Expedition in die Tiefen der Nachtschule

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Andray DuFranck
Beiträge: 114
Registriert: Do 23. Mai 2019, 22:56

Re: Expedition in die Tiefen der Nachtschule

Beitrag von Andray DuFranck »

EXPEDITIONSTAGEBUCH
„Reise in die Tiefen der Nachtschule bis zur Mitte Zamoniens"

9. Tag

Hallo, ab jetzt übernehme ich wieder die Berichterstattung. Ja, ihr lest richtig, euer Expeditionsleiter ist dank Herrn von Kolons Hilfe zurück auf die Beine gekommen. Und die Gelatinetabletten brachten mich schlussendlich wieder komplett in Schwung. Während Obstip, Linora, Zwarn und phellpe also die Pause nutzten und ein wenig wegdösten, fand ich vor lauter Energie keine Ruhe. Trotz der Gefahr, erneut von den Gefährten getrennt zu werden, konnte ich mich nicht zurückhalten, auf eigene Faust „ein wenig die Umgebung zu sondieren“. Leise stand ich auf, griff mir eine Quallenlampe und tappte, mich auf meinen Instinkt verlassend, ein Stück weiter bergabwärts.

So erreichte ich nach wenigen Minuten einen gigantischen, völlig in Trümmern liegenden Raum, der wohl einmal eine Art Labor gewesen sein musste. Ein mannshoher, geschlossener Glaszylinder, beschriftet mit einer mir unbekannten Messskala, erregte meine Aufmerksamkeit. Er war an der nackten Höhlenwand befestigt und durch robust wirkende Kupferrohre mit anderen Gerätschaften und, wie es aussah, Teilen eines Flüssigkeits-Verteilersystems verbunden. Irgend etwas schwappte darin herum. Neugierig kam ich näher, da starrten mich aus der farblosen Suppe plötzlich zwei Augen an. Natürlich erschrak ich furchtbar- und schalt mich gleich darauf einen Idioten, da ich offensichtlich mein eigenes Spiegelbild im Glas für ein anderes Wesen gehalten hatte. Doch dann erschien in der Flüssigkeit ein zweites Paar Augen und schließlich ein drittes. Wässrige Münder, verzerrt zu unhörbaren Schreien und Grimassen der Verzweiflung wogten im Schauglas herum, wobei sie kräftige Wellenwirbel verursachten. Das Rohrsystem ächzte in seinen Verbindungen und Verankerungen, aber es hielt. Entsetzlich. Hier waren offensichtlich mehrere meiner Artgenossen auf engstem Raum eingepfercht worden. Ich musste sie befreien, koste es, was es wollte. Zuerst schlug ich mit meinen schwachen Tratschwellenfäusten eine Zeit lang erfolglos auf die dicke Glaswand ein, dann wurde mir die Sinnlosigkeit meines Tuns bewusst. Ich benötigte passendes Werkzeug, und zwar auf der Stelle.

‚Los, Andray, jetzt streng mal endlich deinen Wasserkopp an ...’ drängte ich mich selbst. Dann kam der Geistesblitz: mein modifiziertes Schweizer Taschenmesser enthielt auch einen Glasschneider - und es steckte in der Innentasche meines Laborkittels, der sich, da er noch vor Schmutz starrte, in phellpes Gepäck befand. Ich gab den gefangenen Tratschwellen im Glasrohr ermutigende Zeichen und stürzte davon.

Manchmal hat man einfach einen guten Tag. Genau wie es Pechsträhnen gibt, bei denen man mit traumwandlerischer Sicherheit dreimal hintereinander in die Abfallprodukte eines Höhlenbewohners tritt, gibt es (wenn auch leider viel seltener) Situationen, in denen sich das Glück mit unverschämter Häufigkeit an einem Fleck zusammen zieht. Ich weiß nicht, woran es lag, nennt es Schicksal oder göttliche Vorsehung, jedenfalls kam ich gerade rechtzeitig, um zu beobachten, wie IndianaSepps lange, schmierige Finger einen intensiven Besuch in des schnarchenden Herrn von Kolons Hosentasche machten. Offensichtlich war er auf der Suche nach Geld oder anderen Wertsachen und nutzte die allgemeine lähmende Müdigkeit meiner Kameraden schamlos aus.

„Dieb! Dieb! Haltet den Dieb!“, schrie ich in höchster Lautstärke. Der Stollentroll erstarrte vor Entsetzen, aber leider nicht lange genug. Bevor der Nattifftoffe ihn am Wickel kriegen konnte, verschwand er in einem Spalt, den selbst eine in die Enge getriebene Murmelmaus als Fluchtweg verschmäht hätte. Unfassbar. Unauffindbar.

„Hat er was geklaut? Fehlt euch was? Seid ihr in Ordnung?“ fragte ich die schlaftrunkenen Gefährten atemlos. Eine kurze Überprüfung unseres wenigen mitgeführten Materials ergab, dass alles noch an Ort und Stelle war. Wonach hatte der Schattenparasit dann aber gesucht?

„Danach!“ lächelte Obstip verschmitzt und hob seinen Höhlenhelm etwas an. Zwischen den Nattifftoffenhörnern klemmte ein ziemlich schäbig aussehendes Büchlein. Waren das etwa Obstips Reisenotizen? Nein, das konnte nicht sein. Kein Nattifftoffe hätte freiwillig Ausrüstung in solch mieser Qualität benutzt. „Ich erklär's ihnen später“, meinte er leicht resigniert. „Jetzt, da wir unseren Führer wohl endgültig los sind, sind wir, wie es aussieht, ganz auf den Inhalt dieses Schriftwerkes angewiesen, wenn wir das Domestizierte Dimensionsloch finden wollen.“

Das interessierte mich zur Zeit jedoch nur peripher. Wo war mein Taschenmesser? „Entschuldigung, Frau phellpe“, murmelte ich, während ich ihren Rucksack aufnestelte, den dreckigen Kittel herauszerrte und das Universalwerkzeug barg, „aber jetzt bin ich mal dran mit der Lebensrettungs-Nummer.“ Nicht auf die verständnislosen Blicke der Junghutze achtend, war ich schon wieder auf dem Weg, so schnell mich meine Gelatinebeine trugen.

Mit durchdringendem Knirschen fraß kurz darauf die Diamantklinge eine mehr oder minder runde Öffnung in die stabile Glaswand des Zylinders. Kaum war der ‚Kreis’ geschlossen, gab es ein gedämpftes Knacken, das Material barst und ein dicker Wasserstrahl schoss durch den Raum. Eine Zeit lang sah man überall nur Wasser, ich musste mich an einem Rohr festklammern, um nicht weggespült zu werden. Zum Glück sauste die Flut größtenteils durch Abflussgitter und Spalten weiter nach unten, so dass uns allen eine lästige Überschwemmung erspart blieb. Ich konnte nur hoffen, dass meine eingesperrten Artgenossen nicht ebenfalls ein Opfer der Strömung wurden. Aber das schwappten sie schon herbei, laut jubelnd und aus vollster Kehle tratschend vor Freude über die endlich wiedergewonnene Freiheit.

„Ich bin Aha.“ „Und ich Behbe.“ „Und ich heiße Zehze“, stellten sich die drei Tratschwellen vor. „Vielen Dank, dass du uns da rausgeholt hast. Über zweihundert Jahre stecken wir nun schon hier drin. Ehrlich ... hätten wir nicht sowieso einen an der Waffel wir wären längst komplett Gaga geworden in der langen Zeit. Können wir Dir zum Dank was helfen hier unten? Wir kennen uns nämlich verdammt gut hier aus. Unser System war leider das einzige, das die Zeit überdauert hat ... während ringsherum alles in die Binsen ging, hat die verfluchte Rohrleitung noch nicht mal ne undichte Stelle gekriegt. Suchst du was bestimmtes? Nur raus damit. Je schneller wir quitt sind, umso besser ... wir wollen nämlich so schnell wie möglich in den Zamonischen Ozean zurück.“

„Ähem“, räusperte sich da die Stimme des Nattifftoffen hinter uns, „haben der Herr Expeditionsleiter in seiner übergroßen Güte wohl die Freundlichkeit, uns gemeines, unwissendes Volk von der Änderung der Lage in Kenntnis zu setzen? Wer bitte sind die hier so plötzlich aufgetauchten Tratschwellen und wie war das mit dem Angebot zur Hilfe?“

„Ein glücklicher Zufall, Herr von Kolon“, entgegnete ich, während mir das Wellenherz vor Aufregung noch bis zum Hals klopfte. „Meine drei aufgepeitschten Artgenossen dort sind ganz wild darauf, uns ihre Dankbarkeit zu zeigen – und sie sind hier so gut wie zu Hause“.

„Supermegawahnsinns-Okay!“ schwappten alle drei Tratschwellen gleichzeitig und tanzten dabei so ausgelassen um mich herum, dass ich sie nicht mehr zu unterscheiden vermochte.
„Sagt uns euer Ziel und wir bringen euch hin.“
„Joho, und das mit Schmackes.“
„Prontopronto.“

Obstip verdrehte verzweifelt die Augen. „Wenn die freundlichen Wellen jetzt mit der Hopserei aufhören und uns zum nächstgelegenen Domestizierten Dimensionsloch führen würden, damit wir nach Chrosonopol zum Schuttabladeplatz der Zeit kämen, wäre uns schon sehr geholfen“, meinte er. „Je länger wir nämlich brauchen, desto geringer werden unsere Chancen, Germinator wiederzufinden und Amanda zu kurieren. Lasst mich nur schnell die Hutzen und Linora holen, dann können wir loslegen.“
Er drehte sich um und eilte davon.

„Hemm hemm, zum Domestizierten Dimensionsloch wollt ihr ...?“ fragte eine der Wellen, ich glaube es war Behbe. „Dann sollten wir wirklich etwas Dampf machen.“
„Ja, sonst wird der Durchgang zu gefährlich für einige von euch.“
„Wisst ihr, das Ding heizt sich jetzt nämlich langsam auf ...“
„Weil ... äh ... irgendwie die Kühlung nicht mehr funktioniert ... ganz urplötzlich ...“
„... weil das Kühlsystem gerade leergelaufen ist. Das war das einzige, was hier unten noch in Ordnung war ...“
„Aber gib nicht uns die Schuld, Andray. Du hast es vermasselt.“
„Jepp. War wohl ein wenig voreilig, deine Rettungsaktion. Tut uns Leid.“
„Nee, mir nicht!“
„Schnauze, Zehze!“
„Jetzt quatscht keine Opern, Kumpels. Ich hör den Rest der Truppe antraben. Abschwappen, aber dalli. Sonst verzieht sich das Nachtglas und dann ist’s Essig mit den tollkühnen Abenteurern, höhö.“

Aus dem „Lexikon der erklärungsbedürftigen Wunder, Daseinsformen und Phänomene Zamoniens und Umgebung“ von Prof. Dr. Abdul Nachtigaller
Nachtglas, das: Als ‚Nachtglas’ bezeichnet man eine außerirdische Substanz aus extrem konzentrierter und verdichteter Dunkelheit. Zwar hat die Nachtigalleristik rein hypothetisch längst bewiesen, dass es ein solches Material geben könnte und wie seine physikalischen Eigenschaften lauten müssten, doch ist es bisher niemandem in Zamonien, selbst einem Genie wie meiner Person nicht, gelungen, die technischen Voraussetzungen für seine Herstellung zu schaffen. Eventuell auf dem Kontinent vorhandenes Nachtglas muss also nicht-irdischen Ursprungs sein.
Auf Grund fehlender Materialproben kann man daher leider nur die folgenden Hypothesen aufstellen:
a) Nachtglas müsste in kaltem Zustand fest wie Metall sein, wird jedoch bei einer Temperatur von 77 Grad gummiartig und verdampft schließlich bei 777 Grad Celsius.
b) Nachtglas hat die Eigenschaft, Wärmeenergie in sich aufzunehmen, um bei Erreichen der benötigten Temperatur schlagartig den Aggregatszustand zu wechseln. Daher pflegt es im Umfeld von Nachtglas recht kühl zu sein, während sich das Material langsam aufheizt.
c) Festes Nachtglas müsste mit Hilfe elektromagnetischer Energie in einen dimensionslochähnlichen Zustand versetzt werden können. Sollte es gelingen, diesen Energiezufluss zu kontrollieren, wäre es möglich, eine torähnliche Transportmöglichkeit zu einem anderen Ort, also eine Art ‚domestiziertes Dimensionsloch’ zu erzeugen.
d) Die Benutzung eines solchen Transportmittels würde jedoch große Risiken bergen. Sollte das Nachtglas nicht ständig gekühlt werden, käme es durch die Erhitzung zwangsläufig mit der Zeit zu Rissen und Verwerfungen. Dann würde nur eine flüssige, gallertartige oder gasförmige Lebensform die Reise noch relativ unbeschadet überstehen. Wesen aus Fleisch und Blut müssten beim Durchgang Verformungen und Geweberisse erleiden, die zu Verstümmelung und Tod führen könnten.
Sollte es jemandem gelingen, ein Stück Nachtglas zu erzeugen oder zu bergen, wäre dies mit Sicherheit die wissenschaftliche Sensation des Tages.

Ich glaube, dass ich mich noch nie in meinem Leben so schnell auf dem Land fortbewegt habe, wie in diesen bangen Minuten. Zum Glück schob mich Linora von hinten an, sonst hätte ich niemals mit Obstip, phellpe und Zwarn mithalten können. Die drei Wellenjungs vereinigten sich zu einer kompakten Wassermasse, flossen vor uns her und räumten, wo es notwendig war, den Weg frei. Gerümpel und Trümmer kapitulierten vor der Wucht der eindrucksvollen Woge, wurden zur Seite geschleudert oder lösten sich in harmlose Brocken auf. Wir sausten durch Bereiche und Kammern, in die ich freiwillig niemals einen Fuß gesetzt hätte.

Endlich stoppten die Tratschwellen vor einem halb eingestürzten Durchgang, aus dem uns ein eiskalter Wind entgegenpfiff.
„Uh-oh“, meinte Aha. „Das sieht nicht so extrem gut aus ...“
„Es scheint sich schon ziemlich aufgeheizt zu haben. Tja, da geht man einmal weg und macht sich ein paar schöne Minütchen, und schon passiert so was ...“
„Undankbares Ding. Zweihundert Jahre lang haben wir dich in Schuss gehalten.“
„Ja. Wir waren quasi wie Eltern zu dir. Oder wie Omas, Opas und Geschwister ...“
„Oder wie Schwippschwäger mütterlicherseits ...“
„Ja. So.“
„So ähnlich. Das kannste uns schon glauben.“
„Also mach jetzt mal keine Zicken und bleib noch ein paar Minuten lang stabil, du dummes Loch. Tu uns den Gefallen. Wir sind doch deine Brüder ...“
„Deine Ersatzfamilie …“
„Deine Schwippschwäger mütterlicherseits.“
„Schnauze, Zehze!“

Behbe drehte sich nach uns um. „Also wenn ich ihr wäre, dann würde ich keine Sekunde mehr verlieren. In spätestens einer Stunde wird der Durchgang lebensgefährlich. Wenn ihr bis dahin nicht wieder hier seid, gibt’s bei der Rückkehr gemischtes Hackfleisch anstatt wagemutiger Retter.“ Er zwängte sich in den dahinterliegenden Raum, seine beiden Kumpane folgten ihm. Auch Linora und ich flutschten durch die Lücke, Obstip, Eaglechen und die Hutzendamen taten sich schon etwas schwerer. Aber schließlich standen wir alle vor dem Ziel unserer Wünsche: dem Domestizierten Dimensionsloch.

Aus dem „Lexikon der erklärungsbedürftigen Wunder, Daseinsformen und Phänomene Zamoniens und Umgebung“ von Prof. Dr. Abdul Nachtigaller
Domestiziertes Dimensionsloch, das: Besäße man Nachtglas und eine kontrollierbare elektromagnetische Strahlungsquelle, so könnte man bei entsprechendem Stand der Konstruktionstechnik daraus ein dimensionslochähnliches Tor zu anderen Welten erschaffen: das Domestizierte Dimensionsloch. Wie eine solche Kontrolleinheit aussehen könnte und ob sich mit Hilfe dieser Steuerung auch spezifische Dimensionen ‚anwählen’ lassen würden, ist zur Zeit noch Spekulationsobjekt der Zukunftsforscher und der Autoren von Absurder Entdeckungsliteratur. Leider ist die Sache nicht so einfach, wie es sich diese höchst phantasiebegabten Spinner ausmalen. Ich weiß das aus eigener Erfahrung – und ich bin schließlich die höchste Koryphäe auf diesem Gebiet.
Sollte mir also jemand ein Stück Nachtglas bringen können, so würde er mich nicht undankbar finden.

Der Anblick war alles andere als spektakulär: eine Art schwarzer Spiegel, dreieckig, vielleicht zehn Meter hoch und an der Basis vier Meter breit. Seine Oberfläche kräuselte sich leicht, wie das Wasser eines Sees in der Abendbrise. Ringsherum führten dicke Kupferrohre, ein Zeiger auf einer daran befestigten Messskala bewegte sich gerade langsam aus dem grünen Bereich heraus und in den gelben hinein. Und eiskalt war es hier, so kalt, dass meine Außenhaut zu überfrosten begann.

„Wo-ho stellt ma-han denn hi-hier das Ziel ei-ein?“ stieß ich zitternd zwischen meinen gefrierenden Lippen hervor. Nirgends waren Steuerknöpfe zu sehen, lediglich zwei lange Kupferstäbe ragten vor dem Tor aus dem Boden.

Behbe schlang zwei Wellenausläufer um die Metallruten. „Nächste Station: Dimension Chrosonopol“ quäkte er. „Los, macht schon, wir halten euch das Tor offen, solange es geht.“ Aha und Zehze warfen sich gegen die Kühlrohre, dass es zischte. Der Zeiger auf der Skala rutschte wieder ein Stückchen nach unten. Im Nachtglas erschien das chaotische Bild einer riesigen Müllhalde, die sich bis zum Horizont erstreckte.

„Wenn ihr das überlebt und dazu noch euren Freund in dem ganzen Schlamassel findet, fress ich einen Schwamm“, knirschte Aha, in dessen Innerem sich bereits kleine Siedebläschen bildeten. „Wünsch euch Glück.“
„Von mir auch.“
„Und von meinem Schwippschwager mütterlicherseits natürlich auch.“
„Schnauze, Zehze!“

Linora drängte sich neben Behbe, streckte den Kopf ein wenig nach vorn und schien in sich hinein zu lauschen. „Völlig falscher Platz. Wir müssen ziemlich genau 102 Kilometer nach Osten und 43,7 nach Norden!“ kommandierte sie mit Nachdruck.

Die Tratschwelle wurde unruhig. „Hoffentlich ist deine Schätzung korrekt, Schwester. Weißt du, jeder Ortswechsel heizt das Nachtglas nämlich ganz schön heftig weiter auf.

„Mach dir mal keine nassen Hosen, Wassermaxx“, gab unsere Schlechte Idee leicht genervt zur Antwort. „Toleranz maximal ein Kilometer.“

Der Bildausschnitt im Tor wechselte schlagartig: Mehr Müll und mehr verschiedenartige, teilweise völlig unbekannte Gegenstände wurden sichtbar. Aha schrie vor Schmerz auf, während der Temperaturanzeiger am Torrahmen weit in den gelben Bereich hinein sprang. Mir wurde übel, denn ich hatte das Gefühl gehabt, der Boden unter meinen Füßen beginne zu kippen. Aber wo zum Geier steckte nur unser Germinator? Immer noch war nirgendwo eine Spur von ihm zu entdecken.

„Es hilft nix, wir müssen persönlich auf die Halde und suchen“, war ich mit den Kameradinnen und Kameraden (bis auf den Adler, der sich kategorisch weigerte, auch nur einen Fuß in den Transporter zu setzen) einer Meinung. Während Eaglechen brummend zur Seite rückte und Behbe beim Hantieren an den Metallruten zuschaute, kniffen wir Übrigen die Augen zusammen, fassten uns an den Händen, nahmen Anlauf und sprangen mit zusammengebissenen Zähnen los.

