beim Aufprall gelöst haben und war nun in den Tiefen dieses Schlammlochs versunken. Was für ein verwünschtes Missgeschick!

„Schlammpackungen sind gesund, kähä“ keuchte IndianaSepp, der sich überhaupt nicht die Mühe machte, den Dreck von seiner Haut zu entfernen und sich lediglich wieder die Hose hochzog. „Ihr ruht euch erst mal aus, ich sehe mich um.“ Er zwinkerte phellpe anzüglich zu, bevor er weglief. „Hasta la vista, Baby“, rief er. „Ich komme wieder.“ Ich wusste nicht, ob ich das bedauern oder begrüßen sollte.

Da es momentan nichts wirklich Sinnvolles zu tun gab und wir gezwungen waren, die Rückkehr des Stollentrolls abzuwarten, machten wir aus der Not eine Tugend und pflegten uns, so gut wir konnten. Aufseufzend streckte ich mich auf dem harten Boden aus, ließ den Schlamm seine heilende Wirkung tun und wartete, unterstützt von speziellen Atemübungen, bis sich mein Gleichgewichtssinn normalisierte und der Brechreiz langsam nachließ. Währenddessen krabbelten die unglaublich zähen Hutzendamen schon wieder überall herum, steckten ihre Fellnasen in alle Ecken und erforschten mit Linoras Unterstützung die unübersichtliche Kaverne. Ich verkniff mir, ihnen ein warnendes „Verlauft euch nicht!“ nachzurufen, da dies sowieso nur eine „liebevolle“ Reaktion Zwarns provoziert hätte. Das muss sich ein kultivierter Nattifftoffe ja nicht freiwillig antun. So lehnte ich mich zurück, sperrte die Ohren auf und ließ die sonofaktorischen Reize meiner Umgebung auf mich einwirken.

Die Stille der Grotte wurde in unregelmäßigen Abständen von beunruhigenden Lauten unterbrochen. Ja, es schien sogar so, als hätten sich hier die „hundert beunruhigendsten Höhlengrusler“ zur Jahreshauptversammlung eingefunden. Ich spreche nicht vom regelmäßigen Wassertropfenklopfen oder dem fast unhörbaren Keuchen der Finsterbergbrise, nein, aus jeder Richtung attackierten mich Geräusche wie das widerliche Knirschen und Mahlen von Zähnen, das Platschen eimergroßer Wassermengen auf heiße Felsbrocken, das rasselnde Husten und klumpenweise Ausspucken stinkenden Schlamms sowie das Brechen uralter Knochen und übergroßer Chitinpanzer, so dass sich meine Nackenhaare aufrichteten und ich mit der Zeit ernstlich an der Rückkehr unseres Führers zu zweifeln begann.

Im fahlen Licht einiger Quallenlampen beobachtete ich ein paar Schmadderer, die ihre unförmigen Körper durch den weichen Schlammsee wälzten. Manchmal lohnt es sich, diese harmlosen Tierchen zu reizen, denn der „Müll“, den sie aus dem Dreck sieben, kann auch wertvolle Artefakte enthalten, die im Lauf der Jahrhunderte ihren Weg in den Morast gefunden haben. Man muss nur aufpassen, dass man nicht getroffen wird, denn die Biester sind auch im Dunkeln in der Lage, erstaunlich gut zu zielen.

Aus dem „Lexikon der erklärungsbedürftigen Wunder, Daseinsformen und Phänomene Zamoniens und Umgebung“ von Prof. Dr. Abdul Nachtigaller
Schmadderer, der: Schmadderer sind eine in zähem Schlamm lebende Unterart der Ringelwürmer (Annelida) mit einer Länge von ca. zwei und einem Durchmesser von ca. einem Meter. Ihr rostroter bis dunkelbrauner, tonnenförmiger, gerippter Körper frisst sich ständig wie ein Bohrer durch den weichen Untergrund und filtert dabei Kleinstlebewesen aus, von denen sich das Tier ernährt.
Saugt der Schmadderer einen größeren Fremdkörper ein, so ist er in der Lage, diesen in einen Hautbeutel luftdicht einzuschließen und in einer speziellen Nebenhöhle seines Schlundes beliebig lange aufzubewahren. Kommt er dann in die (zugegebenermaßen äußerst seltene) Situation, sich verteidigen zu müssen, so spuckt er diese seit Jahren angesammelte „Munition“ zielsicher gegen den Angreifer, um ihn in die Flucht zu schlagen. Dabei kann es durchaus vorkommen, dass wertvolle Fundstücke und Gerätschaften wieder zum Vorschein kommen, deren Besitzer vor hunderten von Jahren ihr Ende in den Schlammfluten fanden.

Mit einem dumpfen „Plounk“ landete darum gleich darauf ein faustgroßer Erzbrocken auf der ledrigen Wurmhaut. Wenn man Schmadderer reizt, darf man nicht an einer Stelle stehen bleiben, denn die „Quittung“ folgt auf dem Fuße. Also einen Nattifftoffensprung zur Seite hüpfen, gut zielen und erneut werfen. Plounk. Wieder ein Treffer. Die wenigen jetzt heranfliegenden Geschosse konnte ich mithilfe meines Gehörs bereits lokalisieren, als sie das Maul des Wurms verließen. Noch einmal. Plounk. Und wieder Plounk.