Stürze durch Dimensionslöcher sind an ähnlicher Stelle bereits des öfteren beschrieben worden, ich will die geschätzte Leserschaft ja nicht langweilen. Dies hier war jedoch eine völlig neue Erfahrung für uns alle. Ein ‚Dimensionslochritt’ im Zeitraffer sozusagen. Keine ‚saloppe’ sondern eine ‚galoppe’ Katatonie traf uns in die Magengrube, aber bevor wir dem Drang nachgeben konnten, unser Innerstes nach außen zu kehren, war alles schon wieder vorbei und unsere Gruppe am Ziel angekommen.

Mit schafigem Gefühl im Leib (vor allem auf der Zunge) ließen wir einander los und nahmen unsere Umgebung vorsichtig in Augenschein.

Wir starrten über Berge von Schutt hinweg in Richtung eines breiten, gemauerten Kanals, an dessen jenseitigem Ufer sich ein riesiger Gebäudekomplex befand, der selbst für einen Amateur-Abenteurer wie mich deutlich als „Hochsicherheitszone“ erkennbar war. Der Stacheldraht, die zehn Meter hohen Betonmauern, die Selbstschussanlagen und eine Legion mit unheimlich aussehenden Waffen ausgerüsteter Wachen sprachen eine deutliche Sprache. Ich hoffte inständig, dass uns das Schicksal nicht zu diesem Ort führen würde.

Wieder ‚peilte’ Linora und fing die Wellen unseres Gedankenübertragungs-Kristalls auf. Dann deutete sie mit ihrem zarten Ärmchen nach links. „Sechshundertdreißig Meter diese Richtung, plusminus zehn Meter“, konstatierte sie mit Bestimmtheit.

Obstip streckte die Nase in die Höhe, sog prüfend die Luft ein und verzog dann indigniert den Mundwinkel. „Hier mieft’s nach alten Rettungssauriern“, meinte er. „Das kenne ich von damals, als ich das Seniorenheim ‚Nordend’ gegen eine marodierende Grabsch-Welle verteidigte …“

„Bitte, Herr von Kolon“, drängte ich. „Können sie uns diese zweifellos höchst interessante Geschichte nicht später erzählen? Jede Minute, die wir hier ungenutzt verstreichen lassen, macht es meinen drei Mit-Wellen schwerer, das Tor funktionsfähig zu halten.“

Das sah Obstip ein und so überwand er schließlich seinen Widerwillen und wir konnten trotz der süßlich-muffig riechenden Atmosphäre losmarschieren.

Zuerst ging es hindurch zwischen allem möglichen Gerümpel wie Halden von leeren Hundefutterdosen oder Hügeln von zerbrochenen Speeren und verbogenen Schwertern. Hier Türme von Teppichen mit scheußlichen, völlig aus der Mode gekommenen Mustern und Farben, dort Berge von Ölbildern, die allesamt röhrende Hirsche, schreiend bunte Sonnenuntergänge oder barbusige Zigeunerinnen zeigten. Der Nattifftoffe bedeckte angesichts soviel geballter Geschmacklosigkeit das Gesicht mit den Händen und wünschte sich eine dunkle Brille herbei, um drohenden Augenkrebs zu vermeiden. Seltsamerweise war der Müll jedoch recht gut sortiert und teilweise sogar mit Hinweisschildern versehen Irgendjemand machte sich also offensichtlich hier die Mühe, den Schrottplatz in Schuss zu halten.

Nicht jedes Schild war für mich lesbar, geschweige denn verständlich. Ich sah zum Beispiel ‚UTNATOLAS ZUM PÖMPELN’, ‚AUSRANGIERTE SCHÜRBELWELLEN, Größe 48b’, ‚SCHELLACKPLATTEN 1913-14’, ‚LOCHKARTEN-LESEGERÄTE’, ‚PUTNAH-JAMBA-HOSEN MIT ARMELIERUNG’, ‚GESTOPFTE SCHILL-WÜRMER IN ASPIK’, ‚AUTOBIOGRAPHIEN NICHT-SO-BERÜHMTER UNLÄNDISCHER POSTBEAMTER AUS DEM MITTLEREN DIENST’, ‚RUBIK-WÜRFEL (neu, gebraucht, defekt)’ und ‚SAMMELALBEN FÜR MARGARINE-BILDER’, was immer all diese Dinge auch sein mochten.

Schließlich erreichten wir einen breiten, betonierten Geländestreifen, der auf den ersten Blick einer fahrzeugfreien Straße ähnelte (auf den zweiten übrigens auch). Ich blickte mich nach einer entsprechenden Hinweistafel um und wurde auch sofort fündig. ‚ReichsAutobahn’ stand in gotischen Lettern auf einem darüber hinweg gespannten Transparent und ich fragte mich sogleich, wie vermögend dieser Herr Reich wohl gewesen sein musste, dass er sich eine eigene Autobahn hatte leisten können.

In diesem Moment hob Obstip die Hand und legte warnend einen Finger auf die Lippen. „Pst. Ich höre etwas …“, flüsterte er. „Vier … nein … fünf Stimmen. Und eine davon gehört unserem Schweinsbarbaren. Etwa 200 Meter entfernt, wahrscheinlich dort hinter der Aufschüttung aus handgeflochtenen Peddigrohr-Körbchen. Leise jetzt … ich gehe mal nachsehen.“ Er zog den Degen aus dem Spazierstock blank und pirschte sich im Schutz diverser unförmiger Walzmaschinenteile an die Geräuschquelle heran. Und da es mir zu dumm ist, jeden Schritt und Tritt des Nattifftoffen zu kommentieren, soll Herr von Kolon besser selbst erzählen, was er da so alles gehört, gesehen und getan hat.

(Beginn von Obstip von Kolons Spionagebericht)

Okay, ich gebe es zu, für Späheraufgaben sind Nattifftoffen die erste Wahl. Keine andere Spezies übertrifft uns an Geschmeidigkeit und Sinnesschärfe – wenn wir nicht gerade auf Böden unterwegs sind, die andauernd unter unserem Gewicht krachen und knirschen. Wie sollte man sich bei einem solchen infernalischen Lärm nur unbemerkt einer Zielperson nähern? Die einzige Möglichkeit, mein Gewicht besser zu verteilen, war wohl … oh nein! Bitte nicht! Wie äußerst demütigend und würdelos.

Aber es blieb mir keine andere Wahl. Aufseufzend steckte ich den Stockdegen wieder weg und ließ mich auf alle Viere nieder, wie es bei meinen Vorfahren vor hunderten von Jahren üblich gewesen war. Und ich betone: Dies alles tat ich nur, um Germinator zu retten. Ich habe also noch einen dicken Gefallen bei ihm gut.

Langsam, vorsichtig trabte ich näher und konnte nun auch erkennen, was da vor sich ging.

Am Straßenrand vor mir parkte eine dieser langgezogenen, potthässlichen Ohnepferdkutschen, welche in technikverliebten Ländern ‚Stretchlimousine’ genannt werden. Neben ihr warteten zwei zigarettenrauchende Gestalten in grauen Anzügen und ebensolchen Bowlerhüten, die auf den ersten Blick menschlich wirkten, es aber wohl nicht waren, denn sie strahlten eine Eiseskälte aus, die bis zu mir herüber spürbar war. Sie unterhielten sich ungeniert mit seelenlosen Stimmen.

„ …se Selbstgedrehten hängen mir zum Hals raus“, erlauschte ich. „Absolut indiskutabler Geschmack. Ach, wenn ich da an die Zeit denke, wo man noch mit Genuss eine richtige Stundenblumen-Zigarre schmauchen konnte.“
„Sprechen sie nicht davon, sonst verliere ich die Contenance. Es hätte alles so erfolgreich ablaufen können damals … alle Zeit der Welt wäre unser gewesen … und jetzt muss man froh sein, dass man überhaupt noch existiert.“ Der andere hustete und holte rasselnd Luft.
„Ja, Herr Kollege, wenn wir nicht kurz vor der Katastrophe von diesem Dimensionsloch am Rand dieser eigenartigen Gasse verschluckt worden wären … und wenn wir nicht noch den Vorrat an Zigarren bei uns gehabt hätten … es wäre das Ende gewesen.“
„Am meisten graust mir vor der Schnellpafferei. Es ist ein Skandal, dass man hierorts immer noch keinen Ersatz für diesen widerlichen Stundengras-Tabak gefunden hat. In halbtoter Zeit steckt einfach nicht genügend Energie drin.“ Der graue Herr zündete sich zwei Glimmstengel gleichzeitig an und rauchte hastig, aber mit vor Ekel verzerrtem Gesicht.
„Essen sie doch ein paar Zeitschnecken, werter Bruder“, riet das zweite Geschöpf mit einem gehässigen Unterton in der Stimme. „Die halten etwas länger vor.“
„Sie sind ein wahres Scheusal“, antwortete der Erste müde. „Sie wissen genau, dass diese Mollusken kaum zu finden sind … und außerdem schmecken sie auch nicht gerade delikat!“

Beide schwiegen sich einige Sekunden lang an.

„Wo bleiben nur die Herren Kollegen?“ fragte der Zweite schließlich. „Es kann doch nicht so lange dauern, das bisschen Stundengras abzuernten. Ach, ach, wie tief sind wir nur gesunken …?“
„Im Übrigen“, murmelte der Erste wieder, „habe ich irgendwie eine innere Abneigung gegen alles, was auf dem Boden herumkriecht.

Irgendwo hinter einem Schrotthaufen erklang jetzt der Kampfschrei eines Schweinsbarbaren. Dann flog in hohem Bogen eine weitere grau gekleidete Männergestalt auf die beiden Wartenden zu, die panisch auseinandersprangen. Das ‚menschliche Geschoss’ prallte wie eine Strohpuppe auf das Dach der Limousine und verlor dabei die Zigarette, die es im Mund gehalten hatte. Noch bevor der Unglückliche ganz herunterrutschen und auf dem Boden aufschlagen konnte, löste er sich in Nichts auf.

Die beiden Anderen stöhnten. „Wieder einer weniger.“

Steifbeinig und atemlos kam nun der vierte Graue Herr auf die Stretchlimousine zugelaufen. „Nichts wie weg“, rief er den beiden Wartenden zu. „Diesen Ernteplatz können wir vorerst vergessen. Der Schweinekerl lässt niemanden ran … und ein Sparkonto eröffnen will er auch nicht.“

Alle drei sprangen in den Wagen. Ich konnte mich gerade noch hinter der Bronzestatue eines zu Recht vergessenen Generals verbergen, dann brauste die Limousine auch schon an mir vorbei und verschwand um die nächste Kurve.

Aus dem „Lexikon der erklärungsbedürftigen Wunder, Daseinsformen und Phänomene Zamoniens und Umgebung“ von Prof. Dr. Abdul Nachtigaller
Graue Herren, die: Außerirdische Spezies unbekannten Ursprungs von menschenähnlicher Gestalt, die sich von gestohlener Lebenszeit fremder Wesen ernährt.
Die Grauen Herren, im Volksmund auch ‚Zeitdiebe’ genannt, gaben sich bei ihrem ersten massenhaften Auftreten in einem nicht näher bezeichneten südeuropäischen Land als Angestellte einer angeblichen ‚ZeitSparKasse’ aus und versuchten, andere Daseinsformen zu indoktrinieren und zum ‚Zeitsparen’ zu animieren, was für die bedauernswerten Opfer mit dem Verlust jeglicher Lebensqualität einher ging. Diese Un-Wesen besitzen nämlich die Fähigkeit, Zeit jedweder Art in eine konsumierbare Form umzuwandeln (z.B. Zigarren aus Stundenblumen, Zigaretten aus Stundengras) und zwecks Erhalt ihres eigenen Un-Lebens zu verbrauchen. Können die Grauen Herren keine fremde Zeit mehr einnehmen, sterben sie und lösen sich in nichts auf.
Graue Herren sind wegen ihrer dämonischen Intelligenz und ihrer absoluten Skrupel- und Herzlosigkeit in allen Dimensionen gefürchtet. Von manchen Dimensionslochforschern wird sogar gemutmaßt, dass sie etwas mit der Entstehung oder Evolution der Zeitschnecken zu tun haben, worauf deren aschgraue Farbe und die Eigenschaft, dass sie in rohem Zustand von den Zeitdieben gegessen werden können, hindeuten.

Ich wartete einige Minuten, nur um sicher zu sein, dass das Fahrzeug nicht wieder zurückkam. Dann sprang ich auf und spurtete in Richtung von Germinators Stimme, die nun mit wohligem Grunzen ein schweinsbarbarisches Sauflied von sich gab. Auch wenn ich am liebsten sofort die Gefährten herbeigerufen hätte, musste ich doch sicher gehen, dass dies keine Falle war.

Meine Befürchtungen waren unbegründet. Wie ich von einem Haufen gusseiserner Sparschweinchen aus feststellen konnte, wälzte sich unser Freund direkt vor mir sorglos auf einem Grasflecken in der warmen Sonne und ließ es sich gut gehen. Zwischendurch griff er immer wieder in die Tiefen mehrerer Pappkartons, aus denen er merkwürdige Leckereien zutage förderte und auch sofort in seinen Rachen schob. Gerade vertilgte er eine Art Schokoladenriegel namens ‚Drei Musketiers’, und zwar immer vier oder fünf davon gleichzeitig. Zwischen den Bissen spülte er aus einer Flasche nach, auf deren Etikett ‚Fanta Mango’ stand.

Mit lautem Pfeifen machte ich auf mich aufmerksam. Germinator hob die karamellverklebte Schnauze und schaute mich überrascht an, während Linora, Zwarn, phellpe und Andray herbeieilten, um den Kameraden in die Arme zu schließen. Das war ein freudiges Wiedersehen! Der Schweinsbarbar grinste von einem Ohr zum anderen und präsentierte stolz den Gedankenübertragungs-Kristall, den er die ganze Zeit lang in der linken Hand gehalten hatte. „Der Minus hat mir gesacht, ich soll en nischt loslasse und des hab isch auch gemacht!“ verkündete er.

Das seltsame Grasgewächs, auf dem Germi geruht hatte, interessierte mich. Wie hatten es die Grauen Herren genannt? Stundengras! Glücklicherweise hatte ich noch eine faltbare Botanisiertrommel in der Beintasche meiner Khakihose, so dass ich einige Proben der Pflanze nehmen und sicher verstauen konnte. Möglicherweise hatten wir hier gerade eine völlig neue Spezies entdeckt bzw. konnten sie der Öffentlichkeit bekannt machen. Von den Zeitdieben waren solche wissenschaftliche Aktivitäten ja eher weniger zu erwarten.

Aus dem „Lexikon der erklärungsbedürftigen Wunder, Daseinsformen und Phänomene Zamoniens und Umgebung“ von Prof. Dr. Abdul Nachtigaller
Stundengras, das: Aus der Familie der Poaceae stammende krautige Pflanze von grünbläulicher Farbe, die in der Lage ist, Genff in jeglicher Form als Nährstoff aufzunehmen und zu verwerten. Ohne Stundengras wären viele Dimensionen bereits mit Genff überflutet und nicht mehr bewohnbar. Zum Glück benötigt dieses Gewächs jedoch extrem saure Böden zum Gedeihen, sonst würde alles Genff um ein Dimensionsloch herum von den dort wuchernden Pflanzen absorbiert und noch mehr Lebewesen müssten ohne Warnung in ihr Unglück hineinstürzen.

In diesem Augenblick fingen meine empfindlichen Ohren das Geräusch eines sich nähernden Motors ein. Dann quietschten Bremsen, Türen wurden aufgerissen und erregte Stimmen überschlugen sich.
„Schauen sie mal da drüben. Unglaublich!“
„Beim sogenannten Sogenannten, das muss ein Domestiziertes Dimensionsloch sein!“
„Soll das heißen, wir kommen endlich von hier weg?“
„So ist es, Herr Kollege. Nichts wie hin! Rennen wir, bevor es verschwindet!“
„Die Zigaretten! Das Stundengras! Wir dürfen unsere Vorräte nicht hier lassen!“
„Ein paar Handvoll genügen. Wenn wir erst in einer anderen Dimension sind, suchen wir uns eine bessere Alternative!“
„Stundenblumen-Zigarren. Nie mehr beschissenes, stinkendes Stundengras rauchen! Das Leben hat uns wieder!“

„Linora“, hauchte ich entsetzt. „Zum Tor, und zwar fix. Da will jemand hinein und dann ist es …“
„… zu spät“, wollte ich noch sagen, aber von Linora war bereits keine Spur mehr zu sehen.

(Linora übernimmt im fliegenden Wechsel)

Gut, dass ich direkt neben Obstip gestanden hatte. Er kam gar nicht zum Ausreden, da war ich schon weg. Und er hatte noch nicht einmal gemerkt, dass ich mir seinen Degenstock ausgeborgt hatte. Irgendwer oder –was wollte also durch unser künstliches Dimensionsloch nach Zamonien eindringen. Und wenn es erst einmal dort war und auf die Idee kam, ein neues Ziel zu wählen, würden wir bis in alle Ewigkeiten hier festsitzen. Dazu durfte ich es nicht kommen lassen.

Die kurze Strecke war für mich natürlich nicht mehr als ein Kratzensprung. In weniger als einer Sekunde stand ich bereits am Tor und postierte mich breitbeinig vor dem Durchgang. Auf der anderen Seite sah ich die drei Tratschwellen verzweifelt an den Kühlrohren und den Kontrollstäben hantieren. Dampf strömte ihnen aus allen Poren und sie hatten bereits einen beträchtlichen Teil ihres Körpervolumens eingebüßt. Dennoch machten sie keine Anstalten, aufzugeben. Aber gerade als ich dem muffig in der Ecke stehenden Adler ein Zeichen geben wollte, mir zur Hilfe zu kommen, hörte ich, wie sich von hinten rasche Schritte näherten. Drei grau gekleidete Männer, mit Taschen und Beuteln bepackt, kamen drohend auf mich zu.

Ich starrte sie grimmig an, während ich gleichzeitig Obstips Stock erhob.

„IHR KÖNNT NICHT VORBEI !!!“

brüllte ich mit meiner lautesten Stimme.

Die Gestalten zögerten. Offensichtlich wussten sie nicht, was sie von mir halten sollten. Dann fächerten sie sich auf, während sie einander verzweifelte Blicke zuwarfen und sich zum Losrennen bereit machten.

Zwei würde ich aufhalten können. Aber einer würde es wahrscheinlich schaffen.

Aus der Ferne näherten sich Obstip und die Anderen im Galopp. Gleich würden sie hier sein. Wenn die Invasoren durch das Tor kommen wollten, dann durften sie nicht mehr länger warten …

Alle drei Angreifer sprinteten wie auf Kommando gleichzeitig los. Meine Güte, waren die Kerle schnell. Aber ich war schneller. Dem mittleren rammte ich meinen Kopf in die Magengrube, während ich dem rechten Obstips Stock zwischen die Beine schleuderte, so dass er hinstürzte und sich dabei mehrfach überschlug. Der dritte jedoch setzte mit einem Riesensprung über mich hinweg und stürzte durch den Ausgang.

Dort lief er genau in Eaglechens Faust.

(Puha, was für ein Masel. Ich glaube, euer Expeditionsleiter übernimmt dann besser mal wieder.)

Germinator und ich waren natürlich die Langsamsten. So kamen wir gerade noch zurecht, um zu sehen, wie unsere Hutzen die drei gestürzten und reglos daliegenden Männer in den Schwitzkasten nahmen. Aber nicht lange, denn alle ließen mit schrillen Schreien sofort wieder von ihren Opfern ab.

„Wuiwuiwui, die sind ja eiskalt!“, kreischte phellpe und rieb sich die erstarrten Hände. Zwarn und Eaglechen fluchten nur halblaut vor sich hin und litten stillschweigend. Bei diesem Anblick hatte Obstip einen Geistesblitz.

„Fesseln wir diese Monster doch an die Kühlrohre“, schlug er vor. „Das entlastet die Tratschwellen und gibt den Herrschaften hier Gelegenheit, endlich einmal eine sinnvolle und nützliche Tätigkeit auszuüben.

Mit Nachtigallers Spezialseil aus der Kammer der vergessenen Patente zurrten wir die benommen daliegenden Grauen Herren an den Kupferröhren des Torrahmens fest. Dies ließ den Temperaturanzeiger, der bereits knapp an der roten Gefahrenmarkierung gestanden hatte, auf einen etwas beruhigenderen unteren Gelbwert fallen. Die drei Tratschwellen Aha, Behbe und Zehze waren nur noch eine Dünung ihrer selbst. Völlig dehydriert brachen sie in der Mitte des Raumes zusammen, so dass wir Erste Hilfe leisten und sie mit Eisstückchen wieder hochpäppeln mussten.