Das war genug… ein Hagel von Hautbeuteln wurde in meine Richtung abgefeuert. Über eine solch primitive Verteidigungsmethode konnte ich natürlich nur müde lächeln. Dann aber stieß der Schmadderer zu meiner Überraschung ein tutendes Zischen aus, das in der gesamten Höhle widerhallte und meinen Ohren empfindlich zusetzte. Und nicht nur das, es alarmierte auch ein Dutzend weiterer Würmer, die jetzt ebenfalls begannen, sich auf mich einzuschießen. Das war ja wohl die Höhe! Warum schweigen sich alle erhältlichen Zoologieschwarten über solche Details im Wurmverhalten aus? Da sieht man wieder einmal mehr, dass es doch wünschenswert wäre, eine direkte Schneckenpost-Schnellverbindung zwischen der Nachtschule und der Atlantischen Zentralbibliothek zu installieren, um jederzeit den aktuellen Wissensstand zu jeder nur denkbaren Frage abrufen zu können, wenn dies notwendig ist - und was diese prekäre Situation, in die ich mich auf Grund des eindeutig unverschuldeten Wissensdefizites gebracht hatte, mit Sicherheit vermieden hätte… AUA! Das war also nun das Resultat meiner tiefschürfenden Situationsanalyse: ein mit einem harten Gegenstand gefüllter Fleischklumpen hatte mich am Oberschenkel erwischt. Wie peinlich.

„In Deckung, rasch, sucht Deckung, Leute!“ rief ich Linora und den Hutzen zu, bevor ich mich wieder auf den Boden warf und in ziemlich unwürdiger Pose eine Senke oder einen sicheren Schutzwall zu erreichen suchte. Aber es war wie ein Schrecksenfluch, nirgends befand sich auch nur die allerkleinste Kuhle oder ein passender Felsen, hinter den ich meinen Heldenkörper hätte quetschen können. Und das gerade jetzt, wo eine ganze Horde verrückt gewordener Schmadderer sich auf mich einzuschießen suchte. So hopste und verrenkte ich mich in einem wilden Tanz der Verzweiflung, um zumindest die gefährlichsten Brocken von meinen zarten Ohrmuscheln abzuhalten. Und dann plötzlich, als mir langsam die Kräfte zu schwinden drohten, kratzte hinter mir Fels auf Fels und in der Höhlenwand erschien eine Öffnung, aus der heißer, schwefliger Dampf quoll.

„Ugalabuga! Raschrasch! Elchmann hier rein! Kommkomm!“ drängte eine raue, beinahe weiblich klingende Stimme. Unglaublich. Konnte dies eine höhlenlebende Art von Rettungssaurier sein? Ich taumelte auf die Stimme zu, dann fegte mir jemand die Füße unter dem Leib weg und ich fiel in die Arme mehrerer Personen, die mich mit eisenharten Fäusten packten und in den dunklen Tunnel, der sich so unerwartet aufgetan hatte, hineinzogen.

Aus der Nebelsuppe schälte sich die gebeugte Gestalt einer uralten, potthässlichen Menschenfrau, deren lange graue Haare bis fast auf den Boden reichten und nur notdürftig ihren fast nackten Oberkörper verhüllten. Sie spähte nach vorn und rülpste laut, während mich mindestens ein halbes Dutzend ihrer „Kolleginnen“ zu Boden drückten oder sich mit ihren knochigen Hinterteilen auf meinen Rücken hockten. Von feuchten Körperpflegetüchern und Mundwasser hatten diese Furien mit Sicherheit noch nie etwas gehört. Die Anführerin, erkennbar an zwei fetten Leuchtquallen, die sie als Büstenhalter benutzte, zog aus einer ledernen Umhängetasche eine Art Tröte heraus und blies in das Mundstück, wodurch sie quäkende, flatulenzartige Töne erzeugte. Jedenfalls nehme ich wohlerzogen an, dass die Geräusche von dem Instrument und nicht von irgendwelchen anderen Körperöffnungen, deren nähere Beschreibung ich mir hier ersparen möchte, erzeugt wurden. Zu meiner Überraschung zeigte sich sofort eine positive Wirkung der primitiven Musik: das Bombardement der Schmadderer ließ nach und die Würmer verzogen sich unter Zischen und unwilligem Blubbern zurück in die Tiefen des Schlammsees. Dadurch erhielt ich Gelegenheit, mir meine „Retterinnen“ näher anzusehen. Und ich schäme mich nicht, zuzugeben, dass ich diesen Entschluss kaum zwei Sekunden später wieder bereute (wobei ich sicher bin, dass es jedem aufrechten Zamonier genauso ergangen wäre wie meiner Wenigkeit. Menschen… brrrr!)

Aus dem „Lexikon der erklärungsbedürftigen Wunder, Daseinsformen und Phänomene Zamoniens und Umgebung“ von Prof. Dr. Abdul Nachtigaller
Finsterberg-Amazonen, die: Finsterberg-Amazonen sind eine in den Tiefen der Finsterberge beheimatete (und dort wahrscheinlich degenerierte) Restgruppe von Menschen weiblichen Geschlechtes, die sich nach dem kollektiven Auszug der Gattung homo sapiens in Zamonien gehalten haben. Wie die Bewohner des Ewigen Tornados haben sie sich zu einer Art „Urgesellschaft“ zurückentwickelt, deren Mitgliedern man besser mit Vorsicht begegnen sollte, solange man nicht ihr Vertrauen besitzt oder mit zumindest 98-prozentiger Sicherheit einschätzen kann, was sie als nächstes vorhaben.
Über Aussehen und Lebensgewohnheiten dieser interessanten Spezies ist leider herzlich wenig bekannt. Zwar hat Sigobertus Brünnenfeld sie in seinem Buch „Dorthin, wo die Sonne nie scheint – auf Schnüffeltour am Arsch der Welt“ zumindest erwähnt, angeblich sogar genauer beschrieben, doch möchte ich diese Schriften nicht gerade als „wissenschaftlich fundiert“ bezeichnen. Weitere Spekulationen sind müßig, da das Werk als verschollen gilt.
Rätselhaft bleibt, warum diese Wesen (so es sich denn tatsächlich durchgängig um Frauenspersonen handelt) nicht längst aus natürlichen Ursachen ausgestorben sind. Wie üblich müssen da wohl wieder die bekannten Gründe (unnatürliche Vermehrungsmethode, lebensspendende Finsterbergalge, Raum-Zeit-Dimensionsverschwurbelung etc.) zur Erklärung herangezogen werden, seien sie auch noch so fadenscheinig.

Halbnackige, dürre alte Vetteln. Damit ist wohl schon das meiste gesagt. Denkt man sich dazu noch das Fehlen jeglicher Reinigungskultur, die Abwesenheit von Zahnärzten, einen unstillbaren Hang zum Tätowieren bar jeden künstlerischen Talentes und als „Krönung“ Manieren, die selbst den verschwundenen Germinator vor Neid (oder Übelkeit) hätten erblassen lassen, dann ergibt sich daraus: Es handelte sich wohl um typische Menschen, wie sie auf der ganzen Welt (außer in Zamonien) milliardenfach dahinvegetieren.

Eine der amazonischen Großmütter (wäre ich eine Tratschwelle, würde ich sie wohl als „Omazone“ bezeichnen) beugte sich über meine Nase, zog an meinem gepflegten Kinnbärtchen und murmelte dabei unverständliche Worte. Dass ich von ihrem Mundgeruch nicht sofort die Besinnung verlor, verdanke ich mit Sicherheit nur meiner eisernen Konstitution. In diesem Moment hörte ich ganz in der Nähe die Stimmen der Hutzen. Offenbar waren auch sie dem Lockruf der Amazonen gefolgt. Bei allen zamonischen Gesetzbüchern, welche Katastrophe! Niemals durfte ich zulassen, dass die Damen mich in dieser niedergeworfen-unwürdigen Stellung sahen. Mein Ruf als Held der Finsterbergexpedition wäre mit einem Schlag dahin gewesen. „Na wartet, ihr ungewaschenen Haselhexen!“ knirschte ich, spannte meine Arm- und Beinmuskulatur an und sprang mit einem Satz auf die Füße, so dass die auf mir sitzenden Stinkeweiber wie dürre Stöcke zur Seite flogen. Insgesamt könnte ich mir also eine geglückte Selbstbefreiungsaktion attestieren – doch leider war nicht zu erkennen gewesen, dass die Deckenhöhe in diesem Tunnel nur einen Meter und 70 Zentimeter betrug. Dies hatte zur Folge, dass ich mit meiner hochgewachsenen Nattifftoffengestalt (und meinen gut 197 Zentimetern Körpergröße) spektakulär mit der Höhlendecke kollidierte und in einem Schauer aus goldenen Sternchen und blutroten Kometen betäubt in mich zusammensackte.

(Ende des Berichts des Herrn Obstip von Kolon. Aus Gründen der Gleichberechtigung wird nun die Berghutze Zwarn die Berichterstattung übernehmen).

Hei. Hrm. Ich bin nicht so ne Vielschwätzerin, das wisst ihr ja. Neige auch etwas mehr zur Vorsicht und wehe, jemand beschwert sich über mein’ Dudelsack. So. Dann dürfte ja alles klar sein. Hrm. Also jetzt muss ich noch mal ein Stück zurückdrehen. Die Zeit, mein ich. Hrm. Also der Herr Obstip war etwas zu flott. Ich fang noch mal da an, an dem Punkt, wo er sich rücklings aufs Ufer gefläzt und sich Schlammklöße auf seine Brandblasen gematscht hat. Uiuiui… welch überaus erhöbender Onblöck. Höhö… äh… upps… also lieber mal weiter.

Erstmal bin ich zur phellpe hin. Kann man über die sagen, was man will: die ruinierte Rüschencorsage hat sie mit Fassung getragen. Blieb ihr ja auch nix anderes übrig, höhö… äh… hrm. Nur dass die Schleifchen versaut waren, mit Fett und Schlamm latürnich, das hat sie tief getroffen. Echt. Naja, da hab ich’s besser. Meinem Dudelsack passiert so leicht nix, der kann was ab.

Jedenfalls hat die phellpe erstma Wasser gesucht, wo sie ihr Zeugs wieder sauber kriegen konnte. Und weil wir Mädels ja zusammen halten sollen, sind Linora und ich einfach ma hinterher getapert. Der Herr Obstip hat uns belämmert nachgeguckt und ich hab mir noch gedacht: Toffe, bring jetzt bloß keinen hohlen Spruch wie „Verlaufen sie sich nicht, meine Damen“, sonst lass ich einen Hutzenschrei los, dass dir die Ohren noch in zwei Wochen klingeln! Zum Glück (für ihn und für sein Gehör) war er schlau genug und hat die Klappe zugelassen. Besser so.

Überall hat’s geplatscht, geknirscht und geraschelt. Genau wie zu Hause in den Hutzenbergen. Einfach toll, ich hab mich gleich daheim gefühlt. Die Höhle war ja ziemlich riesig und auch verwinkelt, aber nirgends ein Ausgang zu sehen und auch keine Spur, wohin sich unser Trollführer verzogen hatte, gaaar nix. Wie vom Erdboden verschluckt, die miese Ratte. Na ja, mir auch recht.

Dann hat die phellpe gejuchzt, weil da aus nem kleinen Loch in der Wand heißes Wasser gesprüht ist. Hat sich davorgestellt und sich von oben bis unten abgeduscht. Gut, dass sie wenigstens nicht zu singen angefangen hat. Und ich sach noch: „phellpe, mach mal nicht so lang da in dem Schwefelwasser“, da war’s schon passiert und die Linora hat gekiekst: „Du meine Güte, das war wohl eine schlechte Idee!“

Ach herrje! Der phellpe ihre Haare! Die waren ganz schneeweiß gebleicht. Wie’n abgebrochener Yeti hat die Hutzentuss auf einmal ausgesehen. Menno, hab ich losgeprustet. Zum Schreien! Aber das wirklich Dolle war ja: Das hat der phellpe noch nicht mal was ausgemacht. Au contraire. Total scharf fand sie ihre neue Haarfarbe und rumstolziert ist sie wie’n Hutzenmodel beim Schönheitswettbewerb. Abgefahren.