Ich hatte schon geglaubt, nun seien all unsere Probleme gelöst und wir hätten mit dem Domestizierten Dimensionsloch endlich eine bequeme Möglichkeit an der Hand, unsere Kameraden im Labyrinth zu uns zu holen und dann gemeinsam entweder in die Nachtschule zurückzukehren, oder ein anderes lohnenswertes Ziel anzusteuern, da machte uns das Schicksal erneut einen Strich durch die Rechnung: Alle drei Hutzen verkündeten unisono, sie könnten ihre Arme nicht mehr bewegen.

„Ich friere ein“, hauchte phellpe. „Obstip, Andray, was geht hier vor?“

Einer der grauen Herren hob den Kopf und verzog den Mund zu einem messerdünnen Lächeln. „Sie hätten uns nicht so fest an sich pressen sollen, meine Gnädigste“, meinte er geringschätzig. „In spätestens zehn Minuten sind Sie nur noch Gefrierfleisch … falls ihre Freunde nicht kooperieren. Denn nur wir haben die Macht, Ihr Leben zu retten. Also, wenn die Herrschaften so freundlich wären, uns wieder loszubinden …“

BOOOOONG!

Was war das nun wieder? Mir kräuselten sich die Nackenwellen. Irgend etwas braute sich über uns zusammen. Etwas, das mit … Wasser … zu tun hatte.

BOOOOONG! BOOOONG!
BOOONG! BOOONG! BOOONG!

Ein Finsterberggewitter. Erbarmen!

Die drei Grauen Herren zuckten zusammen. Auch sie merkten, dass da etwas nicht stimmte, konnten aber noch nicht abschätzen, was es war. Nun, hier, so tief unten an der Wurzel der Finsterberge, waren wir wohl in Sicherheit. Aber unsere Kameraden oben im Labyrinth - was würde mit denen geschehen, wenn unübersehbare Wassermassen die Gänge und Stollen überfluteten?

Meine Gedanken überschlugen sich und hinter Obstips Stirn ging wohl Ähnliches vor, denn er schaute ruckartig auf das Messinstrument am Dimensionslochrahmen. „Einen einzigen Sprung schaffen wir mit dem Ding noch“, murmelte er.

GEDANKENBLITZ! Nein, ZWEIFACHER GEDANKENBLITZ, denn Obstip und ich hatten auf einmal dieselbe Eingebung.

BOOONNNGGG! BOOONNNGGG! Die Ereignisse begannen sich zu überschlagen.

„Wir schneiden Sie los, Sie helfen den Hutzen!“, schrie ich den Invasoren zu. „Herr von Kolon, ihren Degen, schnell!“

Obstip warf mir die Klinge zu, während er zu den Kontrollstäben eilte. Ich säbelte inzwischen die Fesseln durch und scheuchte unsere ungebetenen Gäste zu den Erfrierenden, die, blau vor Todeskälte, bereits kein Gelenk mehr krümmen konnten.

BONGBONGBONGBONGBONGBONGBONG !!!!

Da draußen über den Berggipfeln brach jetzt wohl die Hölle los. Es konnte nur noch wenige Minuten dauern, bevor die ersten Regenflutwellen durch die Madenstollen rauschten.

Die Zeitdiebe knieten inzwischen neben den Hutzen und hielten diese an den Gliedmaßen gepackt, während sie mit ihren bleichen Fingern die Vereisung wieder aus ihnen heraussaugten. Ich hoffte nur, dass sie dabei nicht auf die Idee kamen, sich ihre gierigen Mägen mit der Lebenszeit unserer Freunde vollzuschlagen. Aber sie waren wohl viel zu beschäftigt und verwirrt, um an so etwas zu denken.

Obstip griff nach den Kupferruten. „Zamonien, Finsterberge, Mitte des Labyrinths“, knirschte er fast unhörbar. Das Domestizierte Dimensionsloch gab einen schaurigen Ächzer von sich. Wieder wechselte das Bild und wir konnten den durch das Tor in den uns so vertrauten Raum hineinblicken.

Du meine Güte, was war denn hier passiert?

(Das erzählt uns am besten Kulla und gibt gleichzeitig einen Überblick, was im Lager inzwischen vorgefallen ist.)

Mit Verlaub, der Herr von Kolon ist wirklich ein Witzbold. Köstlich. In 24 Stunden sollen wir uns zurück zur Nachtschule durchschlagen, hat er gesagt, wenn die Rettungstruppe dann nicht mit Germinator wieder da ist. Wie das denn? Ohne Zeitmesser? Bin ich eine Stoppuhr? Sollen wir jetzt anfangen, von 86400 an rückwärts bis null zu zählen, wie weiland Käpt’n Blaubär im Ewigen Tornado? Ich bin doch nicht bekloppt. Verlasse ich mich eben auf meine innere Uhr, das ist genauso sicher. Wenn der Minus nur einmal aufhören würde, um die Amanda herumzuspringen. Das macht sogar eine gestandene Hutze wie mich ganz verrückt. MINUS! MUSS DAS DENN SEIN? Ach, es hat ja doch keinen Zweck.

Das mit Amanda macht mich ja völlig fertig. Abschüssige Tiefendepression! Gräßlich! Ob das wohl ansteckend ist? Nun, Amanda ist zwar äußerst hart im Nehmen (einmal in der Dunkelkammer haben wir glatte vier Stunden lang geglaubt, sie sei erstickt - Andray hatte schon mit Elektroschocks zur Wiederbelebung begonnen - da ist sie aufgestanden als ob nichts gewesen wäre und einfach fortgegangen), aber auch die Kraft einer Berghutze hat irgendwann ein Ende. Wir haben schon alles versucht, wirklich ALLES. Zeit genug hatten wir ja. Wir haben sie durch die Gegend gekugelt, Minus hat sie geschlagene zwei Stunden lang mit den wildesten Zwergpiratenflüchen überschüttet, die er nur kannte (um sie zu reizen und zu einer Reaktion zu bewegen) und wir haben sogar noch ein „Hutzenspaß“-Paket geöffnet – mit dem Resultat, dass wir uns bis zum Erbrechen Berghutzen-Friseurwitze wie diesen hier anhören durften:

Berghutze: Waren Sie das, der mir beim letztenmal die Haare geschnitten hat?
Friseurgeselle: Kann nicht sein. Ich arbeite erst seit fünf Jahren hier.

Schließlich, nach dem 41. Witz wurde es Minus zu dumm und er hackte den Quasselkasten mit seinem Piratensäbel kurz und klein. Finito! Aber genutzt hatte es trotzdem nichts.

Aus lauter Verzweiflung hab ich’s dann endlich mit meiner Gewürzkiste versucht. Und als ich der Amanda die Zimtbüchse unter die Nase halte, geschieht das Unglaubliche…

SIE REISST DIE AUGEN AUF !!! SIE ZEIGT AUF MINUS, DER IN DIE LUFT HOPST WIE EINE SELSILLISCHE SPRINGSCHRECKE UND GRUNZT:

„ICH SPÜRE
EINE GEWALTIGE
ERSCHÜTTERUNG!
DER MACHT
ALLES NUR
NOCH SCHLIMMER!“

Minus guckte betreten und hörte endlich mit der plöden Hupferei auf. Mir dagegen fiel ein Hutzengebirge vom Herzen, aber gleichzeitig bekam ich auch ein ganz, ganz mulmiges Gefühl in der Magengegend. Amanda hatte Recht. Der Geschmack der Luft wechselte ins Quecksilbrige. Gleichzeitig sank der Luftdruck und die Ozonwerte verschlechterten sich. Das deutete auf eine bevorstehende Wetterveränderung hin. Etwas braute sich zusammen.

Amanda sprang auf die Füße und streckte ihre Gliedmaßen. „Was für ein Krampf“, motzte sie kopfschüttelnd. „Ich weiß gar nicht, was da über mich gekommen ist. Krank, sagst du? Abschüssiege Tiefendepression? Was ist denn das wieder für ein Scheiß? Nein, ich, äh, hab mich nur ein bisschen ausgeruht. Ich werd’ hier unten doch nicht krank, verf***t-nochmal-und-halleluja, ich doch nicht. Aber sag mal, Minus …“, die Stimme der Hutze bekam einen drohenden Unterton, „habe ich da nicht vorhin mit halbem Ohr mitbekommen, dass du mich zwei Stunden lang beleidigt hast? Na warte, du Laus, wenn ich dich erwische! Bleib stehen, damit ich ein Lesezeichen aus Dir machen kann!“

Ich ließ sie gewähren. Eher hätte man Erfolg, einen rasenden Bollogg zu stoppen, als eine wütende Amanda. Und dann, mitten in der Verwirrung, dem Herumgerenne und den vergeblichen Versuchen der Ärgerhutze, auf Minus’ flitzende Gestalt zu latschen … unangemeldeter Besuch.

Ich befürchtete schon die alleinige Rückkehr von IndianaSepp, aber es war kein Stollentroll. Es war eine Finsterbergmade. Ein ziemlich großes und altes Exemplar sogar.

Die Made scherte sich nicht an unserer Anwesenheit. Sie kickte die herumliegende Ausrüstung zur Seite und rannte mit lauten „Ääh“ und „Ööh“-Rufen im Kreis herum.

Eine zweite Eisenmade erschien, dann eine dritte. Wir beeilten uns, das Gepäck und das Kochgeschirr in Sicherheit zu bringen, bevor alles platt getrampelt wurde. Amanda, gerade erst vor wenigen Minuten aus ihrer Starre gerissen, begann bereits wieder am ganzen Körper zu zittern. Alles um uns herum lag nun in Stille und Halbdunkel, nur das grünliche Licht einiger weniger Quallenlampen übergoss den Platz mit geisterhaftem Schimmer. Aus den Gängen drang das Geräusch weiterer sich nähernder Maden, die sich durch das Labyrinth ihren Weg bahnten, aber sobald sie erst das Zentrum erreichten, bewegten sie sich lautlos wie Schatten.

Große, wilde Männchen waren da mit starken Metallzähnen und Resten von Schlacke und Erz in den Gelenken und junge Burschen, die sehr stolz auf ihre Fähigkeit zu sein schienen, Feuer zu speien. Ältliche Wühler stießen hinzu, mit schmalen, hohen, dick gepanzerten Backen; Kampfmaden im Schmuck ihrer zahllosen Schrammen; zuletzt wechselte ein gewaltiges Weibchen in die Runde mit zerbeultem Schredder und dem furchtbaren Mal des Rostes auf blind gewordener Flanke.

Aus dem „Lexikon der erklärungsbedürftigen Wunder, Daseinsformen und Phänomene Zamoniens und Umgebung“ von Prof. Dr. Abdul Nachtigaller
Madenbalz, die: Auch wenn die Finsterbergmade zu den Rarlebewesen gehört, heißt dies noch lange nicht, dass sich diese Spezies nicht vermehren würde. Im Gegenteil, die (äußerst selten vorkommende) Madenbalz ist, neben dem Paarungsspiel der Seeschlangen im Fröstelgrund, eine der ästhetisch ansprechendsten Formen der Partnerwerbung in ganz Zamonien. Nur wenigen Sterblichen war es je vergönnt, dieses atemberaubende Schauspiel zu beobachten - und noch wenigeren gelang es, lebend zu entkommen, um davon zu berichten.
Dies liegt nicht etwa an der Gefährlichkeit des Vorganges selbst, sondern vielmehr an dessen äußeren Umständen: Die Finsterbergmaden paaren sich nämlich nur, wenn sie spüren, dass ein Finsterberggewitter naht. Bereits mehrere Stunden vor einem solchen Naturereignis geraten geschlechtsreife Eisenmaden in höchste Erregung. Heisere "Ääh" und "Ööh"- Laute ausstoßend streben sie, ihrem Instinkt folgend, einem bisher noch unbekannten Ort inmitten der Tiefen des Gebirges zu: dem Madentanzplatz. Jüngere Maden (weniger als 300 Jahre alt) werden zwar von derselben Unruhe ergriffen, verlassen sich in ihrer Gefühlsverwirrung jedoch nicht mehr auf die Instinkte, sondern irren ziellos in den Stollen umher, bis die Wasserflut sie wieder abgekühlt hat.
Die paarungsbereiten Eisenmaden jedoch beginnen bei ihrem Aufeinandertreffen mit einem höchst merkwürdigen Ritual: Im Rhythmus "Einmal rechts und zweimal links" führen sie einen Reihentanz auf, in dessen Verlauf die Weibchen silberglänzende Eier ablegen, die von den Männchen aufgenommen und mit den Schwänzen hin- und hergeworfen werden, wobei die Befruchtung erfolgt. Nach dem Tanz (der auf Grund seiner Intensität bisweilen auch Finsterbergbeben auslösen kann) zerstreuen sich die Maden wieder und überlassen es der einströmenden Flutwelle, die befruchteten Eier in die hintersten Winkel der Stollen zu tragen, wo sich die Jungtiere entwickeln und schließlich, nach ca. 164 Jahren, ausschlüpfen können.
Unter diesen Umständen ist wohl klar, warum es so wenige Finsterbergmadenforscher gibt.

Nun, das war’s dann wohl gewesen. Egal was wir taten, vor dieser Flut würde es kein Entkommen geben, niemals würden wir es vor Beginn der Katastrophe zurück in die Nachtschule schaffen, selbst wenn wir noch so schnell rannten. Noch nicht einmal zu Graubarts Schiff, wenn mir die Überlebenschancen dort auch nur um ein Winziges größer erschienen. Alles was uns blieb war, auf ein Wunder zu hoffen. In der Zwischenzeit konnten wir ja das Kulturprogramm genießen, selbst wenn es das Letzte war, was unsere Augen sehen würden. Immerhin würden wir in Schönheit sterben: Sic transit gloria mundi.

Inzwischen hatten sich mehrere Dutzend Eisenmaden im Zentrum des Labyrinths versammelt und stellten sich wohlgeordnet in zwei konzentrischen Kreisen, einander gegenüber, auf. Nur das Weibchen blieb in der Mitte stehen. Es drehte sich langsam um sich selbst, wobei es den Madenrythmus stampfte: zweimal rechts, einmal links. Die Männchen nahmen den Schritt auf und tanzten ebenfalls los, der äußere Kreis rechtsherum, der innere entgegengesetzt. Wände, Boden und Decke begannen unter der Wucht ihrer Sprünge zu beben, was, ich zweifelte nicht daran, bis hinauf in die Nachtschule zu spüren sein musste. Der Anblick war einfach grandios, auch wenn das Getöse alles überstieg, was ich je gehört hatte. Selbst auf die Ohren gepresste Fäuste boten kaum noch Schutz.

Das Madenweibchen hüpfte nun in die Höhe und drehte einen eindrucksvollen Salto. Dabei lösten sich von seinem Hinterleib etliche silbrige Kugeln, die langsam, wie Seifenblasen, nach außen drifteten. Dort wurden sie von den Männchen in Empfang genommen. Mit Hilfe ihrer platten Feilenschwänze fingen diese die Silberbälle auf, ließen sie zwischen den Beinen unter ihrem Körper entlang rutschen und pusteten sie mit ihrem heißen Atem wieder in die Höhe. Inzwischen produzierte das Eisenmädchen weitere Eier und füllte die Luft mit schimmerndem Flitter.

PLING!

Einer der Bälle folgte plötzlich der Schwerkraft und prallte hart auf den Boden auf. Ein Madenfuß erwischte ihn seitlich, rollte ihn in die Finsternis eines Tunnels. Die zweite Kugel hatte nicht so viel Glück: ein Tritt und sie war platt. Ähnlich erging es der nächsten, aber die vierte schaffte es wieder, davonzurollen. So ging es weiter und weiter. Stundenlang drehten sich die Finsterbergmaden in bizarrem Spiel umeinander. Hunderte, vielleicht tausende von Eiern wurden gelegt, befruchtet und zerstört in dieser relativ kurzen Zeit. Aber etlichen gelang es doch, sicheren Boden zu erreichen, in dunkle Spalten zu kullern, in vergessenen Ecken zu verschwinden. Das hypnotische Stampfen und Springen lullte auch uns ein, selbst der infernalische Lärm wurde ein Teil unserer selbst, so dass wir ihn irgendwann gar nicht mehr wahrnahmen.

Stunden später, als wir langsam wieder zu uns kamen, standen wir dann allein am Rand des weiten Rundes und nur das Klacken sich entfernender Eisenmadenschritte hallte noch als ruheloses Echo durch die Gänge. Überall klebten die Reste zermatschter Eier; Schotter aus diversen Grabungslöchern, Käsekuchenbrocken und Fetzen von buntem Einwickelpapier (die kläglichen Reste des Hutzenspaß-Paketes) lagen über den ganzen Boden verstreut. Und in diesem Augenblick …

BOOOOONG!

Okay. Wir hatten den Genuss gehabt, jetzt wurde uns die Rechnung präsentiert.

BOOOOONG! BOOOONG!
BOOONG! BOOONG! BOOONG!

Ein paar kurze Minuten vielleicht noch. Jetzt erlaubte es sich Minus doch tatsächlich, auf meine Schulter zu klettern und Amanda und mich zu fragen, ob wir angesichts des sicheren Exitus nicht noch „ein letztesmal ein bisschen Spaß mit ihm haben“ wollten. Leider ist es sehr schwierig, einem Zwergpiraten eine zu scheuern und sogar mein getreues Paddel war mir in dieser Situation keine große Hilfe. Nun, es war eh egal. In wenigen Atemzügen würden wir alle tot sein.

BOOONNNGGG! BOOONNNGGG!

Leises Rauschen in der Ferne, das langsam, aber stetig anschwoll. Wir klammerten uns verzweifelt aneinander und hauchten ein letztes Lebewohl.

BONGBONGBONGBONGBONGBONGBONG !!!!

Mit einem unbeschreiblichen Geräusch öffnete sich vor uns ein Riss im Raum-Zeit-Gefüge. Ein gewaltiges, bläulich leuchtendes Dreieck erschien, dessen Spitze in der Höhlendecke verschwand. Auf der anderen Seite sah ich …

„Zwarn, phellpe, Eaglechen, Linora, Obstip, Andray! Hurra!“ Aber wer waren diese drei grau gekleideten, unangenehm aussehenden Menschen dort? Und was waren das für fremde Tratschwellen, die sich da tummelten?

Obstip winkte aufgeregt und machte uns Zeichen, durch das Tor zu springen. Gleichzeitig versuchte er, die grauen Männer mit seinem Spazierstock vom Durchgang wegzudrängen, während Andray wild gestikulierend auf sie eintratschte.

„Noch nicht durch den Ausgang, meine Herren!“, hörte ich sehr gedämpft seine Stimme. „Wenn Sie jetzt da rausrennen, wird das ihr sicherer Tod sein!“

Die Fremden nickten einander kurz zu. Auf ihren Gesichtern erschien ein wildes Grinsen. Während wir in aller Eile erst unsere Ausrüstung und dann uns selbst durch das Transport-Artefakt hinüberwarfen, schrie einer von ihnen: „Das ist doch nur ein billiger Trick!. Aber darauf fallen wir nicht herein, nein, für wen halten Sie uns denn? Auf zu neuen Welten, meine Herren!“ Dann stießen sie mit blitzschnellen Bewegungen Obstip und den Herrn Expeditionsleiter gewaltsam zu Boden und sprangen mit furchtbarem Triumphgeheul in das sich sogleich verfinsternde Nachtglas hinein.

Das letzte, was ich von ihnen sah, bevor sich der Übergang endgültig schloss, waren ihre entsetzensverzerrten Gesichter und eine riesige Wasserwoge, die sich anschickte, mit Urgewalt über den Unglücklichen zusammenzustürzen.

(Ende von Kullas Bericht. Die Tratschwelle macht dann wieder weiter.)

Danke Kulla, das war sehr anschaulich und spannend erzählt. Wir scheinen da wirklich was verpasst zu haben.

Nur Bruchteile von Sekunden bewahrten uns vor der Überflutung. Obstip, von einem mächtigen Hieb gegen seinen Brustkorb mindestens zwei Meter weit davongeschleudert, musste die Kupferruten loslassen und das Nachtglas wurde rasch wieder zu einer festen Wand, die sich nun, nach Durchgang des letzten der Grauen Herren, mit fortschreitender Erhitzung immer mehr zu verwerfen begann. Schon zeigten sich erste feine Risse in der Fläche, dann knirschte es infernalisch, und mit einem Lärm wie zehntausend zerschmetternde Rhummflaschen starb das wahrscheinlich letzte noch existierende Domestizierte Dimensionsloch Zamoniens. Mist.