Hupps, ich bin wohl etwas abgeschweift. Was ich grad erzählen wollte, ist nämlich: Der Herr Obstip. Den kann man nicht lange alleine lassen, sonst bringt er sich in die Bredouille. Muss er ja auch, weil er hier eingetragenermaßen der Held is. Und dort, wo er gelegen hatte, ging auf einmal der Kladderadatsch los. Irgendwas wurmiges is aus dem Schlamm gekommen und Sachen sind hin- und hergeflogen, dann hat was ganz schrill gepfiffen (ich hab schon geglaubt, ich wär auf mein Dudelsack getreten) und dann sind noch mehr dicke Würmer aufgetaucht und dann war richtig Remmidemmi. Zuerst hab ich gedacht: Lass mal den Herrn Obstip machen, der is ja der Held, der wird dafür bezahlt. Wenn der unbedingt dort drüben rumspringen will wie ein Hampelmann, soll er doch. Aber dann hat’s einen Zischer getan, aus der Wand hinter dem Nattifftoffen is eine dicke Nebelwolke rausgeströmt und da is er drin verschwunden, der Herr Obstip. Wupps, nich mehr zu sehen. Och nee, hab ich gedacht, jetzt verschwindt büdde nich auch noch unser Held vom Erdbeerfeld. Das muss verhindert wern. Aber ich hatt noch nich zu End gedacht, da is die Linora schon losgewetzt. Die phellpe und ich mit Karacho hinnerher. So. Genuch. Jetzt soll mal wer annerst.

(Zur Abwechslung ist jetzt Linora dran)

Ich? Ausgerechnet jetzt? Na, wenn das mal keine schlechte Idee ist. Nun gut, wenn es denn unbedingt sein muss. Grummelbrummel… habe ich schon erwähnt, dass ich das für eine schlechte Idee halte?

Der Nebel stank nach faulen Eiern. Das klingt nur deshalb schlecht, weil man nicht bedenkt, dass er den grausamen Mief überdeckte, den die darin versteckten Wesen ausdünsteten. Sagte ich schon, dass…? Oh ja, okay.

Eine überaus runzlige und im Brustbereich mit zwei fetten Leuchtquallen drapierte Frauengestalt näherte sich. Sie war damit beschäftigt, in eine Art Tute zu blasen, deren quäkende Klänge die aggressiven Würmer zurück in die Tiefen des Schlammes zu treiben schienen. Dann ließ sie das Instrument sinken und glotzte mit ungläubigem Blick zu mir herüber.

„Ugalabuga. Wuiwuiwui. Ich mich verneigen vor dir, Meisterin der Weisheit. Kommen her aus Drobenwelt, bringen mir Erleuchtung“ stammelte sie erbleichend und wedelte mit den erhobenen Händen, wobei sie Daumen und Zeigefinger zu Ringen formte. Ich starrte verdutzt zurück. Was bitte sollte ich darstellen? Eine Meisterin der Weisheit? Na, das war sicher eine schle… Okay. Schon gut. Dann erst erkannte ich, dass dieses Menschenweib, das da so unvermittelt und stinkend vor mir aufgetaucht war, gar nicht meine Wenigkeit im Blick hatte, sondern an mir vorbeischaute auf… phellpe! phellpe, die kurz vor der Panik in ihrer weißen Ganzkörperhaarpracht da stand und überhaupt nicht wusste, was der nun aufkommende Rummel um ihre Person bedeuten sollte. Mehrere schlohweiß behaarte Vetteln stürzten aus einer Öffnung in der nahen Felswand, umringten die junge Hutze und berührten mit abergläubischer Scheu ihr gebleichtes Fell.

„OBS-TIP!“ zischte ich der stocksteifen Kameradin zu und knuffte ihr in die Seite, „phellpe, reiß dich zusammen, glotz nicht wie ein Kamedar wenn’s blitzt, sondern frag die alten Mieftrinen, was sie mit dem Nattifftoffen angestellt haben! Pronto!“

„Hrglmpf“ murmelte phellpe, jetzt zitternd vor Aufregung, „Hlli –hllo diedamn… äh… dassindaberviele… sie-haben-nicht-zufällig-einen-nattofftiffen… natituffen… nutellabrot… hihi…
Lange peinliche Pause…
„Hihi“
Noch längere peinliche Pause…
„Hihihi“
Unendlich lang erscheinende peinliche Pause…
Dann begann der Chor der betagten Amazonen zu skandieren: „Hi-Hi-Hi. Hi-Hi-Hi. Die Meisterin der Weisheit. Hi-Hi-Hi.“
Es gibt Momente, da wünscht sich eine Schlechte Idee nichts sehnlicher, als sich vor lauter Fremdschämen in die Arme des Wahnsinns zu flüchten.

Während phellpe sich beruhigte und die ihr entgegenschlagende Verehrung langsam zu genießen begann, entging mir nicht, dass die Anführerin mit einigen gutturalen Lauten weitere ältere Damen herbeizitierte, die sich an die Arbeit machten, die hier jetzt überall herumliegenden fleischähnlichen Brocken einzusammeln und in große Säcke zu stopfen. Zwarn drängelte sich inzwischen unbehelligt in den Tunnel und spähte umher, bückte sich schließlich und hob etwas auf. Es war Obstips Spazierstock! Dann hörte man nur noch ihr zorniges Kreischen. „Wollt ihr wohl eure dreckigen Finger von Herrn Obstip lassen, ihr Urumbeln!“ zeterte sie. „Das haben wir gern. Erst friedliche Nattifftoffen mit Übermacht angreifen und niederknüppeln und dann wahrscheinlich noch zu Elchbraten verarbeiten. Nix da! Gebt ihn uns zurück, oder ich hau euch den Dudelsack um die Ohren! Weg! Weg mit euch! phellpe, jetzt sprich doch endlich mal ein Machtwort! Die dummen Weiber hier kapieren echt überhaupt nix! Da! Und Da! Das hast du nun davon, du Zottel-Oma! phelllllpeeeeee! Tu wat, die werden immer mehr! Hilfe!“

„Ugalabuga!“ reagierte zu meiner Erleichterung jetzt endlich die Angesprochene. “Das sein meine Freunde. Ihr ihnen nix tun! Pfui! Kusch! Aus! Hihi. Ihr vielleicht auch stinkesauren Berghuter mit dickem Sack gesehen? Asoo. Ihr haben gesehen? Wie bitte, gefangen genommen? Ihr uns sofort zu ihm bringen, dallidalli. Hast du gemerkt, Linora, ich spreche perfekt amazonisch. Einfach unglaublich, nicht?“

Wenig später setzte sich die Amazonenkarawane in Bewegung, mit der Chefin und phellpe an der Spitze. Gleich dahinter marschierten wir samt dem Nattifftoffen, auf dessen Schädeldecke eine dicke Beule prangte und der zur Sicherheit noch von zwei relativ rüstig aussehenden Kriegerinnen gestützt wurde. Die Nachhut bildeten die mit den vollen Säcken schwer bepackten und unter der Last ihrer Beute beinahe zusammenbrechenden Sammlerinnen. So ging es zuerst durch den schmalen Tunnel. Dieser mündete nach kurzer Zeit in eine Serie kleinerer Kavernen, deren Wände mit Mosaiken und geometrischen Mustern aus Insektenpanzern überraschend geschmackvoll verziert waren. Schlussendlich erreichten wir nach etwa dreißigminütigem Marsch einen gemütlichen, von etlichen Lagerfeuern hell erleuchteten Felsendom, dessen auffälligstes Merkmal ein riesiger, mitten im Zentrum stehender und mit einem massiven Deckel verschlossener Kupferkessel war. Sollten etwa Eaglechen und Andray dort drin….? Ich wagte den Gedanken nicht zu Ende zu denken.

Zum Glück erwies sich meine Befürchtung als falsch. Während wir Expeditionsteilnehmer gedrängt wurden, es uns auf einem Stapel von aus Haaren gewebten Kissen gemütlich zu machen, verschwanden die beiden kräftigeren „Damen“ kurzzeitig, um wenige Minuten später mit dem immer noch vor Wut schäumenden, schlammverkrusteten Berghuter und dem in einem gammeligen Kübel schwappenden, vor Wasserverschmutzung völlig eingetrübten Wellerich zurückzukehren. Inzwischen hatten etliche der Höhlenweiber rasiermesserscharfe Eisenerzdolche hervorgezogen und begonnen, die in den Säcken befindlichen Fleischklumpen aufzuschneiden und ihren Inhalt herauszupuhlen. Zu meiner Überraschung ging es ihnen aber wohl nur um die Hüllen, die in den nun offenen Riesenkessel wanderten. Alles, was innen drin gesteckt hatte, warfen sie dagegen achtlos in einen breiten Spalt im Boden. Gerade sah ich noch aus dem Augenwinkel, wie Herrn von Kolons Höhlenhelm aus einer Umhüllung gezogen wurde und ohne Umschweife den Weg in die (zum Glück nicht sehr tiefe) Tiefe nahm.

„Ugalabuga“ redete ich daraufhin respektvoll die Ober-Amazone an, „gestattet ihr uns, unsere Besitztümer aus eurer Müllgrube zurückzuholen?“ Zu meiner Überraschung wurde der Wunsch auf der Stelle gewährt. Und da ich ja gefragt hatte, durfte ich auch sofort zur Tat schreiten, womit sich gleichzeitig wieder einmal bewahrheitet, dass es immer eine schlechte Idee ist, auf die Notwendigkeit der Erledigung von Drecksarbeiten hinzuweisen. Wobei ich es Obstip sehr hoch anrechne, dass es für ihn eine ritterliche Selbstverständlichkeit war, mich zu begleiten, mir zur Hand zu gehen und gleichzeitig einen Blick auf die interessanteren Gegenstände zu werfen. So besaßen wir nach einer Viertelstunde intensiven Wühlens Herrn Andrays braunen (vorher weißen) Laborkittel, wasserdicht verpackte Gelatinetabletten, einen Lederbeutel mit jeder Menge Pyras, ein zerfleddertes Büchlein, die Klaue einer Eisenmade, einen Bernsteinfisch an einer Schnur, eine Trillerpfeife, zwei massive Kupferbarren und natürlich Herrn von Kolons Helm, den er erst einmal penibelst reinigte, bevor er ihn wieder auf seinem Heldenschädel placierte.

Zwarn und phellpe kümmerten sich währenddessen rührend um Eaglechen und den Herrn Expeditionsleiter, die sich beide in einem bejammernswerten Zustand befanden. Andray, bei seinem Sturz in den Schlamm verseucht und zudem durch die Hitze verflüssigt, nieste und spuckte fortwährend nassen Sand. Eagys Hände waren beinahe abgestorben, nachdem sie ihm von den Wildweibern mit Tiersehnen auf den Rücken gefesselt und trotz seines lautstärksten Protestes nicht mehr losgebunden worden waren. Dennoch waren wir äußerst froh, unsere Freunde zumindest lebendig zurückerhalten zu haben.