Wir erhoben uns vorsichtig, sahen nach, ob wir nicht durch fallende Nachtglassplitter verletzt worden waren und wischten uns die letzten matschigen Eiskristalle von den Körpern. Überall begann es zu tropfen und zu schmelzen, da die hocherhitzten Kühlrohre nun ihre Temperatur frei in die Luft ableiteten konnten. Bald umfing uns angenehme Wärme, die unseren ausgelaugten Körpern willkommene Erholung spendete. Inzwischen rumpelte das Gewitter über den Berggipfeln lustig weiter und badewannengroße Wassertropfen ließen die Felswände noch beinahe eine Stunde lang erdröhnen wie eine gigantische erzene Glocke.

Ich hatte keine Ahnung, wann die Reste der Gewitterflut unseren Aufenthaltsort erreichen würden, hoffte aber, dass sich das Wasser auf seinem Weg durch die Tunnels und Kavernen so verteilen müsste, dass uns hier, wenn überhaupt, nur noch ein Rinnsal erreichen würde. Die Hutzen untersuchten das Gefälle des Bodens und stimmten mir prinzipiell zu. Okay, es konnte natürlich sein, dass eine vorwitzig platzierte senkrechte Madenröhre uns in wenigen Sekunden fluten würde, aber sehr wahrscheinlich war dies nicht.

Alles blieb trocken. Das Glück des Tüchtigen, denke ich.

Aha, Behbe und Zehze bereiteten sich inzwischen ausgelassen auf ihren Abschied vor. Während sie letzte Wasserreserven ‚auftankten’ schwappten sie in der Gegend herum und sangen dabei närrische Liedchen.

„Der Brünnenfeld, der Brünnenfeld,
Das ist der größte Depp der Welt,
Fiderallala, fiderallala,
Fiderallalalala“,

krähte Behbe mit sich überschlagender Fistelstimme. Und Zehze ergänzte:

„Heut steigt er ein ins Taucherboot
Und morgen ist er mausetot,
Fiderallala, fiderallala,
Fiderallalalala!“

Obstip kam, ganz entgegen seinem Naturell, höchst hektisch herbeigestürzt. „Herr Behbe, Herr Zehze, was haben Sie da gerade eben gesungen?“, keuchte er.

„Der Brünnenfeld, der Brünnenfeld …“, begannen die Welleriche unsicher. „Das ist nur ein harmloses Liedchen, das wir uns mal ausgedacht haben. Schon ganz schön lange her. Damals, kurz bevor wir geschnappt wurden und in Gefangenschaft kamen war das.“
„Ja. Erinnerst Du Dich? Das Unterwasserschiff? Pasta Aldente und Pizza Quadrostagioni, die Venedigermännlein? Und der brummige Glǿd Hammerschlag, der die Bergzwerge angeführt hat? Hach, was waren das noch Zeiten!“
„Vorbei, vorbei…“

Der Nattifftoffe wurde immer aufgeregter. „Soll das heißen, dass Sie an der Finsterbergexpedition von Sigobertus Brünnenfeld vor über 200 Jahren teilgenommen haben?“ fragte er atemlos.
„Yo, Mann.“
„Klaro, Mann. War ’ne tolle Geschichte damals. Schade nur, dass es so in die Hose gegangen ist.“
„Wir waren als Taucher angeheuert. Mit eigenem Maxikübel und täglichem Frischwasser“, meldete sich nun auch Aha, der neben seine Kumpane getreten war. „Fragen Sie nicht, was wir alles erlebt haben, ich will nicht mehr daran denken. Jedenfalls sind wir irgendwann von dem Riesen aus der Brühe gefiltert und ins Kühlsystem gesperrt worden. Zwei mal hundert grauenhafte Jahre lang.“
„Aber jetzt sind wir frei, Juchhei!“
„Endlich zurück in zamonische Tiefseegewässer!“
„Endlich zurück zu meinem Schwippschwager mütterlicherseits!“
„Schnauze, Zehze!!!“

Obstip stieß ruckartig den angehaltenen Atem aus. „Das bedeutet also, dass die Reste von Brünnenfelds Expedition noch hier in der Nähe zu finden sein müssen“ stellte er fest.

„Aber sicher, oh Großmufti“, antwortete Behbe. „Wenn keiner den Schrotthaufen beseitigt hat, liegt der Kram sicher noch irgendwo hier rum. Aber was willst du mit all dem Zeugs? Das fällt doch auseinander, wenn du es nur scharf anschaust.“

„Das wird sich noch zeigen“, meinte der Toffe. „Liegen die Sachen vielleicht gerade in der Nähe eures Weges nach draußen? Könnt ihr uns vielleicht einen letzten Gefallen erweisen und uns dorthin bringen? Ich möchte die Herrschaften in diesem Zusammenhang mit Verlaub auch auf das ‚Gesetz über die Freiheit der Wissenschaft (GÜDFDW Band VIIIa §§ 58-91 und 131 ff.)’ aufmerksam machen, laut dem Privatpersonen während einer Expedition in jeglicher Weise zu unterstützen und am Fortkommen nicht zu hindern sind. Aber habe ich das nicht bereits an anderer Stelle erwähnt?“

Die drei Wellen steckten die Köpfe zusammen und tuschelten. Schließlich, nach bangen Minuten, trat Aha vor, der sich seit der Befreiung immer mehr zum Sprecher der drei Wellenjungs gemausert hatte.

„Also gut“, deklamierte er würdevoll wobei er den nattifftoffischen Tonfall perfekt imitierte. „So möge es geschehen. Eigentlich wollten wir ja so schnell wie möglich in die Freiheit der Meere davoneilen, aber in Anbetracht Eurer Verdienste um die Rettung unserer Wellengemeinschaft werden wir das noch ein wenig verschieben. Wir gestehen euch also eine kurze Ruhepause zu, dann geleiten wir euch zu dem ollen Gerümpel und dann ….“, er jubelte plötzlich in voller Lautstärke los, „ … ENDLICH PARTY !!!“

So schlugen wir unser Lager in den Trümmern auf, und während Kulla den Kessel anheizte und einen leckeren Eintopf zauberte, versammelten wir Übrigen uns um das Lagerfeuer zum Singen, Tratschen und Erzählen. Stoff für spannende neue Geschichten gab es ja genug. Und natürlich vergaßen Obstip und ich auch nicht, in einem gekühlten Druckbehälter einen der kostbaren Nachtglas-Splitter zu verwahren, mit dem wir nach unserer Rückkehr mächtigen Eindruck bei den daheim gebliebenen Mitschülern schinden wollten.
Andray DuFranck
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Registriert: Do 23. Mai 2019, 22:56

Re: Expedition in die Tiefen der Nachtschule

Beitrag von Andray DuFranck »

EXPEDITIONSTAGEBUCH
„Reise in die Tiefen der Nachtschule bis zur Mitte Zamoniens"

10. Tag

Ich gischtete aus meiner Schlafmatte hoch, als Germinator mich etliche Stunden später rüttelte und schüttelte. „Andray, Andray“, schnaubte er. „Ich hab grad gemerkt, dass die drei Pfütze wech sind. Was mache mir denn jetzt?“

Ich schaute zu dem Platz hinüber, wo die Welleriche sich gestern Nacht, erschöpft vom vielen Erzählen, in einem Haufen zusammengekuschelt hatten. Er war nicht mehr da. Die Tratschwellen waren tatsächlich verschwunden.

Beunruhigt warf ich meine Gelatine ein und, nachdem ich meine Form wiedererlangt hatte, untersuchte den Fleck, wo sie eingeschlafen waren. Mir wollte nicht in den Kopf, warum sich die sonst so hilfsbereiten Jungs plötzlich abgesetzt haben sollten.

„Bei Wodans Rache, jetz is Ebbe in de Speis“, gab der Schweinsbarbar mit mutloser Stimme seinen Senf dazu. Das brachte mich auf einen Gedanken.

„Ebbe? Die drei werden doch nicht im Traum mit den Gezeiten davongeflossen sein?“

Eine hektische Suche später konnte ich Germinator Entwarnung geben. In der Ecke eines Korridors, nur wenige Dutzend Meter von unserem Lager entfernt, hatte ich die Verschwundenen friedlich schlummernd und vor sich hin blubbernd entdeckt. Nachtwandelnd mussten sie während der letzten Stunden dem Einfluss des Mondes gefolgt sein. Warum hatten wir es auch nur versäumt, eine Nachtwache einzuteilen, schalt ich mich selbst und nahm mir fest vor, nie wieder eine solche Unvorsichtigkeit zuzulassen.

Wie ein Trompetensignal schallte in diesem Moment Amandas Weck-Gekreische durch die Hallen. Selbst Obstips durch die Luft fliegende Wanderstiefel konnten die resolute Dame nicht von der Erfüllung ihrer Pflicht abhalten. Aha, Behbe und Zehze fuhren wie von der Tarantel gestochen hoch und brüllten instinktiv: „Alarm, Alarm!“ Das übliche Morgenchaos war in vollem Gange.

„Da wird ja die Milch sauer“, beschwerte sich der Nattifftoffe, während er am Instant-K-Fee schlürfte und seine sündteuren Ledertreter wieder einsammelte. „Es wird Zeit, dass diese Zickenhutze endlich unter die Haube und in gemäßigteres Fahrwasser kommt.“ Dabei schielte er hoffnungsvoll auf den Adler, der jedoch keine Anstalten machte, bei Amanda einen Annäherungsversuch zu wagen.

Minus quiekte. Er hatte, noch leicht verschlafen, nicht aufgepasst und war vom Fuß seiner ‚Schutzbefohlenen’ zwar spät, aber dafür umso heftiger belatscht worden. Darum brachte er sich auch schnellstmöglich in der Kanzel von Obstips Höhlenhelm in Sicherheit und beschäftigte sich lieber damit, den Gedanken-Kristall wieder einzusetzen und fein zu justieren.

Schließlich waren wir aber alle wieder abmarschbereit.

Die drei Wellenbrüder flossen voran, fröhliche Lieder schmetternd und voll der Vorfreude auf ihre baldige Heimkehr:
„Das Tratschen ist der Welle Lust,
Das Tratschen ist der Welle Lust,
Das Tra-ha-tschen.
Das muss `ne dumpfe Dünung sein,
Der niemals fiel das Tratschen ein,
Das Tra-ha-ha-ha-ha-ha-tschen,
Das Tra-ha-tschen.“
Wir ertrugen es mit heiterer Gelassenheit, denn wir konnten die Gefühle der so lange Eingesperrten verstehen.

Je tiefer wir kamen, umso verfallener und brüchiger wurden die wenigen noch vorhandenen riesenhaften Installationen. Schließlich, als wir schon glaubten, wir hätten die letzten Ausläufer dieser fremdartigen Zivilisation hinter uns gelassen, erreichten wir die Schleuse.

Ein mächtiges rundes Bronzetor, hinter dem es donnernd gurgelte und rauschte, verhinderte jegliches Weiterkommen. Aha, Behbe und Zehze begannen sofort, die tiefen Löcher und Nischen in den Wänden abzusuchen, aber ich konnte mir nicht vorstellen, was sie da zu finden hofften. Endlich kamen sie triumphierend mit einigen glibbrigen, transparenten Lappen zurück, die mich auf den ersten Blick an verdorbene Fisch-Eingeweide erinnerten. Sie rochen auch so.

„Da nehmt!“, Aha drückte Obstip, Germi, Linora und den Hutzen je ein solches Ding in die Hand. „Hey, Schweinchen Dick, nicht aufessen das Teil! Über den Kopf ziehen!“ Die Kameraden gehorchten. Zwar rümpften sie alle die Nasen, aber das Material schien niemanden am Atmen zu hindern, selbst Minus nicht, der in seinem Helmsitz komplett von der Wabbelmasse eingehüllt war. Zehze drehte inzwischen an einem schweren Metallrad und knirschend schwang das Tor nach vorne auf. Eine riesige, gähnend leere Kammer mit einer zweiten, gleichartigen Luke an der Rückwand wurde sichtbar. Behbe scheuchte uns hinein.

„Ihr habt gut fünf Minuten, bevor euch der Sauerstoff das Hirn wegpustet“, informierte er die Kameraden. „Das sollte eigentlich reichen, um wieder trockenen Boden unter die Füße zu kriegen. Ich hoffe, eure Ausrüstung ist wasserdicht. Und, ach ja, was ich zum Schluss noch sagen wollte: Die Brühe hier ist ziemlich heiß. Zehze, lass knacken, Junge! Ade, ihr Erdwürmer, macht’s gut …!“

Dann knallte das Schleusentor hinter uns zu, das Wasser rauschte herein und verschluckte die sicherlich bewegenden Abschiedsworte.

Im ersten Entsetzen griffen meine Freunde sich instinktiv an den Hals, merkten dann aber zu ihrer Überraschung, dass sie mit den schleimigen Masken auch unter Wasser Luft bekamen. Gleich darauf ergriff uns alle die Strömung und riss uns mit sich.

Aus dem „Lexikon der erklärungsbedürftigen Wunder, Daseinsformen und Phänomene Zamoniens und Umgebung“ von Prof. Dr. Abdul Nachtigaller
Saurer Tauchlappen, der: Der Saure Tauchlappen gehört, genau wie die besser bekannte Leuchtqualle, zu einer Gruppe von Nesseltieren, die sich auf ein Leben außerhalb des Wassers, dabei bevorzugt in feuchten Umgebungen, spezialisiert hat. Sein Name rührt von der Tatsache, dass er Stickstoff bzw. dessen Verbindungen als Nahrung aufnimmt und dafür Sauerstoff ausscheidet. Damit hilft er, in tiefen Höhlen, wo nur wenige Pflanzen gedeihen, die Luft atembar zu erhalten.
Es soll schon vorgekommen sein, dass Lebewesen, die kurz vorm Ertrinken standen, einen Sauren Tauchlappen ergriffen und vor den Mund gehalten haben, um sich auf diese Weise zu retten. Da das Einatmen von reinem Sauerstoff jedoch zu Halluzinationen und Orientierungslosigkeit führen kann, ist diese Methode nur im äußersten Notfall zu empfehlen.

Bei lebendigem Leibe gesotten zu werden, ist mit Sicherheit kein schönes Gefühl, das kann ich jetzt aus eigener Erfahrung sagen. Als Tratschwelle atme ich zwar im Wasser genauso gut wie an der Luft, aber die Temperatur macht mir genauso zu schaffen wie den meisten erdgebundenen Lebewesen. Leider hilft Schreien da überhaupt nichts. Man wird zwar heiser, aber nicht kühler. Haha, toller Kalauer, was? Wenigstens habe ich in dieser hitzigen Situation meinen Humor nicht verloren. Hoho. Höhö. Öhm …

Gerade trieb die gute Zwarn mit seeligem Grinsen an mir vorbei. Sie kuschelte sich an ihren Kampfdudelsack wie an ein Daunenkissen und winkte mir neckisch zu. Obstip bemühte sich, wie ich erkennen konnte, so gut es ging die Luft anzuhalten und möglichst wenig von dem zwar lebenserhaltenden, aber auch tückischen Sauerstoff einzuatmen.

Ein Strudel packte uns und zog uns in die Tiefe. Minutenlang wurden wir umhergewirbelt wie in einem Waschkessel. Dann schleuderte uns die Strömung davon, katapultierte uns an einer Klippe in die Höhe und schon flogen wir in hohem Bogen auf einen sandigen Uferstreifen, irgendwo in nachtdunkelster Verlorenheit.

Germinator riss sich mit hörbarem Schmatzen die Qualle vom Gesicht und stopfte sie sich sogleich in den Schlund, denn er hatte ja innerhalb der letzten vier Minuten nichts zu essen bekommen. Auch die Anderen befreiten sich von ihren fischigen Atemhilfen, bis auf Zwarn, die den Sauerstoffspender nicht freiwillig loslassen wollte und erst mit einem kräftigen Ruck davon befreit werden musste. Trotzdem hörten wir sie noch minutenlang sinnfrei vor sich hinkischern.

Dann endlich, als wir alle wieder im Besitz unserer sieben Sinne waren, bat der Nattifftoffe die stets hilfsbereite Linora, eine Quallenlampe aus seinem Rucksack zu angeln, da sie im Dunkeln wesentlich besser sehen könne als er. Es dauerte tatsächlich nicht lange, und wir hatten wieder etwas Licht.

Der feuchte Sandstrand gehörte zu einer niedrigen, aber weitläufigen Kaverne. Weiter hinten wurde der Boden etwas trockener und weicher. Nur Lufttemperatur und –feuchtigkeit waren immer noch unangenehm hoch.

„Was liegt denn da für ein uncooler Dreck rum?“, hörte ich jetzt phellpe jammern, dann flog ein kleiner Totenschädel an meiner Nase vorbei und zerschellte an einem Felsen. Ihm folgten ein paar einzelne Rückenwirbel und ein schon ziemlich mürber Beckenknochen, bevor unsere Junghutze merkte, WAS sie da durch die Gegend feuerte. Da kreischte sie auf und wischte sich mit vor Ekel verzerrtem Gesicht die Hände an Obstips Jacke ab.

„Bitte keine allzu hastigen Bewegungen, meine Beste“, meinte nun der Nattifftoffe mit erzwungener Ruhe. „Ich bemerke gerade, dass wir nicht alleine hier sind.“

„Was meinst Du, Glǿd Glǿdsǿn, sehen sie wie Stǿllentrǿlle aus?“, hörte ich jetzt eine dunkle Stimme sagen. „Ǿder dǿch eher wie Dämǿnen?“

Zwei Bergzwergen-Jünglinge traten aus den Schatten hervor. Der eine hielt eine massive Trompaune schützend vor sich, der andere eine gefährlich kulturell anmutende Almtute.

„Schau mal, Ǿlaf Ǿlafsǿn, die da vǿrn besitzt einen Dudelsack. Das ist dǿch ein Anzeichen dafür, dass sie zivilisiert sein kǿnnte“, mutmaßte nun der andere Zwerg.

Zwarn sprang auf die Füße. „Die zivilisierte Hutze bläst euch abgebrochenen Chauvinisten gleich den Marsch!“ kraischte sie und schwang ihr Instrument drohend über dem Kopf. Glǿd und Ǿlaf wichen erschrocken drei Schritte zurück. Sehr mutig waren sie offensichtlich nicht.

Aus dem „Lexikon der erklärungsbedürftigen Wunder, Daseinsformen und Phänomene Zamoniens und Umgebung“ von Prof. Dr. Abdul Nachtigaller
Bergzwerge, die: Bei den in überall in Zamonien beheimateten Bergzwergen handelt es sich um eine kleinwüchsige Spezies, die angeblich entfernt mit den Venedigermännlein und den Erdmännchen verwandt sein soll. Bergzwerge entsprechen jedoch nicht dem in der klassischen Abenteuer- und Entdeckungsliteratur verbreiteten, bärtig-kämpferischen Zwergenbild, sondern sind musik- und kulturliebend, von eher schlanker Gestalt und von fröhlichem Gemüt. Bekannt sind auch ihre Bodenständigkeit, ihre Heimatliebe und ihr Hang zum Jodeln, wann immer sie Felsen oder Berggipfel erklimmen.
Viele Bergzwerge sind auch in der Hotellerie und Gastronomie tätig. So schwören erfahrene Touristen auf den Komfort und die herzliche Bewirtung des „Zwerghotels am Hutzenstein“, welches seit acht Generationen von der Berzwergenfamilie Jǿhnsǿn geführt wird. Auch hat diese Spezies viele namhafte Entdecker, Forscher und Erfinder hervorgebracht, was beweist, dass sie trotz allem ihre zwergischen Wurzeln bewahrt hat.
Ein zamonischer Klassiker ist das von Wǿlt Disnyssǿn komponierte ‚klassische’ Zwergenlied „Hei ho, hei ho, wir sind vergnügt und froh.“

„Kǿnnt ihr bitte von hier verschwinden?“, baten uns die beiden Jungzwerge nun, wesentlich höflicher. „Dieser Ǿrt ist ein Friedhǿf.“
„Jǿ. Kǿmmt am besten gleich mal mit uns mit. Ich glaube, das Kǿmbinat würde sich sehr gern mit euch unterhalten.“

Hiervon hatten wir wohl wenig zu befürchten. Die Hutzen schüttelten ihre triefnassen Haare trocken, Obstip öffnete seinen (wunderbarerweise tatsächlich völlig dicht gebliebenen) Rucksack und legte zumindest ein frisches Hemd an.