Unter dem Kochkessel war inzwischen ein lustiges Feuerchen entfacht worden. Eimerweise kippten die Amazonen undefinierbare Flüssigkeiten, Gewürze und andere Zutaten hinzu, rührten, kosteten, würzten und sangen dabei immer wieder ihren neuen Lieblingsvers:
HI-HI-HI!
HI-HI-HI!
DIE MEISTERIN DER WEISHEIT,
HI-HI-HI!

Da es Herrn von Kolon inzwischen wieder besser zu gehen scheint, fände ich es ausnahmsweise einmal keine schlechte Idee, wenn er wieder die Berichterstattung übernehmen würde.

(Hust-Hust! Dem kann ich nur zustimmen. Spuck! Wo kann ich mich übrigens hier klären? Dann ist euer Expeditionsleiter bald wieder für euch verfügbar. Hust!)

Nur immer mit der Ruhe, Herr Du Franck. Sie sollten sich nicht überanstrengen. Sobald ich Zeit und Muße habe, werde ich auch aus einigen meiner seidenen Taschentüchlein eine Art Filter herstellen, der Ihre Körpersubstanz zuverlässig reinigen dürfte. Mein Rucksack ist nämlich (im Gegensatz zu Amandas Riesenteil) beim Sturz in den Dreck völlig dicht geblieben. Gelobt sei meine Entscheidung, nur auf handgefertigte, wasser- und schmutzabstoßende Trekking-Kompakt-Modelle (für lediglich schlappe 4500 Pyra beim „Exklusiv-Versand“ Naltatis/ Atlantis erhältlich) zu vertrauen. Dies jedoch nur am Rande.

Das Büchlein aus dem Wurmmagen erweckte mein größtes Interesse. Irgendwie kam es mir bekannt vor. Hatte nicht IndianaSepp vor einigen Stunden mit einem ähnlichen Schriftstück gewedelt? Möglich, dass es ihm beim Sturz genauso abhanden gekommen war, wie mir mein Helm. Vorsichtig löste ich die verklebten Seiten voneinander, überflog die ersten Abschnitte und dann klappte mir das Kinn vor Staunen herunter. Ich war hier nicht auf eine literarische Gold-, nicht einmal auf eine Platinader gestoßen, nein, hier hielt ich zweifelsohne das verschollene Werk von Sigobertus Brünnenfeld in meinen bebenden Händen: den „Cullinan“ der Absurden Entdeckungsliteratur.

Aus dem „Lexikon der erklärungsbedürftigen Wunder, Daseinsformen und Phänomene Zamoniens und Umgebung“ von Prof. Dr. Abdul Nachtigaller
Entdeckungsliteratur, Absurde, die: Absurde Entdeckungsliteratur ist ein Genre, das bereits Jahrhunderte alt, aber einfach nicht totzukriegen ist. Diese unglaublichen, oft in der Ich-Form oder als Tagebuch veröffentlichten Phantasieausgeburten, in denen zumeist die mit Gefahrensituationen und erotischen Anspielungen gewürzte Entdeckung oder Erforschung unbekannter Orte geschildert wird, sind der zamonischen Trivialliteratur zuzurechnen und bedienen, wie die Prinz-Kaltbluth-Romane, hauptsächlich die niederen Instinkte ihrer oft nur halbgebildeten Leserschaft. Nichtsdestotrotz erfreuen sie sich weiter Verbreitung und einer erklecklichen Fangemeinde.
Ein gutes Beispiel für Absurde Entdeckungsliteratur ist, neben Mythenmetz‘ monströsem Werk „Die Reise nach Yholl“ der folgende, in Zamonien praktisch unbekannte Klassiker:
Vor über zweihundert Jahren veröffentlichte der Hundling Sigobertus Brünnenfeld seine Reisebeschreibung „Dorthin, wo die Sonne nie scheint – auf Schnüffeltour am Arsch der Welt“, in dem er zunächst einige Abenteuer mit seinem Freund, dem menschlichen Gentleman-Abenteurer Votan von Oslo, schildert.
Die Wege der beiden Kameraden trennen sich schließlich in Florinth, da Votan nach Süden ziehen will um in einem werwolfverseuchten Gehölz bei Zweiloch eine Wette einzulösen. Sigobertus hingegen schließt sich einer Gruppe von Bergzwergen und Venedigermännlein an, die von Florinth aus mit einem tauchfähigen Fahrzeug bis zur Finsterwasserquelle vordringen wollen. Die Forschungsreise gerät jedoch zur Katastrophe und Sigobertus findet sich alleine und orientierungslos in den Eingeweiden der Finsterberge wieder. Ab hier wird die Sache äußerst unglaubwürdig. Brünnenfeld berichtet von leichtbekleideten Finsterbergamazonen, von unglaublich großen, gähnend langweiligen Grotten und Hallen (etwa der ‚Grotte der extremen Gleichgültigkeit‘, die zu durchqueren elf Tage dauern soll), von den Resten einer Zivilisation blinder Riesen, die dort angeblich einmal gelebt haben (diese Idee hat er mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit aus Mythenmetz‘ Autobiographie „Reiseerinnerungen eines sentimentalen Dinosauriers, Band 2‘ ‚adoptiert‘) und seiner Entdeckung der Finsterwasserquelle in Form eines gigantischen kochendheißen Geysirs. Schließlich kann er sich, fast verhungert und dem Tode nahe, durch einen halb eingestürzten Finsterbergmadenstollen ins Freie zwängen. Dort wird er von einer Gletschermume gefunden und nach Florinth zurückgebracht, wo er im Fieberrausch seine Reiseaufzeichnungen beendet.
Sigobertus' Notizen, vom Florinther Kleinverlag „Heckmeck & Söhne“ in einer Auflage von lediglich einem Dutzend Exemplaren veröffentlicht (der Autor musste die Herstellungskosten aus eigener Tasche tragen), wurden jedoch zum Gespött der Fachwelt und fanden keinen einzigen Käufer, so dass Brünnenfeld nach seiner Genesung mitsamt all seinen Büchern und den dazugehörigen Druckstöcken in die Friedhofssümpfe von Dull verschwand, von wo er nie zurückkehrte. Die hier wiedergegebene Inhaltszusammenfassung entstammt daher dem Buch „Ich druckte für die Bekloppten oder wie man sich als Kleinverlag durch die Produktion kostspieliger Miniauflagen über Wasser hält“ von Fridolin Heckmeck jr., Verlag Heckmeck & Söhne, Florinth.

Unglaublich! Brünnenfeld war, so wie es aussah, überhaupt nicht verrückt gewesen, als er seine letzten Abenteuer zu Papier brachte. Seine Aufzeichnungen stimmten bis ins letzte Detail mit den von uns gemachten Beobachtungen überein. Nun waren wir vielleicht überhaupt nicht mehr auf den alle Sinne beleidigenden Stollentroll angewiesen, um das Domestizierte Dimensionsloch zu finden. Wie wir es, erst einmal dort, in Funktion setzen würden, stand auf einem anderen Blatt und sollte jetzt nicht unser Problem sein. Nun erwies sich der Schnell-Lesekurs für Experten, den ich vor fast 25 Jahren in Buchhaim mit Auszeichnung absolviert hatte, als wahrhaft nützlich. Ungeachtet diverser Fett- und sonstiger Flecken auf dem manchmal nur mit Mühe entzifferbaren Pergament stürzte ich mich auf das nächste Kapitel meines vielleicht überlebenswichtigen Lesematerials.

Etliche hastig umgeblätterte Seiten weiter stieß ich dann auf die Stelle, die zu finden ich gehofft hatte. Und ich fühle mich stolz und glücklich, hier quasi als Weltpremiere einen kleinen Auszug aus diesem verschollen geglaubten Buch präsentieren zu dürfen:

[Solcherart gelangete ich denn nach mancherley Fährnissen in die Hände des unansehnlichsten Weibervolks der Finsterberge, nehmlich der „Weißen Vrouwen“, wie sie sich daselbst nennen und wurde von jenen in Gefangenschafft gehalten fünf und vierzig Tag. Übles Gewürm war meine Speys und schweflig Wasser mein Trunk. Da geschah es dorten, dass uns angriff ein gar grauslich ungeheurer Fleyschberg, geformet als wie eyn Zipfel und mit Ausgewüchsen, schlangengleich und mannigfaltig. Das Monsterium brach hervor aus eynem mit Felsen verstopften Gange und es fegte hinweg die Wackerstein als wären’s Hobelspäne.
Wohl wehreten sich die Bergweibsen tapfer mit Spießen und spitzigen Messern, doch war’s dem Unwesen nicht anders, als wie die Stacheln der Bienen den Bären schrecken und es griff sowohl mich in meynem Käfig, als auch zweye der Weiber und schleppete uns zurück in seyn Loch, abwärts, immer tiefer, seynem Verstecke zu, welches angefüllet war mit den seltsamsten Machinereyen und blitzenden Lichtleyn, wie ich im nächsten Kapitel genauer beschreiben möcht.]

Hier war sie endlich, die ersehnte heiße Spur. Vorsichtig erkundigte ich mich darum bei der Chefin, ob es in der Nähe einen verschlossenen Gang in weitere Tiefen gäbe. Oha, da hatte ich aber wohl in ein Wespennest gestochen. „Tabu! Tabu! Ugalabuga! Alles tabu!“ heulte sofort die Amazone mit entsetzensgeschwängerter Stimme los. „Ihr nix gehen dorthin! Viel zu gefährlich! Lasst Ungeheuer ruhen wie seit hundert Jahren, sonst es kommen wieder und alte Plage ist aufs neue da. Weiße Frauen hoffen, Fluch endlich vorbei und können in Frieden leben. Wir nicht zulassen werden, dass sich Fleischriese nach so langer Zeit an uns erinnert. Ugalabuga, Wort ist gesprochen, Wort gilt!“

Die Höflichkeit zwang mich, ruhig zu bleiben und verständnisvoll lächelnd zu nicken, obwohl ich am liebsten das Große Atlantische Gesetzbuch ausgepackt und mich in einen juristischen Disput gestürzt hätte. In diesem Moment fiel mir eine vorbeischlurfende, ziemlich kurz geratene Amazone auf. Sie war in einen bodenlangen Kittel gehüllt (sehr ungewöhnlich!), hatte eine Frisur, die eher an einen alten Wischmopp erinnerte… und sie trug auf ihrer Schulter ein Fässchen, aus dem eine geheimnisvoll glimmende Zündschnur heraushing. Die Gestalt näherte sich dem kupfernen Kochkessel, schaute sich kurz um, warf dann wie selbstverständlich ihre Last hinein und trollte sich unauffällig zurück in die Schatten. Wie bitte? Sie „trollte“ sich? All meine Nattifftoffensinne schlugen gleichzeitig Großalarm. Aber leider zu spät. Mit einem widerlichen Furzgeräusch schoss eine dicke graugrüne Wolke aus dem Kesselgebräu, schien sich ein paar Sekunden lang zu verdichten und breitete sich dann blitzschnell in der gesamten Höhle aus. Schmierige Finger packten meinen Ärmel und zerrten mich zu Boden, wo ich mich zwischen den übrigen Expeditionsteilnehmern und… dem Stollentroll wiederfand. Breit smirkend zerrte sich IndianaSepp die improvisierte Perücke vom Trollschädel, kommandierte „Mir nach!“ und robbte los, während die alten Spinatwachteln hustend und sich die tränenden Augen reibend ziellos weiter durch den ätzenden Dunst torkelten. Hinter mir hörte ich Eaglechen fluchen wie ein Rohrspatz. Zum Glück kamen die Amazonen nicht auf die Idee, Andrays Dreckspur zu folgen. Dann hätten sie uns mit Sicherheit im Handumdrehen wieder eingefangen. So jedoch erreichten wir unbehelligt eine Stelle in der Wand, die von den „Weißen Frauen“ in offenbar jahrelanger Arbeit zugestopft und gesichert worden war. IndianaSepp nötigte dies jedoch keinerlei Respekt ab. „Kähähä, ich bin ein getarnter Mineur“ summte er mit fiesem Unterton in der Stimme, während er hier klopfte und dort horchte, bis er schließlich mit dem kleinen stinkigen Trollmittelfinger auf einen ganz bestimmten Stein drückte. „Vielleicht sollten die Herrschaften die Köpfe ein wenig einziehen“ krächzte er noch, während bereits die Brocken zu rutschen und scharfkantige Splitter durch die Gegend zu sausen begannen.
Andray DuFranck
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Registriert: Do 23. Mai 2019, 22:56