„Wer zum Geier sind Sie denn?“ fragte ich die adipöse Gestalt, die nun neben mich trat und wie selbstverständlich den großen Ausrüstungspacken schulterte. Dann schlug ich mir entsetzt die Hand vor den Mund. Ich hatte Germinator nicht wieder erkannt. Der Spülgang im heißen Wasserbad hatte bewirkt, dass seine Dreckkruste komplett abgetragen worden war – ein porentief reiner Schweinsbarbar stand nun vor mir, welch höchst seltener Anblick. Glücklicherweise hatte er es wohl selbst noch nicht gemerkt und ich bereitete mich innerlich schon auf sein Wehgeschrei vor, wenn dies passieren würde. Oder er war doch noch wesentlich härter, als ich annahm und ließ es sich nicht anmerken.

Die Bergzwerge wandten sich nun zum Gehen, wir schlossen uns an. Was hätten wir auch sonst tun sollen? Ǿlaf kommandierte: „Ein Lied, zwǿ, drei, vier!“ und marschierte munter hinein ins Bergdunkel, gefolgt von seinem Freund, der in den Gesang einstimmte:

„Das Gǿld und die Zwerge, die Zwerge und das Gǿld,
Das Gǿld und die Zwerge, die Zwerge und das Gǿld.
Das war die erste Strǿphe, die zweite fǿlgt sǿgleich,
Das war die erste Strǿphe, die zweite fǿlgt sǿgleich.

Das Gǿld und die Zwerge, die Zwerge und das Gǿld,
Das Gǿld und die Zwerge, die Zwerge und das Gǿld.
Das war die zweite Strǿphe, die dritte fǿlgt sǿgleich,
Das war die zweite Strǿphe, die dritte fǿlgt sǿgleich.

Das Gǿld und die Zwerge, die Zwerge und das Gǿld …“

In dieser Art ging es noch eine ganze Zeit lang weiter. ‚Nun ja’, sagte ich mir, ‚solange sie nicht zu jodeln beginnen …’

Die Feuchtigkeit wich, die Hitze blieb. Mühsam schwappte ich mich vorwärts, denn in dieser Situation hatten meine Gelatinetabletten keine Chance. Langsam mehrten sich wieder die bunten Quallenlampen überall an Wänden und Decke. Endlich schälte sich vor uns ein großes bronzefarbenes Objekt, das auf einem massiven Steinsockel ruhte, aus dem Zwielicht. Glǿd schaute missbilligend über die Schulter. „Würdet ihr, bitte, nicht so gebückt dahinschleichen“, raunzte er uns an. „Etwas mehr Respekt vǿr der Wiege der Väter wäre angebracht.“ Damit warf er sich in Positur und stolzierte mit strammem Stechschritt an dem seltsamen Artefakt vorbei. Es war das Unterwasserschiff.

Ich wollte kurz anhalten, um es näher zu betrachten, aber das schien unseren Begleitern nicht zu passen. „Finger weg!“, warnten sie und zogen uns mit sanfter Gewalt weiter. Obstip und Minus zwinkerten mir verschwörerisch zu. Es würde bestimmt noch andere Gelegenheiten geben, sich das Ding genauer anzuschauen.

Wenige Schritt später erreichten wir die Zwergensiedlung.

Sie bestand hauptsächlich aus einem quadratischen Platz, um den sich ein halbes Dutzend pueblo-artiger Häuschen gruppierte. Ein paar Bergzwergenkinder spielten vor den Eingängen und glotzten uns scheu, aber neugierig nach. Offensichtlich hatten sie so etwas wie eine Expeditionsgruppe noch nie zu Gesicht bekommen. Ein kurzes Almtutensignal unserer Begleiter rief inzwischen etliche diskutierend herumstehende Individuen herbei. Wenige Sekunden später waren wir von ungläubig starrenden Bergzwergen umringt.

„Willkǿmmen in ‚Colonialibretto’, der Letzten Fackel der Zivilisatiǿn in den Finsterbergen“, begrüßten uns drei junge Zwergenfrauen unisono. „Unser Dǿrf ist sǿ benannt zu Ehren der Venedigermännlein, die bei der Grǿßen Katastrǿphe ums Leben kamen, um uns allen hier durch ihren Tǿd eine neue Existenz in grenzenlǿsem Kulturǿptimismus zu ermǿglichen.“ Bei diesen Worten setzten sie uns aus Finsterbergalgen gewundene Kränze auf den Kopf.

Zwei weitere Bergzwerge traten nun vor. „Wir sind Jǿhn Jǿhnsǿn und Gǿrm Gǿrmsǿn, die ‚Ǿffiziellen Stimmbänder’ des Kǿmbinats. Wenn Ihr Fragen habt, dann fragt uns, denn nur wir sind befugt, Fremden verlässliche Auskunft zu geben. Wobei Ihr übrigens die allerersten Fremden seid, die wir je zu Gesicht bekǿmmen haben.“ Damit zogen sie amtlich beurkundete und gesiegelte Schriftstücke hervor, die sie uns stolz präsentierten.

Man führte uns zu einem Runden Tisch, der in der Mitte des Platzes aufgebaut war, und nötigte uns zum Hinsetzen. Dann erschienen neue Zwerge mit dampfenden Tellern und Schüsseln.

Algenpüree, Algentofu, Algengrütze, Algensushi. Algensalat mit jungen Algen. Algensuppe, garniert mit Algencroutons. Und als Höhepunkt: Finsterbergalge natür mit Algennudeln und frischgepresstem Algensaft. Was für Delikatessen!

„Hier fehlen eindeutig ein paar Gewürze“ knirschte Kulla, während sie mit sichtbarem Widerwillen das fade Zeugs in sich hineinschlabberte. „Vor allem Zimt!“

Wir pflichteten ihr im Stillen bei, brachten es jedoch nicht übers Herz, unsere so zuvorkommenden Gastgeber zu enttäuschen, indem wir ihre Speisen kritisierten. Am besten traf es noch Minus, denn er war so winzig, dass niemand bemerkte, dass er die Algenbröckchen auf den Tisch fallen ließ, anstatt sie in den Mund zu schieben. Glücklicherweise hatten wir aber den Schweinsbarbaren dabei. Der machte mit dem Inhalt der Töpfe und Terrinen in kürzester Zeit so gründlich ‚kurzen Prozess’, dass keiner von uns mehr als ein paar Höflichkeitsbissen zu sich nehmen musste.

Germinator rülpste und wischte sich mit dem Ärmel die Schnauze ab. „Nachtisch wär jetzt gar net übel“ gröhlte er taktlos.

Die Bergzwerge kicherten und stupsten einander mit den Ellbogen an. Es war nicht zu glauben. Keine halbe Minute später stand ein großer Trog vor unserer Fresswutz, gefüllt mit dem feinsten … Algencreme-Eis.

Während der Dicke mit beiden Händen zugriff, hatten Linora, Obstip und ich nun endlich Gelegenheit, die beiden ‚Offiziellen Stimmbänder’ in ein Gespräch zu verwickeln.

„Wie ich vermute, seid Ihr die Nachfahren derjenigen Bergzwerge, die die Finsterbergexpedition von Sigobertus Brünnenfeld begleitet haben“, plauderte Obstip leichthin.

Jǿhn und Gǿrm schauten einander verständnislos an. „Der redet in Mysterien“, sagte Jǿhn. „Ǿb er mit diesem … wie meinte er … Prünzelfeld das Maskǿttchen meint, den Wauwau, den die Vǿrfahren grǿßherzig mitschleppten und der ihnen bei der Grǿßen Katastrǿphe abhanden gekǿmmen ist?“

„Schǿn mǿglich“, mutmaßte Gǿrm. „Es handelt sich alsǿ wǿhl um Hundefänger.“ Ein Hoffnungsschimmer erschien auf seinem Gesicht. „Wenn Ihr Hunde fangen kǿnnt, kǿnnt Ihr dann wohl auch Feuerdämǿnen fangen?“

„Wozu braucht Ihr einen Feuerdämon?“ warf Linora ein. „Hier ist es doch warm genug.“ Die Bergzwerge seufzten und zeigten auf das Tauchschiff, dessen rötlicher Metallschimmer gerade noch am Rande der Finsternis zu erkennen war.

„Unsere Musik, unsere Lieder schreien nach neuem Publikum“, konstatierte Jǿhn mit fester Stimme. „Wenn die ‚Wiege der Väter’ wieder Dampf und Feuer speit, kann endlich die Grǿße Tǿurnee beginnen. Die ‚Dǿnnerkeil’ muss aufs Neue fahren, auf dass sie das Licht der Kultur in ganz Zamonien verbreiten mǿge. Vǿn nichts anderem träumen wir hier unten.“

Aus dem „Lexikon der erklärungsbedürftigen Wunder, Daseinsformen und Phänomene Zamoniens und Umgebung“ von Prof. Dr. Abdul Nachtigaller
Donnerkeil, die: Die „Donnerkeil“ ist ein primitives tauchfähiges Schiff, das vor ca. 215 Jahren von dem Eydeet Dr. Hassan Ben Eisfogel entworfen und von dem Bergzwerg Glǿd Hammerschlag gebaut wurde. Das Fahrzeug war ca. 13 Meter lang und bestand hauptsächlich aus speziell versteiftem Bronzeblech, dabei war es geformt wie eine dicke Phogarre und bot Platz für maximal 10 Personen samt Wasser, Nahrung und Ausrüstung für eine Woche. Angetrieben wurde es von einer Dampfmaschine, deren Kessel von einem extra angeheuerten Bengalischen Feuerdämon beheizt wurde, welcher dafür täglich fünf Liter feinsten Steinöls als Bezahlung erhielt.
Die Praxistauglichkeit tauchfähiger Fahrzeuge ist immer noch umstritten, da machte die „Donnerkeil“ keine Ausnahme. Nach mehreren erfolgreichen Tests in der Irrlichterbucht befuhr sie unter dem Kommando des Venedigermännleins Cristocolombe „Commandante“ Ohnassis bei einer Expedition den Fluss Finsterwasser und kehrte aus den Tiefen des Berges nicht mehr zurück. Ihren unglücklichen Erbauer, der ebenfalls an Bord war, nahm sie dabei mit ins nasse Grab.

Ich wechselte einen entsetzten Blick mit Obstip. Wir hatten auf unserem Weg ja schon viel gesehen, eingemottete Zwergpiraten, zamominbesessene Trollgötzen, amazonische Vetteln und gezeitenabhängige Tratschwellen, aber fundamentalsozialistische vegetarische Bergzwerge auf einem Kulturkreuzzug – das war wirklich der Gipfel. ‚Dächte sich ein zamonischer Dichter einen solchen Schwachsinn aus, man steckte ihn sofort ins Narrenhaus’ dachte ich und schüttelte meinen Wellenkamm über so viel Unglaublichkeit. Langsam wuchs in mir die Befürchtung, dass, selbst wenn wir es zurück in die Nachtschule schaffen sollten, uns niemand unsere Geschichte abnehmen würde. Nun ja, dem großen Brünnenfeld hatte ja auch niemand geglaubt …

Gǿrm kam jetzt auf Obstips Frage zurück. „Wie das Lǿgbuch des ‚Commandante’ Ohnassis bezeugt, waren bei der schicksalhaften letzten Fahrt drei Venedigermännlein, fünf Bergzwerge (darunter Hammerschlag und zwei Geǿlǿginnen), drei Tratschwellen (Taucher), ein Bengalischer Feuerdämǿn (zuständig für den Antrieb) und ein Maskǿttchen an Bǿrd, nämlich ein, äh, Hundling, den der Kapitän in der Nacht vor der Abfahrt irgendwǿ aufgegabelt hatte und den er wegen seiner hervǿrragenden Nase für nützlich erachtete. Dass dieses Mǿnster irgendwǿ Gassi gehen musste, daran hatte er natürlich nicht gedacht …“

Wir konnten uns nur mit Mühe das Lachen verkneifen. Die ‚Stimmbänder’ merkten zum Glück nichts davon und Jǿhn erzählte weiter:

„Zu Beginn lief alles glatt. Die ‚Dǿnnerkeil’ ist ja auch ein wunderbares Gefährt, schließlich wurde sie von einem Bergzwergen gebaut. Aber keiner kǿnnte ahnen, dass die Hitze und die Säuren im Wasser schlussendlich die Nieten der Hülle sǿlcherart stark kǿrrǿdieren würden, vor allem dǿrt, wǿ der Antrieb rüttelte und stampfte. Und dann, am zweiten Tag, geschah die Katastrǿphe: Das Tauchschiff schlug leck. Als erstes erwischte es Firuz Jassir, den Feuerdämǿn. Es gab eine gewaltige Dampf-Explǿsiǿn und der Kessel war im Eimer. Auch Pizza Quadrostagioni, der gerade dabei war, das Nǿtventil zu ǿffnen, starb sǿfǿrt: verbrüht von einem Backdraft aus überhitztem Wasser. Der Kapitän versuchte, zu retten was zu retten war, aber er verlǿr die Kǿntrǿlle über das Ruder und von nun an waren die Passagiere und das Schiff der reißenden Strǿmung hilflǿs ausgeliefert. Die wenigen nun fǿlgenden Minuten reichten schǿn: Der Bug der ‚Dǿnnerkeil’ stieß mit vǿller Wucht gegen einen der Felsen am jetzigen ‚Friedhǿf’ und riss auf, dabei gingen etliche Besatzungsmitglieder über Bǿrd, andere wurden schwer verletzt. Dann, Glück im Unglück, schleuderte eine Grundwelle das zerfetzte Wrack des Schiffes ans Ufer. Die beiden verbleibenden Venedigermännlein, nämlich der ‚Commandante’ und Pasta Aldente, erlagen aber dennǿch am gleichen Tag ihren Wunden. Glǿd Hammerschlag war der Brustkǿrb eingedrückt wǿrden, man kǿnnte ihn nǿch etwa eine Wǿche lang am Leben halten, dann war auch für ihn das Ende gekǿmmen. Vǿn den Tratschwellen und dem Wauwau hǿrte man nichts mehr. Nur die vier überlebenden Bergzwerge hielten durch und fingen hier unten neu an. Sie gründeten Colonialibretto, damals, vǿr vielen, vielen Jahren. Sie sind unsere Ur-Ur-Urgrǿßmütter und –väter, die wir bis heute verehren, sie und die ‚Dǿnnerkeil’, die ‚Wiege der Ahnen’.

In diesem Moment drang aus der Tiefe der Höhle eine getragene Trauermelodie, die aber auch etwas Martialisches hatte und das soeben Erzählte gekonnt untermalte. Die Damen begannen zu schniefen und auch wir Männer waren sichtlich gerührt. Dann setzte eine Solostimme mit einem tiefen, getragenen Bass ein:

„Der wahre Held, der geht allein, hurra, hurra,
Denn Helden müssen einsam sein, hurra, hurra.
Der wahre Held, der geht allein,
Denn Helden müssen einsam sein.
Heldenhaft ist er …
Und geht dabei den Heldengang.“

Jetzt übernahm ein ausdrucksstarker Alt die Führung:

„Die Helden gehn zu zweit, zu zweit, hurra, hurra,
Und jeder weiß: Es ist sǿweit, hurra, hurra.
Die Helden gehen zu zweit, zu zweit,
Und jeder weiß: Es ist sǿweit.
Heldenhaft sind sie …
Am Ende steht der Heldengang.“

Eine dritte Stimme setzte ein, offensichtlich ein gut ausgebildeter Tenor:

Die Helden gehn zu dritt, zu dritt, hurra, hurra,
Ǿh warum nehmt ihr mich nicht mit, hurra, hurra.
Die Helden gehn zu dritt, zu dritt,
Ǿh warum nehmt ihr mich nicht mit.
Heldenhaft sind sie …
Jetzt geh auch ich den Heldengang.

Und als Crescendo schwebte jetzt ein jubelnder Sopran engelsgleich hinzu:

„Die Helden gehn jetzt alle vier, hurra, hurra,
Zur Kneipe und zum Clausner-Bier, hurra, hurra
Die Helden gehen jetzt alle vier
Zur Kneipe und zum Clausner-Bier.
Das ham’ sie sich verdient …
Denn Clausner würzt den Heldengang!“

Wir schlugen die Hände vors Gesicht, damit niemand sah, dass nicht Schluchzen, sondern wieherndes Gelächter uns schüttelte. Da mochten die Bergzwerge musikalisch noch so gut drauf sein – über einen intelligenten Texter verfügten sie offensichtlich nicht.

Gǿrm und Jǿhn waren aufgesprungen und hatten während des Liedes martialisch die rechte Faust nach oben gereckt. Nachdem die letzten Takte verhallt waren, wendeten sie sich uns erneut zu, um Eaglechen und Zwarn, die sich japsend auf dem Boden krümmten, die Hände auf die Schultern zu legen. „Wir hätten nie gedacht, dass unsere Heldengesänge einen sǿlchen Eindruck auf Außenstehende machen“, murmelten sie, ehrlich erstaunt. „Dies ist ein weiterer Beweis für uns, dass die Welt die ‚Grǿße Tǿurnee’ braucht.“

Gǿrm fasste zum Abschluss noch die Ereignisse der letzten hundert Jahre zusammen. Die kleine Bergzwergen-Gemeinde hatte sich gut entwickelt. Wohnungen waren gebaut und Stollen gegraben worden, um Erze zu fördern und zu bearbeiten. Man war sogar auf einen nutzbaren Lavastrom gestoßen, wo genügend Glut zur Verhüttung und zum Schmieden zur Verfügung stand. Und da die Originalpläne der ‚Donnerkeil’ noch vorlagen, war man aus Langeweile daran gegangen, das Wrack zu bergen und wieder instand zu setzen. Sogar ein paar Verbesserungen und Extras wurden von den Erfindern entwickelt und eingebaut.

Nur ein Problem hatten die fleißigen Ingenieure nicht lösen können: die Befeuerung des Dampfkessels. Zwar waren in den tiefsten Schloten, wo sich Magma und heiße Schlacken eine wütende Schlacht lieferten, vereinzelt bengalische Feuerdämonen gesichtet worden, aber nie war es gelungen, mit ihnen Kontakt aufzunehmen, geschweige denn, überhaupt in ihre Nähe zu gelangen. Andere Brennstoffe wie Kohle oder Öl standen hier unten nicht zur Verfügung, und so war die ‚Donnerkeil’ ein zwar funktionsfähiges, aber nutzloses Relikt geblieben. Vorschläge jedoch, was man tun würde, wäre das Problem der Energieversorgung gelöst, gab es zu Hunderten, unter anderem auch die bereits erwähnte ‚Große Tournee’, deren Idee viele Anhänger gerade unter den jüngeren und sendungsbewussteren Musikerzwergen hatte. Eine andere Gruppe, Maschinistenkolchose genannt, führte sogar regelmäßige Trockenübungen durch und trainierte das Steuern und Navigieren, wenn auch nur in der Simulation. Unter diesen Umständen kam ich mehr und mehr zu der Überzeugung, dass eine erneute Fahrt des Unterwasserschiffs von Erfolg gekrönt sein könnte – so man denn wusste, wo es hingehen sollte.

Die Bergzwerge geleiteten uns anschließend ins Gästehaus, denn man wollte uns nicht weiterziehen lassen, bevor wir dem Dorf nicht wenigstens einen ‚kleinen Dienst’ erwiesen hatten. Es ging natürlich, darüber waren wir uns alle einig, um den Fang eines Feuerdämonen – oder wenigstens den Versuch desselben. Während wir ungeduldig auf die Ankunft des ‚Großen Vorsitzenden’ warteten, der hier als eine Art Bürgermeister fungierte, nutzten wir die Gelegenheit, unsere Ausrüstung zu sichten und, wo nötig, zu trocknen, zu flicken oder zu reparieren. Die drei flinkfingrigen Zwergenmädchen, die uns schon zu Beginn begrüßt hatten, gingen uns dabei giggelnd zur Hand. Vor allem Germinator hatten sie ins Herz geschlossen. Jeden unbekannten Gegenstand aus seinem Gepäck nahmen sie in Augenschein und fragten dem Schweinsbarbaren dazu Löcher in den breiten Bauch, die er, geschmeichelt über so viel Aufmerksamkeit, so gut es ging beantwortete. Nur Herr von Kolon lehnte jegliche Hilfe ab und bestand darauf, seinen Besitz selbst zu pflegen, auch wenn er ein paar Mal ansetzen musste, um den Faden ins Öhr der feinen Stopfnadel zu bugsieren und dafür einige hämische Seitenhiebe Amandas über die Diskrepanz zwischen Toffengehör und toffischer Feinmotorik einstecken musste. „Jaja, machen Sie sich nur über einen Nattifftoffen in seinen besten Jahren lustig“, dozierte er, leicht beleidigt. „Sie werden schon sehen, was Sie davon haben.“

Ein durchdringender Trompaunenstoß kündigte in diesem Augenblick die Ankunft des Obersten Genossen samt Mitgliedern der Höheren Leitungsebene an. Erschrocken sprangen alle von den Sitzen, wobei sich Obstip seine Nadel, mit der er gerade herumhantierte, quer durch den Daumen jagte, den Schmerz aber mannhaft ertrug. Wir erwarteten nun einen würdigen Senior, sahen uns jedoch zu unserer Überraschung mit einem flinken, geschniegelten Lackaffen konfrontiert, der jedem von uns auf Anhieb unsympathisch war.

„Bitte entschuldigen Sie die Verspätung, ich musste erst nǿch eine kleine Säuberung im Rat der Vǿlksgenǿssen vǿrnehmen“ schnurrte er mit dem Blick der Kratze, die die Maus schon in die Ecke getrieben hat. „Sǿsǿ, Sie sind alsǿ die wagemutigen Dämǿnenfänger, die all unsere Prǿbleme mit einem Schlag lǿsen werden.“

Wie bitte? Oha, Panik. Panik!

„Darf ich mich vǿrstellen, ich bin Gǿtz Gerissǿn, primus inter pares und vǿn allen verehrter Gemeindevǿrsteher dieses wunderbaren, aufstrebenden Dǿrfchens. Wie unhǿflich vǿn mir, dass ich Sie vǿrhin nicht sǿfǿrt begrüßte, aber dringende Amtsgeschäfte zum Wǿhle der Bevǿlkerung hielten mich davǿn ab, wie Sie sicher verstehen werden. Seien Sie herzlichst willkǿmmen in unserer Mitte.“

Während er jedem von uns die feuchte Patschehand hinstreckte, warf ich einen Blick auf den Boden hinter ihm, denn ich hegte den Verdacht, dass er beim Gehen eine Schleimspur hinterlassen müsste. Ohne unsere Antwort abzuwarten, lümmelte Gerissǿn sich nun in einen Sessel und redete ungeniert weiter, wobei er sich mit einem winzigen Schraubendreher die Fingernägel reinigte.

„Tja, wie ich schǿn immer sagte, Dämǿnenfängerei kann ja gar nicht sǿ schwer sein. Haben wir erst einen Feuerdämǿn in unserer Gewalt, bringen wir diese verstaubte Tauchbüchse erneut in Schwung und schicken unsere unzufriedenen, ach sǿ schwärmerischen Mitbürger zur Hǿ … äh … auf Grǿße Tǿurnee. Und dann kehren hier endlich wieder Ruhe und Harmǿnie ein. Alles klar?“

Der Vorsitzende sprang flink wie eine Ratte wieder auf die Füße und winkte uns leutselig zu. „Na, dann ist ja alles in schǿnster Ǿrdnung, ihr Lieben“, grinste er, ohne uns überhaupt eine Möglichkeit zur Widerrede gegeben zu haben. „Wenn ihr nǿch irgendwelche wie auch immer gearteten Wünsche habt – meine Ǿrdǿnnanz hier wird sich um alles kümmern. Ich erwarte euch in zwei Stunden drüben am Runden Tisch. Halali, wie man unter Waidmännern sǿ treffend sagt. Ich bin dann mal wieder weg. Dringende Verpflichtungen, ihr wisst schǿn …“

Er zwinkerte uns schelmisch zu und eilte hinaus. Zurück blieb ein recht bejammernswert aussehender Bergzwerg, der nun hilflos von Einem zum Anderen glotzte. „B-b-brauchen die H-H-Herrschaften nǿch e-e-etwas?“ stammelte er, verlegen unter sich blickend, hervor.

Obstip war kurz vorm Explodieren. Ich glaube, er ist in seinem ganzen langen Nattifftoffenleben noch niemals so abfällig behandelt worden wie von diesem Gernegroß-Bürgermeisterlein. „Ja, meinen Degenstock und fünf Minuten Zeit allein in einem Zimmer mit Ihrem Chef!“ machte er sich Luft. Dann aber atmete er tief durch und meinte: „Nein, das war natürlich nur ein Späßlein. Am besten, Sie gehen jetzt mal für eine halbe Stunde raus an die frische, gesunde Höhlenluft und lassen mich und meine Freunde den … äh … Schlachtplan entwerfen.“ Damit schob er den verdutzten Zwerg hinaus und knallte die Tür hinter ihm zu.

Wir schauten einander fassungslos an. Zwei Stunden Vorbereitung, um einen Feuerdämon zu fangen, das erschien uns ein Ding der Unmöglichkeit. Grübelnd zermarterten wir uns die Hirne. Schließlich schaute Germinator auf.

„Isch mach’s.“
„Wie bitte?“
„Gebt mer e Rüstung und en Köder un isch mach’s!“
Wir glaubten, nicht recht zu hören.

„Germi-Schatzi, spinnst du?“ piepste phellpe. „Die Hitze macht dich ratzi-fatzi kalt! Du kannst nicht einfach einen plöden Feuerdämon umschmeißen, sieh das mal realistisch!“
„Doch“, mischte sich da auf einmal Kulla ein. „Der Schweinsbarbar hat Recht. Wenn er einen Schutzpanzer aus Algeskleber und Sand trägt, kann er es schaffen.“
„Algeskleber? Kulla, wo willst du hier auf die Schnelle so viel Algeskleber hernehmen?“
Kulla setzte einen entschlossenen Blick auf. „Den mach’ ich selbst!“ zischte sie. „Zutaten her, jetzt wird gekocht!“

Aus dem „Lexikon der erklärungsbedürftigen Wunder, Daseinsformen und Phänomene Zamoniens und Umgebung“ von Prof. Dr. Abdul Nachtigaller
Algeskleber, der: Die meisten der in und um Zamonien vorkommenden Algenarten sind vielseitig verwendbar. Nicht nur als gesundes, vitaminreiches Gemüse taugen sie, nein, man kann aus ihnen auch den wegen seiner Zähigkeit berüchtigten Algeskleber herstellen.
Dieser Klebstoff taugt in kaltem Zustand recht gut als Papier-, Holz- oder Tapetenkleister. Seine wahre Stärke spielt er jedoch erst aus, wenn er aufgeheizt wird. Dann nämlich verbackt er mit den ihn umgebenden Materialien in kürzester Zeit zu einer betonartigen Konsistenz, die in höchstem Maße kälte-, hitze- und säureresistent ist. Problematisch wird es nur, wenn in diesem Moment noch Spachteln, Pinsel oder Hände Kontakt zur klebrigen Oberfläche haben. Bei der Arbeit mit heißem Algeskleber ist daher die Nachbarschaft eines Arztes, sowie ein erklecklicher Vorrat von Pflastern, Mullbinden, Blutplasma etc. anzuraten.
Algeskleber wird aus diesen Gründen in Zamonien nur gegen einen nattifftoffisch beglaubigten Altersnachweis und auf eigene Verantwortung verkauft.

Nun begann eine hektische Tätigkeit. Ehe er sich’s versah, wurde der arme Lakai des Bürgermeisters, der recht verloren, aber seiner Meinung nach immerhin bequem vor der Tür des Gästehauses Maulaffen feilhielt, am Kragen gepackt und wieder hereingezerrt. Dann bekam er eine umfangreiche Materialliste in die Hand gedrückt mit der Aufforderung, alles zu besorgen und schnellstmöglich damit zurückzukommen. Linora schleppte den guten Mann, der überhaupt nicht wusste, wie ihm geschah, am Ärmel fort und sorgte dafür, dass er sich auch wirklich beeilte.

Phellpe packte inzwischen das Feldlazarett aus und bewaffnete sich mit einem Korb voller Mullbinden. Darin wurde der arme Schweinsbarbar nun von Kopf bis Fuß eingewickelt wie eine Mumie. Zuerst protestierte er noch schwach und meinte, es sei doch praktischer, sich die Schlammrüstung gleich permanent auf die Haut kleben zu lassen, dann habe er doch wenigstens auch auf längere Sicht etwas davon, aber als Amanda bissig drohte, ihm in diesem Falle den Mund so dick zuzukleistern, dass er in Zukunft nur noch Wassersuppe durch einen Strohhalm saugen könne, wurde er überraschend einsilbig und ließ alles widerstandslos über sich ergehen.

Die erste ‚Warenlieferung’ kam an. Sechs kräftige Zwerge trugen kisten- und eimerweise Sachen herbei, stellten sie ab und verschwanden so rasch, wie sie gekommen waren. Kulla, die unseren größten Kochtopf auf die tragbare Feuerstelle gewuchtet hatte, begutachtete den vor sich hin faulenden Algenmatsch in den Transportkübeln und nickte zufrieden. Mit dem Paddel verfrachtete sie die stinkenden Brocken in den Kessel, während wir Übrigen würgend und nach Luft schnappend ins Freie stürzten. ‚Wenn der gute IndianaSepp jetzt noch dabei wäre, der würde sich wie zu Hause fühlen’, dachte ich noch sarkastisch.

Weitere Träger karrten nun große Mengen von feinem Sand heran. Nur zwei schafften es, mit ihrer Ladung die inzwischen brodelnde Algenbrühe zu erreichen, ohne vorher bewusstlos zu werden. Kulla ackerte wie eine Wahnsinnige, wobei ihr Amanda (die sich vorsichtshalber eine Nasenklemme aufgesetzt hatte) assistierte und der Hutzenschwester aus unserer Kochkiste die noch fehlenden Materialien zuwarf.

„Zucker!“
„Hier!“
„Quirl!“
„Jepp!“
„Brühwürfel!“
„Jau!“
„Phenolphthalein!“
„Bittesehr!“
„Schweizerkäse!“
„Geschnitten oder am Stück?“
„Lass die Sprüche, am Stück natürlich. Fix!“
„Da isser!“
„Sand! Mehr Sand! Noch mehr Sand! Ach, schütt einfach alles rein!“
„Okay, Boss!“
„Und jetzt rühren. RÜHREN sag ich, Amanda, RÜHREN! Du rührst ja, als ob du Vla in den Armen hättest. SCHNELLER, VERDAMMT! Schon besser. Und zum Schluss noch eine Prise Zimt …“
„Isses fertig jetzt?“
„AMANDA, HAB ICH GESAGT, DASS DU MIT DEM RÜHREN AUFHÖREN SOLLST? SO! JETZT UND ERST JETZT ISSES FERTIG! Danke für die Hilfe, Mädel. Wirst sicher mal ne gute Hausfrau.“

Zur Abwechslung brüllte Kulla nun UNS an:
„Macht hinne, ihr Trantüten. Ihr habt zehn Minuten, bevor sich das Zeugs setzt. Phellpe, pass auf mit deinen Haaren, sonst ist nachher eine Totalrasur fällig! Her mit dir, Germi, da muss ein Mann durch, auch wenn der Arsch brennt. Jaaa, rauf mit dem Zeugs. Das klebt, sag ich euch. 58, 59, 60, noch neun Minuten. Andray, komm hilf mir doch mal beim Zählen du Totes Meer, du. 74, 75, 76, zähl mal weiter. Bei 540 gibst du Alarm, damit wir noch Zeit haben, die Kleber-Reste runterzukratzen. Zwarn, nicht so lahmarschig, pennen kannst du später. Hat jemand Minus gesehen? Der steckt doch nicht etwa irgendwo in dem Papphaufen da? Ach nein, Entwarnung, ich sehe ihn. Hübsche Ornamente, Minus. Ein künstlerisch begabter Zwergpirat, man lernt doch immer noch dazu …“

Wir kneteten und spachtelten wie die Wilden. Germinators Arme, seine Beine und sein Wanst verschwanden unter Lagen zäher Algenbreimasse. Acht Minuten waren schon vergangen, aber wir konnten es schaffen.

Jetzt kam Obstip mit dem großen Küchenmesser. Geschickt schnitt er an den Gelenken tiefe Kerben ein, damit unser lebender Panzer sich später auch bewegen konnte. Gleich neun Minuten … 539 … 540 … ich gab das verabredete Signal. Während Germi stocksteif stehen blieb spülten wir uns hastig den letzten Matsch ab. Phellpe schaffte es gerade noch, mit einem Spatel ein großes Herz in Germinators Brustpanzer zu ritzen, dann wurde unser Werk auch schon fest. Es knirschte leise – und das Werkzeug steckte drin wie angeschweißt.

Obstip, der sich bei der Matscherei etwas zurückgehalten und stattdessen in einem Lehrbuch der Chemie geblättert hatte, verkündete nun eine weitere Idee:

„Zwar gibt es hier unten keine fossilen Brennstoffe“, meinte er, aber es wäre doch möglich, dass sich ein Feuerdämon mit reinem Schwefel anlocken ließe. Was meinen Sie dazu?“

Das klang plausibel. Jedenfalls konnte man es einmal ausprobieren.

Die Erde bebte leicht, als unser Schweinsbarbar nun herbeitrampelte. „Isch hab noch en Problem“, meinte er, „Mei Handfläsche sind noch net geschützt … und mit dene muss isch das Feuerviechs ja anfasse. Hat vielleischt jemmand hitzefeschde Handschuh dabei?“

Wie üblich. Kaum hatten wir ein Problem gelöst, tauchte das nächste auf.

Obstip dachte kurz nach und wühlte dann in seinem geräumigen Necessaire. Mit befriedigtem Grunzen zog er eine Tube hervor und vertiefte sich ins Etikett.

„Super-Kühl-Gel, extra stark“, las er vor. „Mit echtem Trockeneis. Zur Prophylaxe und Behandlung von Verbrennungen und Verbrühungen jeder Art. Der unverzichtbare Begleiter bei Expeditionen in die Süße Wüste und zum Maulwurfsvulkan. Tropengetestet. Wirkt immer und klebt nicht.“ Er steckte die Creme in seine Brusttasche. „Damit reibst du Dir vor Beginn der Jagd die Wurstfinger ein, dann passt das schon“, instruierte er unseren Kampfkoloss. Germinator strahlte.

„Ihr sahn all so gut zu mir“, sprudelte er, ehrlich gerührt, heraus. „Jetz bin isch rischdisch modiwiert, dem Biest de Krache rumzudrehe. Alla hopp, gehe mer los!“

Leider mussten wir unseren Gladiator noch ein wenig bremsen, denn erst sollte der gereinigte und zu Staub gemahlene Schwefel angeliefert werden. Glücklicherweise verfügten die beiden vorhandenen bergzwergischen Alkhemisten über entsprechende Vorräte. Sie ließen es sich auch nicht nehmen, die besonders gesicherte Kiste selbst vorbeizubringen. Schon von weitem identifizierten wir ihren Berufsstand am Brandgeruch und an den abgesengten Haaren.

„Da nehmt ihn hin“, meinte der erste großzügig, „er ist von bester Qualität. Eigentlich hatten wir ja vǿr, daraus Brennstǿffbriketts für die ‚Dǿnnerkeil’ zu fertigen, aber die ersten Experimente waren nicht sehr ermutigend. Wir lagen beide mit einer schweren Schwefelvergiftung für sechs Wǿchen flach. Da haben wir es dann lieber sein gelassen. Ääh … Knǿt, hast du eigentlich Experiment Nr. XXL von der Glut genommen?“

Eine krachende Explosion machte die Beantwortung dieser Frage überflüssig.

„Tja, wir gehen dann mal wieder“, meinte der zweite mit verlegenem Grinsen. „Ich glaube wir müssen da ein paar dringende Reparaturarbeiten durchführen.“ Er trat seinem Kumpel gegen das Schienbein und beide hasteten davon.

Kulla beschnüffelte inzwischen bereits die Schwefelkiste. „Igitt, und so was fressen Feuerdämonen?“ fragte sie abschätzig. „Es wird Zeit, dass denen mal jemand was von ‚Nouvelle Cuisine’ erzählt!“

Da die zwei Stunden gerade um waren und Bergzwerge offenbar verschärften Wert auf Pünktlichkeit legen, marschierte natürlich jetzt auch Gǿtz Gerissǿn, seine ausgepumpte Ordonnanz im Schlepptau, auf unsere Gruppe zu. Als er den Schweinsbarbaren in seiner Steinrüstung erblickte, war er sichtlich beeindruckt.

„Wir benutzen die Transpǿrtbahn, das ist angenehmer als zu laufen“, entschied er. „Der Recke muss ja ausgeruht sein vǿr dem Kampf. Strampelbrigade, auf die Plätze!“ Sofort stürzte ein Dutzend sportlich aussehender Zwerge mit strammen Waden zu einem länglichen Gebäude, aus dem eine Schienenspur herausführte. Kurz danach rollten drei mit Sitzen ausgestattete Wagen wie von Zauberhand aus einer Remise und das Gleis entlang bis zu einer Laderampe, wo wir nun alle zustiegen.

„Zwischen den Schienen verläuft ein Antriebskabel aus dreifach gehärtetem Zwergenstahl“, erklärte der Bürgermeister mit sichtlichem Stolz. „Die Muskelkraft unserer in die Pedale tretenden Idi … äääh …Patri … ǿten treibt dieses und alles, was darangehängt wird, vǿran. Sǿ dient die kǿrperliche Ertüchtigung der Einen hier zusätzlich auch dem Wǿhle aller Anderen, wie es in einer gut funktiǿnierenden Kǿmmune ja sein sǿll.“

„Und warum benutzt dann praktisch niemand diese sinnvolle und nützliche Einrichtung?“ wagte ich neugierig nachzufragen.

Gǿtz Gerissǿn schwieg einen Augenblick lang, peinlich berührt. „Nun, äh …“, meinte er dann, „ … das Erprǿbungsgremium, das heißt, ich selbst und die Ǿberste Leitungsebene, kǿnnte die Bahn bisher nicht für den allgemeinen Persǿnentranspǿrt freigeben. Wir haben einfach … äh … nicht genügend Zeit, um alles sǿ intensiv zu testen, wie es nǿtwendig ist. Unsere vielen anderen Aufgaben zum Wǿhle der Gemeinschaft binden uns die Hände … Sie verstehen das sicher. Jedenfalls kann sich das Verfahren nǿch Jahre hinziehen … ärgerlich, gewiss, … aber im vǿllen Interesse der Sicherheit unserer Bürger. Gerade Sie, Herr vǿn Kǿlǿn, als Nattifftǿffe müssten mir da ja beipflichten.“

Obstip murmelte etwas in seinen Bart, das wie „Jöyn“ klang. Gerissǿn hörte ihm aber schon gar nicht mehr zu, was zeigte, dass er ein Politiker von echtem Schrot und Korn war.

Langsam begann sich der Zug in Bewegung zu setzen, gewann an Geschwindigkeit und rollerte schließlich in stetigem Dauerlauftempo dahin. Dann eine Weiche, ein scharfer Knick nach rechts und wir fuhren in einen schmalen Tunnel in der Höhlenwand ein. Stickig-warme Luft schlug uns entgegen.

„An die Hitze hier werden Sie sich gewǿhnen müssen!“ versuchte der Große Vorsitzende nun das Rattern der Eisenräder zu übertönen. „Bei der ‚Schmiede’ dǿrt vǿrn ist sie schǿn fast nicht mehr zu ertragen. Übrigens: Wären wir eben nach links gefahren, wären wir zu den Eiskellern gekǿmmen. Dǿrt herrschen 15 Grad minus. Auch nicht gerade angenehm. Wie bitte? Ǿh nein, Herr Zwergpirat, ich habe dǿch nicht Sie gemeint. Haha. Nein, was ich gerade sagen wǿllte: Erzverhüttung ist lebensgefährlich, wir betreiben sie darum nur im allernǿtwendigsten Umfang. Und sehen Sie, dǿrt drüben am Lavabrunnen heizen wir immer unsere Kǿcheisen auf. Vǿr uns wird gerade eine frische Ladung gepackt.“

Der Schienenstrang teilte sich in zwei parallel verlaufende Strecken. Während unser Wagen nach rechts ausscherte, beluden auf dem linken Gleis ein paar nur notdürftig geschützte Bergzwerge einen Anhänger mit weißglühenden runden Metallplatten.