Re: Expedition in die Tiefen der Nachtschule

Beitrag von Andray DuFranck »

Kaum waren das Donnergepolter verklungen und der Felssturz zum Stillstand gekommen, scheuchte IndianaSepp uns alle samt Ausrüstung durch das entstandene Loch, hinein in einen weiteren, finsteren und abschüssigen Madenstollen. Je tiefer wir jedoch kamen, umso fremdartiger zeigte sich die Umgebung; in die Wände waren immer wieder Rohre und matt glühende Glaszylinder eingelassen, die jedoch einen stark zerkratzten, korrodierten und am Rande des Verfalls stehenden Eindruck machten. Hinter uns verklangen die frustrierten Schreie der Bergweiber langsam in der Ferne. Gleichzeitig schwoll der Luftzug der Finsterbergbrise immer weiter an, bis er zu einem stetigen, süßlich-faulig riechenden Wind wurde, der uns überallhin begleitete und unsere Nasenschleimhäute malträtierte. Den Stollentroll nehme ich hier selbstverständlich aus, er marschierte unbeirrt voran und sang dabei im höchsten Diskant das alte, zu Recht vergessene Wanderlied „Wohlauf, die Luft geht frisch und rein“. Es war unerträglich. Solche Notenwerke sollten wirklich in ganz Zamonien verboten werden.

Immer öfter trafen wir jetzt auf ärgerliche Hindernisse, die unser Vorankommen verlangsamten: eingestürzte Wände, mächtige, aus der Decke gebrochene Röhren, Teppiche ins Riesenhafte gewachsener Finsterbergalgen. So quetschten wir uns durch Spalten und Risse, räumten Geröll zur Seite, schlitterten durch schleimigen Bodenbelag und fanden es immer schwieriger, uns einen Weg durch das immer weiter zunehmende Chaos zu bahnen. Erschreckend auch ein Raum, den wir nicht umgehen konnten und in dem noch die Trümmer gigantischer hölzerner Wandregale erhalten geblieben waren. Glasbehälter in der Größe von Wassertanks lagen zersplittert auf dem Boden herum; einer davon, der nur etwas angeknackst war, enthielt die schwärzlichen, mumifizierten Überreste einer zweibeinigen Kreatur. Das hätte ich mir gern näher angesehen, aber IndianaSepp drängte uns aus nur ihm selbst bekannten Gründen gnadenlos zur Eile. Herr DuFranck stammelte unverständliche Wortfetzen vor sich hin, während er als Nachhut mühsam hinter uns her schwappte. In welch deprimierende Atmosphäre der Hilf- und Hoffnungslosigkeit waren wir hier nur geraten? Zwarn und phellpe hatten versucht, unserem Expeditionsleiter stützend unter die Arme zu greifen, konnten ihn aber nirgends fassen, holten sich nur klitschnasse Hände und waren schließlich von ihm wieder nach vorn geschickt worden, um „unauffällig ein Auge auf den Stollentroll zu werfen“. Recht hatte der Wellerich, trotz seines derzeitig deutlich eingetrübten Verstandes. Schließlich sah ich mich jedoch nach etwa zwei Stunden strammen Marsches gezwungen, ein Machtwort zu sprechen und auf eine kurze Verschnaufpause zu bestehen.

„Na gut“ motzte IndianaSepp, „dann werde ich halt inzwischen… äh…“ – er durchsuchte nervös seine Taschen und schüttelte die Beine seiner Hose aus – „…mal die Lage peilen gehen.“ Schon war seine bucklige Gestalt um die nächste Ecke gehuscht. Ich wusste genau, wonach er suchte, aber ich empfand keinerlei Bedürfnis, ihm sein „Eigentum“ auf der Stelle zurückzuerstatten. Zu sehr war er uns in den letzten Stunden auf die Nerven gegangen. Sollte er ruhig erst einmal im eigenen kalten Schweiß schmoren.

Wie mochte es wohl unseren Freunden oben im Labyrinth inzwischen ergangen sein? Lebte Amanda überhaupt noch? Wohin hatte sich IndianaSepp jetzt wieder verkrümelt? Lauter müßige Fragen. Mit letzter Konzentration bastelte ich wenigstens aus einigen herumliegenden Drahtstücken und einem meiner feinen Seidentaschentücher einen provisorischen Filter, um Herrn DuFranck vom Schmutz zu befreien, wie ich es ihm bei den Amazonen versprochen hatte. Nach der Prozedur warf unser Expeditionsleiter ein paar Gelatinetabletten ein und brachte seinen Körper wieder in zweibeinige Form, ein höchst ungewöhnlicher und für Außenstehende sicherlich verstörender Anblick. Ich legte inzwischen den Kopf auf die Unterarme und hielt im Sitzen ein kleines Nickerchen.
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