„Unsere Helden der Arbeit!“ verkündete Gerissǿn stolz. „Ǿhne ihre aufǿpferungsvǿlle Tätigkeit hätten wir Ǿbersten Diener des Vǿlkes mittags keine heiße Algenpastete auf dem Teller.“ Er hüstelte. „Wie gerne wäre ich einer vǿn ihnen“, schloss er dann, insgesamt wenig überzeugend.

Der Zug fuhr noch ein kurzes Stück, dann zog der Bürgermeister an einem Hebel und klinkte den Wagen aus dem Transportkabel, so dass dieser langsam ausrollte. Zielsicher stoppte er vor einem Prellbock, an dem eine Ausstiegsplattform angebaut war. Die Luft war hier so heiß wie in einem Backofen, so dass ich auf lange Sicht einen gefährlichen Wasserverlust befürchtete. Wir stiegen vorsichtig herunter, vor allem Germinator, unter dessen Gewicht das Gerüst quietschte und ächzte. Schließlich hoben Kulla und Amanda noch die Schwefelkiste vom Anhänger. Wir waren aktionsbereit.

Der Große Vorsitzende trat an eine Metalltür, die mit einem großen Schloss gesichert war und die Aufschrift: ‚Nicht weitergehen! Lebensgefahr!’ trug. Mit spitzen Fingern und einem mitgebrachten Schlüssel öffnete er die Verriegelung. „Waidmannsheil!“ keuchte er noch hastig, sprang dann zurück auf den Wagen und hantierte dort an einigen Stellrädern, worauf sich unser Transportmittel wieder in Bewegung setzte, diesmal rückwärts. „Ich kǿmme in drei Stunden wieder und sehe nach, was aus Ihnen gewǿrden ist!“ schrie er uns noch zum Abschied zu. Dann verschluckte ihn die Stollenschwärze.

Ich schüttelte mich. Trotz der Gluthitze lief mir ein eiskalter Schauer den Kamm hinunter. Der Schweinsbarbar hatte gerade Obstips Kühlcreme in Empfang genommen und rieb sich die Handflächen und die Unterseiten der Finger damit ein. „Schmeckt die aach so gut wie se wirkt?“, fragte er, worauf ihm der Nattifftoffe den Tubenrest entriss, bevor er eine Dummheit machen konnte. Und …a propos Dummheit … ich wage es jetzt tatsächlich. Möglicherweise ist es ein Fehler, aber ich übergebe an dieser Stelle die Berichterstattung an Germinator, denn der war bei den nun stattfindenden Ereignissen als einziger live dabei.

(Germi, du bist dran. GERMI! Lass die Pfote aus der Keksdose. G E R M I ! ! !)

Jo. Jetz geht’s lohos! Jetz geht’s lohos! Wuiwuiwui, ich da-haf aach mol, ich da-haf aach mol! Goiiiiiiiillll!

Also … des war eigentlisch gar net der Rede wert. Werklisch. Isch versteh gar net, warum ihr do so en Wirwel drum macht. Isch bin eninn, han dem Feierdeiwel äns uff de Deckel gehaache un fertisch wars.

Wie … zu korz? Was hääßt hier ‚ausführlischer’? Ja sin mer dann hier in Neuschiersnasehause? Kann en ehrlische Schweinsbarbar net emol en Dämon verkloppe, ohne dass gleisch jeder wisse will, was der zum Friehschdick gefresse hot? Alla gut, wanner määne …

Erscht emol han isch die Dür uffgezooche unn in de Gang dahinner gelinst. Da hat mer die Hitz schon enni verbasst wie met em dicke Hammer. Isch bin fascht blind worrn vor all dem Feier unn de Lawa unn all dem Zeuchs was do erumgeschpritzt iss wie die Brescher am Barbarische Meer.

Mit der Schwefelkischt unnerm Arm bin isch dann weidergelatscht, bis isch am Rand vun me riesische Lawatümbel geschdann bin unn do is de Weesch nimmer weidergang. Alles hat geflimmert unn geblendet vor Hitz. Isch han die Aache zusammegekniff unn iwerall hingeguckt, ob isch net so en Feierviech zu Gesicht krieh. Zuerscht war gar nix, awwer dann is do in de Entfernung was langgehuppst, so rot unn feierich un flackerich unn isch denk mir: das könnt vielleicht so en bengalarifarischer Feierkumbel sinn, wie mir en suche. Also wink isch unn kreisch unn mach aach mei Truh uff, dass der Duft vun dem Schwaafelzeichs oder wie das hääßt sich a schää ausbreide kann.

Des Vieh kimmt näher, schnubbert unn halt sich dann die Nas’ zu. Des latscht a net, sondern es fliecht iwwer die Flamme, weil’s gar kää Fieß hat. Besonnerscht groß isses aach net, geht mer nur bis zur Bruscht, das halwe Hemd. Unn e Gesicht hat’s, dass mer Frischling demit verschrecke kännt.

Aus dem „Lexikon der erklärungsbedürftigen Wunder, Daseinsformen und Phänomene Zamoniens und Umgebung“ von Prof. Dr. Abdul Nachtigaller
Bengalischer Feuerdämon, der: Bengalische Feuerdämonen sind etwa einen Meter groß, haben ein hässliches, oft fratzenhaft verzerrtes Gesicht, keine Beine und bestehen nur aus Feuer. Sie sind von hitzigem Temperament, leicht erregbar und leider ziemlich streitsüchtig, was sie sich jedoch auch leisten können, da sie die Fähigkeit besitzen, sehr gezielt Feuerbälle zu schleudern oder einen langen Feuerstrahl aus ihrem Mund zu spucken. Sie sind jedoch keineswegs dumm, nur gewinnt ihr Jähzorn oft die Oberhand über ihre Intelligenz. Ursprünglich stammen sie, wie der Name bereits vermuten lässt, aus Bengalen, haben sich aber durch ihre Fähigkeit zu schweben (das erleichtert Seereisen) weit verbreitet.
Da bengalische Feuerdämonen auch ansonsten alle Eigenschaften des Feuers besitzen, kann man sich am besten mit einem Eimer Wasser gegen sie wehren. Allerdings gilt dies nur für Jungdämonen; ältere und gerissenere Exemplare lassen sich nicht so leicht erwischen und vertragen wesentlich größere Wassermengen, bevor sie gelöscht sind. Mit geschwächten Feuerdämonen kann man gut verhandeln, in 'abgekühltem' Zustand werden sie ruhiger und sind für Argumente oder Geschenke (am besten in Form von brennbarem Material) zugänglich.

Drei Meder vor mir bleibt der Feierdeiwel schdehe, näher kimmt er net ran. Soso, denk isch, dann muss isch wohl annere Saite uffzieche, unn du mol met em Mittelfinger vun der rechtse Hand die Windrichtung prüfe. De Minus hat mir mol erzählt, dass dieser indernazionale Gruß üwerall verschtanne wird. Na ja, des kammer wohl sache. Des Dämoneviechs is nämlisch uff ämol fuxdeiwelswild worre, ich wääß aach net, warum. Wahrscheinlisch hat’s kään Indernazionalisch gekennt. Unn dann hot des unkuldiwierde Ding gekrische: „Mach endlich den Stinkekasten zu, du fette Sau, sonst gibt’s hier gleich Grillfete mit Spanferkel! Urrrgh … versucht der mich tatsächlich mit Schwefel zu ködern. Schwefel hier, Schwefel da, ich kann’s schon nicht mehr riechen, geschweige denn fressen. Man könnte Eierkohlen kotzen … wüarrrg!“

Na ja, denk isch, wann des Großmaul den Schwaafeldampf net riesche kann, dann muss isch den Mief halt irschendwie iwwerdecke. Han de Kischdedeckel widder zugeschmiss, misch rumgedreht unn ääner abgeloss. Du liewer Himmel, hat des gerummst. Mei Ballermann is sofort in Flamme uffgang, das hat en blaue Feierball gewwe, wo sich gewesche hott. Awwer - heilischi Scheise - des muss der Kerl widder falsch verschtanne hann, weil der hot sisch uffgeblose wie en Gockel, wie wanner jetzt zeische wollt, wer vun uns zwää die dickschde Eier leche kann, unn hot mer drei fette Feierkuchele verbasst met aller Kraft. Do hot der Kumber awwer kään Glick gehatt, weil die Dinger an meiner Rüschdung wirgungslos geplatzt sinn. Unn fer en noch e bissje mehr zu ärjere han ich em zugewunk: „Kumm her du Gebortsdachskerzje, dass isch disch ausblose kann. Kumm doch, wann de disch trauscht.“

Der Flammezwockel kummt a tatsäschlisch noch e Schdick näher, schdreckt sei langes Kinn vor unn käckert: „Hau mich doch, hau mich doch! Wirst schon sehn, was du davon hast!“ Ich denk er määnt, dass isch mer dann die Pote an em verbrenn, awwer isch bin jo net dodal bekloppt, e bissje was han ich aach gelernt in meim Läwe.

„Germinador“, denk isch mir, „Mach jetzt kään Scheis. Wann de dem Bubi rischdisch enni verbretzelscht, isser gleisch am Arsch, dann nitzt er uns nix mehr. Liewer e bissje sachte, des kimmt immer noch hart genuch.“ Dann mach isch en Antäuscher unn hau dem Kerlsche met de flache Hand links unn rechts e Ohrfeich runner, dass es nore so batscht.

Der Feierfuzzi schlacht en Saldo rickwärts unn dann bassiert was dodal komisches – sei Gumschel wird erscht hellbloo, dann lila, dann widder rot. Gleischzeidisch kreischt er: „Ayayayayay … Uiuiuiuiui … Ay Carrrrrramba … Olè!!!“ Dann kimmt er völlisch ferdisch angekrawwelt unn jappst: „Geiles Stöffchen, mein Freund. Woher kriegt man so was?“

Isch guck uff mei Pranke unn denk mir: ‚Hä? Was is dann jetzt los?’ Dann kimmt’s mer: Der Kerl fahrt dodal uff em Obstip sein Kühl-Gel ab, des gebt dem de Kick! Wie krank! Na ja, wem’s Schbass macht ...

„Horsch emol zu, mei Freind“, sach ich jetzt. „Wo des herkummt, do gebt’s noch mehr. Schdatt hier faul rumzuhänge, biet isch dir die Geleschenheit, als Dampfkesselheizer uf `me technische Wunderwerk die Welt kenne zu lerne. Gesche gude Bezahlung nadierlich.“

„Einverstanden!“ juuwelt der Feierdämon ganz begeischdert. „Wenn ich mit diesem megacoolen Zeugs bezahlt werde, bin ich sofort dabei! Omar Al Djahid mein Name. Wo muss ich unterschreiben? Wann geht’s los? Kann ich sofort mitkommen? Brauch ich eine Impfung gegen Milzbrand? Nun sag schon, Herr Schinken-im-Brotteig, ich muss das doch wissen!“

‚Yo’, denk isch, ‚kannscht disch gleisch dem klääne Drecksack vun Borjermeeschder uff de Schoß setze, dass der aach emol e bissje Feier kriecht.’ Laut awwer saach isch: „Bleib logger, Kumbel. Mir kummen ball widder un holen dich. Do haschde schunn mol en Vorschuss.“ Bei dene Worde schmier isch das Kreemzeichs vun meine Hänn an die Wand näwer mir un der Kerl schderzt sich druff unn leckt unn schlotzt unn is hin unn wech.

‚Okäi, Auftrach erfüllt’ denk isch mir, schnapp mir die Truh unn mach misch uff de Rückweg, weil die annern sischer schunn näschelkauend uff misch warde.

(Ende von Germis Bericht. GERMI! Kannst aufhören! Hier … willst du noch einen Keks? Oder zehn? Hilfe!)

Es war noch kaum eine halbe Stunde vergangen, da näherten sich Germinators stampfende Schritte hinter der Tür. Stolz kam er zurück, zwar ohne Dämon, aber über beide Backen grinsend. „Bingo!“, rief er dröhnend. „Isch hab enne an de Angel. Oma Al Schubidubi hääßt er. Obse, mit dein Super-Kühl-Gel isser uns auf de Leim gegange. Sogar freiwillich. Ich musst nur en ganz klän bissele nachhelfe.“

Wir umringten Germinator, beglückwünschten ihn zu seiner mutigen Tat und schälten ihn aus dem unbequemen Panzer. Während wir ihm noch auf die Schultern klopften, hörten wir aber, wie sich hinter uns mit Quietschen und Rattern ein Wagen näherte. Nanu? Der Große Vorsitzende hatte sich doch erst für in etwas mehr als zwei Stunden angekündigt? Aber es war gar nicht Gǿtz Gerissǿn, sondern sein leidgeprüfter Adjutant, der hektisch mit den Armen ruderte und uns schon von weitem zuschrie: „J-Jagd sǿ-sǿ-sǿfǿrt abbrechen! Au-au-aufhǿren! Prǿ-prǿgrammänderung! Ǿch-ǿch. Pust. Wi-wi-wichtige K-K-Kulturveranstaltung im H-H-Haus des Vǿ-Vǿ-Vǿlkes! Ǿ-ǿ-ǿberste Pri-Priǿrität! Kǿ-kǿ-kǿmmen sie sch-sch-schnell! Ǿch-ǿch.“

Wir schüttelten die Köpfe. Hier ging’s ja zu wie im Taubenschlag: Rein in die Kartoffeln – raus aus den Kartoffeln. „Kein Wort davon, dass wir den Feuerdämon schon unter Vertrag haben!“, zischte uns Obstip zu. „Das muss dieser hirnamputierte Politik-Clown gar nicht wissen. Tut einfach ganz unschuldig. Und Sie, Herr Germinator, schauen am besten immer nach oben und pfeifen sich eins.

Der Schweinsbarbar gehorchte ergeben. Da wir Übrigen jedoch auf dieselbe Idee gekommen waren, boten wir einen für die Bergzwerge wohl sehr ungewöhnlichen Anblick, wie wir da, laut und eher windschief die zamonische Nationalhymne interpretierend, wieder ins Dorf einrollten. Aber was war denn hier los? Gestikulierende und panisch herumrennende Bürger, kleine diskutierende Grüppchen, die sich bei unserem Näherkommen blitzschnell zerstreuten und Bergzwerginnen, die binnen einer Viertelsekunde von ‚heulendes Elend’ auf ‚himmelhoch jauchzend’ umschalteten, sobald wir sie nur mit unserem Blick streiften, legten nahe, dass etwas ganz und gar nicht in Ordnung war. Aber man wollte uns ganz offensichtlich nicht zum Nachdenken kommen lassen. Eine Schar ‚Kulturbeauftragter’ zerrte uns sofort nach dem Aussteigen in eine Art überdachtes ‚Mini-Megather’, wo man unsere Sinne mindestens vier Stunden lang (ohne Pause!) mit altzamonischem Bauerntheater und herzzereißend langweiligen Oden an die verlorene Heimat malträtierte.

Als wir dann hinreichend benebelt waren und ähnlich wandelnden Leichen in den Sitzen hingen, komplimentierte man uns wieder zurück ins Gästehaus, stopfte uns in unsere Betten (und Kübel) und stellte sogar noch eine Wache vor die Tür, „damit der Schlaf unserer lieben Gäste nicht gestǿrt werde“, wie Gǿtz Gerissǿn väterlich bemerkte. Wir waren inzwischen zu müde zum Protestieren. Kaum lagen wir in den Federn, fielen uns auch schon die Augen zu.
Andray DuFranck
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Registriert: Do 23. Mai 2019, 22:56

Re: Expedition in die Tiefen der Nachtschule

Beitrag von Andray DuFranck »

EXPEDITIONSTAGEBUCH
„Reise in die Tiefen der Nachtschule bis zur Mitte Zamoniens“

11. Tag

Dass ein ruhiger Schlaf während einer Expedition zu den Luxusgütern gehört, musste ich auch in dieser Nacht wieder schmerzlich feststellen. Mir kam es so vor, als sei ich gerade erst eingenickt, als unangenehmes Zwicken und Schütteln mich (und wie ich feststellte, auch die übrigen Expeditionsteilnehmer) unsanft aus süßen Träumen riss. Zu meiner Überraschung erkannte ich Glǿd Glǿdsǿn und Ǿlaf Ǿlafsǿn, die, in Wächter-Uniformen steckend, aufgeregt von Bett zu Bett huschten und uns offensichtlich etwas Wichtiges mitteilen wollten.

„Was gibt’s denn jetzt schon wieder?“ murmelte ich schlaftrunken. „Hat das nicht bis morgen Zeit?“

Es hatte ganz offensichtlich nicht, und darum fand ich mich auch wenige Minuten später mitsamt den Kameradinnen und Kameraden in der Abgeschiedenheit des Waschraumes wieder, wo kein neugieriges Auge durch ein Fenster linsen konnte.

„Es ist etwas Entsetzliches geschehen“, sprudelte Ǿlaf hervor. „Während ihr auf Dämǿnenfang wart, sind einige unserer Jungzwerge hier im Gästehaus gewesen. Sie müssen etwas gesucht haben. Jedenfalls sind sie gleich darauf spurlǿs verschwunden – und mit ihnen die Wiege der Ahnen.“ Wir schauten einander erschrocken an, aber Glǿd berichtete schon weiter.

„Schleifspuren lassen vermuten, dass das Tauchschiff zum ‚Friedhǿf‘ transpǿrtiert und dǿrt zu Wasser gelassen wurde. Aber das kann dǿch nicht sein. Es ist glatter Selbstmǿrd, einen Tauchgang ǿhne Antrieb zu versuchen, das weiß hier jedes Bergzwergenbaby. Das Kǿmbinat glaubt auch nicht daran. Die meinen, dass die ‚Dǿnnerkeil‘ mitsamt den Jungspunden vǿn Dämǿnen in irgendwelche versteckten Nebenstǿllen verschleppt wurde, aus welchem Grund auch immer. Überall kǿchen seitdem die verrücktesten Gerüchte hǿch. Alle sind in heller Aufregung, keiner kann sich auf die Geschehnisse einen Reim machen. Ihr etwa?“

„Ich schon“, meinte Kulla dumpf, nachdem sie einen flüchtigen Blick in die Kochecke geworfen hatte. „Leute, unsere transportable Feuerstelle ist weg!“

Obstip griff sich an den Kopf. „Diese dreimal vermaledeiten Narren“, keuchte er. „Sie müssen spitzgekriegt haben, dass sie das Gerät als Hitzequelle für den Dampfkessel verwenden können. Dann muss etwas in ihren Köpfen durchgebrannt sein und sie haben beschlossen, eine kleine Tour zu veranstalten, bevor die ‚Donnerkeil‘ von der ‚Großen Tournee‘ oder einer anderen Interessengruppe in Beschlag genommen würde. Leider wussten sie nicht, dass die Heizleistung nur noch für maximal ...“ - er zog einen Rechenschieber heraus und begann, Zahlen vor sich hin zu murmeln – „zwei Stunden anhält. Der Energiekristall war schon ziemlich entladen. Und nun stecken sie mit hundertprozentiger Sicherheit irgendwo antriebslos in den Kanälen des Finsterwassers fest. Keine Chance. Sie sind schon so gut wie tot.“

Das waren tatsächlich alarmierende Nachrichten. Aber es sollte noch schlimmer kommen. Von der Eingangstür drangen nämlich jetzt die Klänge eines Klopfsignals: Tǿck-tǿ-tǿ-tǿck-tǿck Tǿck-tǿck.

„Das sind die beiden Stimmbänder“, flüsterten Glǿd und Ǿlaf. „Sie bringen Neuigkeiten vǿn der Außerǿrdentlichen Kǿmbinatssitzung. Ǿh Mann, die hat ja ganz schǿn lange gedauert.“

Die Tür öffnete sich lautlos, zwei Schatten krochen herein. „Gǿrm, Jǿhn, hier im Bad sind wir“, machten wir uns bemerkbar. Die beiden Sprecher des Kombinats robbten herbei und fingen sofort zu berichten an.

„Dicke Luft in der Ǿbersten Leitungsebene“, sprudelte Gǿrm hervor. „Gǿtz Gerissǿn und seine Mariǿnetten haben durchgesetzt, dass die Verschwundenen gleich mǿrgen früh in Tunnel B1 gesucht werden. Ausgerechnet im gefährlichsten, marǿdesten Altstǿllen, den wir haben. Die ‚wagemutigen Jungzwerge’, damit meint er natürlich alle Unruhestifter, geführt vǿn den ‚erfahrenen Abenteurern’, alsǿ unseren Gästen, sǿllen dǿrt reingeschickt werden. Und wenn es dann zu einem Stǿllensturz kǿmmt, was meiner Meinung nach mit Sicherheit passieren wird, ist der Grǿße Vǿrsitzende all seine Prǿbleme mit einem Schlag lǿs.“

Wir erbleichten angesichts von so viel Heimtücke. Einige Minuten lang war es still, während jeder von uns seinen Gedanken nachhing.

„Herr vǿn Kǿlǿn“, fragte Glǿd plötzlich. „Für wie lange, sagten Sie, hatte das Kǿchgerät nǿch Energie?“
„Maximal zwei Stunden, eher weniger.“
„Vielleicht gibt es dǿch nǿch eine Chance. Gǿrm, Jǿhn, Ǿlaf, erinnert ihr euch nǿch an die Geschichten, die uns mein Grǿßvater damals erzählt hat? Vǿn der Irren Inga? Vǿm Eisǿleum? Wisst ihr nǿch? Iiiich seeehe tǿǿǿte Zwerrrrge. Das war dǿch der blanke Hǿrrǿr damals. Sie hat die Ewige Treppe in den Eiskatakǿmben entdeckt und ist runtergestiegen. Und dǿrt unten hat sie die eingefrǿrenen Leichen der Vǿrfahren gesehen und ist davǿn verrückt gewǿrden. Abgefahren.“

„Bannig hübsches Seemannsgarn“ meinte Minus. „Aber was nützt uns das alles, he?“

„Das kǿnnt ihr nicht wissen“, antwortete jetzt Ǿlaf. „Wir beerdigen unsere Tǿten nicht, wir behängen sie mit Metallmünzen und werfen sie am ‚Friedhǿf’ ins Wasser. In der Tiefe gibt es wǿhl irgendwǿ eine Seitenstrǿmung, die aus dem Schacht herausführt. Und wenn diese Strǿmung durch die tiefen Eishǿhlen fließt, die die Irre Inga gesehen hat, dann kǿnnen dǿrt die Leichen der Vǿrfahren hingetrieben wǿrden sein. Und wenn die Leichen dǿrt gelandet sind, warum dann nicht auch die lahmgelegte ‚Dǿnnerkeil’?“

„Ǿkay, du kǿnntest recht haben“, sagte nun Jǿhn. „Leider kǿmmen wir niemals in die Ewige Treppe rein. Der Zugang ist seit Jahrzehnten versperrt. Die besten Kräfte der Feinmechanikergilde haben das Schlǿss damals extra gebaut. Ǿhne Schlüssel läuft schǿn mal gar nichts. Den hat aber nur der Grǿße Vǿrsitzende, und der wird ihn freiwillig niemals rausrücken.“

„Das glaubst auch nur du, dass das Schlǿss unknackbar ist“, grinste da Gǿrm. „Mein lieber Ur-Ǿpi war nämlich Feinwerkermeister, er hat den Mechanismus erfunden. Und deswegen ist allen Mitgliedern unserer Familie bekannt, mit welchem Trick sich eine sǿlche Verriegelung auch ǿhne Schlüssel ǿffnen lässt.“

„Na alsou, dat hört sich doch schon ma besser an“, stellte Minus abschließend fest. „Na denn lous, Jungs und Mädels, worauf waaten wir noch?“

In fliegender Hast packten wir unsere Siebensachen zusammen, dann schnappte sich Germinator das Gepäck und meinen Transportkübel. Mit abgedunkelten Quallenlampen machten wir uns wie die Diebe davon und verließen in Begleitung der vier ‚Rebellen’ die etwas seltsame Gastlichkeit des Zwergenkollektivs.

Als wir außer Sichtweite waren, zupfte Linora plötzlich an Obstips Jacke. „Ich hätte da noch einen Vorschlag“, meinte sie. „Wäre es nicht besser, wenn wir in dieser Eisgruft auf die heiße Hilfe eines Feuerdämonen zurückgreifen könnten?“

„Genial, Linora“ entfuhr es meiner Wenigkeit. „Du hast völlig Recht. Es ist mir ein Rätsel, warum du nicht als Gute Idee geboren wurdest, bei diesen Geistesblitzen. Herr Obstip, geben Sie ihr bitte den Rest der Kühlsalbe. Wie hieß der Dämon noch gleich? Oma Al Irgendwas? Na, er wird wohl in der Nähe des Zugangs zum Lavastollen warten. Bestell ihm schöne Grüße von uns und nimm ihn ins Schlepptau, er soll sich beeilen. Wir markieren unseren Weg wieder mit Kreidepfeilen, damit ihr uns schneller findet. Das ist bequemer als das ständige Anpeilen des Gedankenkristalls.“

„Wird gemacht, Herr Expeditionsleiter“, schnarrte die Schlechte Idee grinsend und flitzte bereits mit Höchstgeschwindigkeit von dannen.

Wir hielten uns an die Bahngeleise, bogen an der Weiche diesmal jedoch nach links ab und erreichten bald einen Tunnel, aus dem uns kalter Nebel entgegenwehte.

„Erst heißer Schlamm, dann frostige Riesenkavernen, dann Lavatümpel, jetzt wieder Eiskeller“, beklagte sich Obstip schniefend und legte einen buntkarierten Schal um. „Ich fühle, dass ich mir auf dieser Reise noch eine gewaltige Grippe holen werde.“

Aber auf die Leiden des Nattifftoffen konnten wir zurzeit keine Rücksicht nehmen. Wesentlich wichtiger für mich persönlich war nämlich, dass die Temperatur hier endlich in Regionen sank, bei denen ich es erneut wagen konnte, meine Gelatine-Tabletten zu benutzen. Auch mein frisch gewaschener und mit Heißdampf entknitterter Laborkittel stand wieder zur Verfügung. Also verzog ich mich hinter einen Felsklotz und brachte mich in die wesentlich praktischere humanoide Form. Zum Glück hielt sich gerade außer uns niemand hier in den Kühlräumen auf, so dass wir es wagen konnten, die Quallenlampen auf ‚volle Kraft’ hochzudopen. Mit roter Kreide malten wir während des Marsches fleißig Pfeile und Markierungen auf die überfrorenen Wände.

Die Zeit verging. Immer tiefer gerieten wir in das Gewirr der eisigen Gänge. Aber die Bergzwerge kannten sich hier bestens aus und schritten eilig voran. Keine halbe Stunde später schon standen wir vor einer primitiven Absperrung aus verrosteten Eisenstäben. Für unsere Hutzen kein Problem. Amanda schob phellpe beiseite, die sich nicht die zarten Fingerchen schmutzig machen wollte, und riss mit einer schnellen Bewegung das Hindernis aus seiner Verankerung. „Billiges Material“, schnappte sie verächtlich und knotete die Stangen zu einer Schleife zusammen. „Na wo ist denn nun das kleine Türchen, wo isses denn?“

„Da“, sagte Ǿlaf und wies an der unter ihrem Fell erbleichenden Amanda vorbei auf ein mächtiges Ungetüm aus geschmiedetem Stahl, das vor uns in die Felswand eingelassen war. „Klǿtzen statt Kleckern war die Devise der Vǿrväter, wenn es um die Abriegelung pǿtenzieller Gefahrenherde ging. Aber keine Sǿrge – Du kannst Deine Hutzenkräfte gleich zur Anwendung bringen, wenn wir den Ǿschi hier aufwuchten müssen.“

Gǿrm trat vor. Mit sicherem Griff drückte er sieben Nieten der Schlosseinfassung in einer bestimmten Reihenfolge nieder. Zuerst geschah gar nichts.

„Verzǿgerungseffekt“, meinte der junge Bergzwerg lakonisch und gab dem Riegel einen leichten Klaps. Etwas ratterte im Inneren des Mechanismus’ und in diesem Moment sprangen mit metallischem Klicken sämtliche Sperrbolzen zurück. „Vǿila, es ist angerichtet“, verkündete Gǿrm und verbeugte sich leicht, während wir ihm für dieses Kunststück wohlverdienten Applaus spendeten.

„Paaaackt an! Zuuuu-gleich!“ ertönten nun Minus’ Kommandos aus der Höhe seines Helmsitzes. „Pullt, Kinnings, pullt! Jaaaa, dat wird schoun wat, fester! Germi, du wissoch die Damen nich alles allein machen lassen, potz Däuwel. Du bischa en richtigen Matscho bistu ja. Pullt, Leude! Noch en Stück, dann hamwa’s geschafft. Jahaaaaaa … und genuch. Offen is. Na denn alle man rinn in die gute Stube.“

Vor uns lag eine Art Brunnenschacht, an dessen Wand sich eine schmale steinerne Wendeltreppe entlangzog. Weder nach unten, noch nach oben war ein Ende abzusehen. Das Gemäuer wirkte uralt, vielleicht tausend oder noch mehr Jahre. Über den oder die Erbauer konnte man nur rätseln.

„Runter müssen wir“, erklärte Glǿd. „Nach ǿben ist irgendwann Schluss, hat Ǿpa erzählt, da kǿmmt ein Brǿnzedeckel, der sich vǿn unserer Seite her nicht ǿffnen lässt. Nein, ich weiß auch nicht, ǿb unser Zugang hier natürlich ist, ǿder vǿn jemandem geschaffen wurde. Die Irre Inga hat ihn lediglich entdeckt, da war er schǿn vǿrher. Nach dem Vǿrfall haben ihn die Bergzwerge aber endgültig dicht gemacht. Kǿmmt jetzt, und passt auf die Stufen auf. Alles vǿller Eis. Wer hier stürzt, ist lange unterwegs und fällt hart.“

Wir kritzelten noch eine Warnbotschaft für Linora und den Feuerdämon an den Fels, dann stiegen wir vorsichtig abwärts.

Irgendwie kam mir die Situation bekannt vor. Wenn ich nur gewusst hätte, woher.

„Blut, Blut, Blut, Blut,
Blut, Blut, Blut, Blut …“

summte ich vor mich hin. Komisches Lied. Ich erinnerte mich nicht daran, es je gelernt zu haben. Es kam einfach … ganz von alleine.

„Blut, das muss spritzen meterweit,
Blut, das muss tränken des Feindes Kleid …“

kreischte nun auch phellpe los. Obstip flehte um Ruhe und bat, Rücksicht auf seine empfindlichen Ohren zu nehmen, aber niemand hörte auf ihn. Mit dem Ergebnis, dass er uns alle an sich vorbeiziehen ließ und ganz allein, in mehr als zweihundert Metern Abstand, hinterhertaperte. Es nützte ihm zwar wenig, denn der Gesang hallte durch die gesamte Länge des Schachtes, aber wenigstens schien er sich so besser zu fühlen.

Dichte Atemwolken bildeten sich in der eiskalten Luft vor unseren Mündern. Tiefer und tiefer stiegen wir und mir wurde nun klar, warum die Zwerge dieses Konstrukt als ‚endlose Treppe’ bezeichneten. Dann endlich, wie mir schien, nach Stunden (in Wirklichkeit aber nach etwa 45 Minuten, wie mir Obstip bestätigte, der die Sekunden gezählt hatte), erreichten wir den Grund. Hier führten sieben Gänge in verschiedene Richtungen, aber wir mussten nur in den einen, den sicher auch die Irre Inga gewählt hatte: Den, aus dem ein eisblaues Licht schimmerte.

Langsam wurde mir die Hundekälte äußerst lästig. Schon am Domestizierten Dimensionsloch war sie kaum zu ertragen gewesen, aber hier unten bekam ich ernsthafte Probleme, wenn ich nicht als Eismann enden wollte. Ich musste ständig in Bewegung bleiben, sonst froren mir die Füße am Boden fest. Endlich erbarmte sich Obstip und zog mit säuerlichem Lächeln eine Feldflasche hervor. „Jeder einen wönzigen Schlock von Kapitän Graubarts Selbstgebranntem“, befahl er. „Das gilt auch für Sie, Herr Schweinsbarbar. Bitte wirklich nor einen wönzigen Schlock!“ Die Flasche kreiste einmal und der Nattifftoffe konnte noch von Glück reden, dass er den verbleibenden kläglichen Rest leise seufzend noch selbst genießen durfte. Der Zwergpiraten-Rhumm wirkte auf uns alle wie ein Frostschutzmittel und tat sogleich seine belebend-wärmende Wirkung.

Plötzlich stellte Obstip die Ohren auf. „Linora und der Feuerdämon kommen“, sagte er nach kurzem Lauschen. „Na, das wird ja auch langsam Zeit.“

Wir sahen nach oben. Dort war in der Ferne ein glutroter Punkt aufgetaucht, der rasch größer wurde. „Ich vermute, er nimmt den kurzen Weg und schwebt zu uns herunter“, meinte der Nattifftoffe. „Wir sollten aufpassen, dass er nicht auf unseren Köpfen landet.“ Kaum hatte er ausgesprochen, rauschte bereits mit vollem Karacho unsere kleine Schlechte Idee über die Wendeltreppe heran. Leider machte das Eis ihrem gekonnten Bremsmanöver einen dicken Strich durch die Rechnung, so dass sie geradeaus weiterschlitterte und mit panischem Quieken in einem für uns uninteressanten Gang verschwand. Gleich darauf zeigte lautes Scheppern an, dass dort irgendetwas ihre Rutschpartie gebremst hatte.

Grazil landete nun der Dämon in unserer Mitte. Er war nicht gerade der Allerschönste, aber das konnte uns ja egal sein. Hauptsache, er war ein hitziger Geselle und bereit, seinen Job zu machen. Auch Linora schlurfte wieder herbei. Sie hatte die Arme voller verbeulter Blechkrüge, in die die Worte ‚Souvenir aus HEL’ eingeprägt waren. „Möchte jemand ein Erinnerungsstück an unseren Aufenthalt hier unten?“ fragte sie scherzhaft und drückte jedem von uns eines der hässlichen Trinkgefäße in die Hand. „Da hinten ist alles voll davon, liegt zu Tausenden in verrotteten Kisten rum. Altes Zeugs, denke ich, vielleicht Beutegut oder Handelswaren, die keiner vermissen wird.“

Das war wohl möglich. Von einer Stadt namens Hel hatte ich nämlich schon gerüchteweise gehört, aber die lag ganz und gar nicht in dieser Gegend. War ja auch egal.

„Wir dürfen nicht noch mehr Zeit verplempern“, drängte ich daher. „Während wir hier herumstehen und billige Becher angucken, ersticken oder erfrieren vielleicht nur ein paar Meter weiter die Zwergen-Teenager in ihrem Metallsarg. Los, kommt schon. Hier lang, denke ich.“

Wir hatten nicht allzu weit zu gehen. Bereits nach wenigen Schritten standen wir vor einer hoch aufragenden Eiswand, aus der ein bläulichweißes Licht drang und die einen atemberaubenden Panoramablick durch eine gigantische, völlig mit Eis ausgefüllte Höhle bot. Dies also war es, das märchenhafte ‚Eisoleum.’

„Iiiich seeehe tǿǿǿte Zwerrrrge“, erklangen hinter uns die keuchenden Stimmen unserer Begleiter im Chor. „Schaut nur, die Ahnen. Als würden sie noch leben. Sie senden uns einen letzten Gruß!“

Tatsächlich erschien es durch die Brechung des Lichtes in den Eisschichten, als bewegten sich die überall eingefrorenen Leichen in einem ständigen perversen Zittern und Zucken hin und her. Gorm presste die Hand auf den Mund, um nicht vor Entsetzen loszuschreien, Glod fiel auf die Knie und übergab sich. Die beiden Anderen rissen sich von dem Anblick los und kümmerten sich, unterstützt von der guten phellpe, sofort rührend um ihre geschockten Kameraden.

Während wir noch so dastanden und mit angehaltenem Atem das Wunder beglotzten, stürzte Obstip bereits zur frostigen Wand und presste sein Ohr dagegen. Eine Zeit lang lauschte er konzentriert, um ja keine Nuance des durch das Eis dringenden Schalls zu verpassen, dann streckte er sich aufatmend: „Sie sind tatsächlich da. Und sie leben noch, wenn auch nur fast. Ich höre ihre schwachen Hilferufe und Klopfsignale. Dort!“ Er zeigte mit dem Finger schräg nach unten. Jetzt sahen wir es auch. Neben einer in hellem Weiß strahlenden Lichtquelle lag ein bronzefarbener Fleck unbeweglich im Klammergriff des gefrorenen Elements, beeindruckend, aber auch, so mächtig er war, verloren wirkend in der schieren Größe dieses endlosen, trügerisch glitzernden Totenhauses: die ‚Donnerkeil.’

„Es tut mir leid, dass wir Sie, kaum dass Sie bei uns sind, um einen Gefallen bitten müssen“, wendete sich der Nattifftoffe nun an den Feuerdämon. „Aber wenn wir Ihren zukünftigen Arbeitsplatz erreichen wollen, müssen wir uns einen Weg dorthin bahnen. Das ist doch Ihre Spezialität, nicht wahr? Dürfte ich Sie deshalb darum bitten, gleich hier zur Tat zu schreiten?“

„Aber sicher doch“, antwortete der Dämon geschmeichelt. „Mein Name ist übrigens Omar Al Djahid, mit Verlaub. Ich freue mich schon auf unsere zukünftige Zusammenarbeit. Nun, dann werden wir die Metallphogarre mal freischmelzen.“ Er spie eine lange Flammenzunge und machte sich an die Arbeit.

Während der Feuerdämon losackerte und mit überraschender Geschwindigkeit einen breiten Tunnel ins Eis brannte (das sich unter seiner Hitze sofort in dichte Dampfwolken verwandelte), zeigte ich auf eine kompliziert wirkende Konstruktion aus gerippten Kupferröhren, die genau über der Lichtquelle aus der Decke und tief ins Eis hineinragte.

„Was mag denn das dort oben sein?“ fragte ich Herrn von Kolon. „Und glauben Sie, dass es uns gefährlich werden könnte?“

„Vielleicht“, antwortete der Nattifftoffe. „Ich bin zwar kein Ingenieur und das Ding wirkt eigentlich nicht wie eine Waffe auf mich, aber ich könnte mir denken, dass dies ein Teil der Kühlmaschinerie der Fleischernen Riesen ist, in der auch Aha, Behbe und Zehze gefangen waren. Möglicherweise eine Art Hitze-Austauscher, der aufgeheiztes Wasser zu- und abgekühltes wegführt. Aber, wie schon gesagt, ich bin kein technischer Experte und darum könnte es auch ein außerirdischer Kleiderhaken sein. Andererseits – es ist schon seltsam, dass es genau über diesem Licht hängt. Wenn Sie wollen, können wir es uns nachher ja einmal genauer ansehen. Aber schauen Sie, unser feuriger Freund nähert sich schon dem Tauchschiff. Schnell hinterher, und nehmen Sie die Not-Apotheke mit!“

Die Bergzwergenjünglinge waren jetzt nicht mehr zu halten. Ihre angeschlagene Befindlichkeit und die von überallher grinsenden Leichen ignorierend, stürmten sie mit gezückten Werkzeugtaschen an uns vorbei. Omar Al Djahid war gerade dabei, die Einstiegsluke zu enteisen. „Zur Seite, zur Seite!“, brüllte Glǿd. „Lass die Spezialisten ran, wir kennen uns da aus!“

Ungeachtet der noch glühend heißen Griffe und Hebel packten sie beherzt zu, rüttelten und zerrten, öffneten Notventile und zogen Sicherungsbolzen, bis der Deckel kapitulierte und unter dem Zischen ausströmender Luft zur Seite schwenkte. Vier Bergzwergenköpfe beugten sich über die finstere Öffnung.

„Lara, Sǿnja, Ylva, Bǿris, Ǿle, Snǿrre, lebt ihr nǿch? Sǿ antwǿrtet dǿch! Bitte antwǿrtet dǿch! Ǿh ihr Gǿtter, lasst es dǿch nǿch nicht zu spät sein!“ flehten die mutigen Retter, während sie ins Innere der ‚Donnerkeil’ kletterten. „Schaut, da liegen sie. Sind sie tǿt? Sind sie tǿt? Ja? Nein? Nein! Sie atmen! Sie atmen? Hurra, sie atmen! Sie sind nur bewusstlǿs und vǿllig ausgekühlt. Schnell, tragt sie raus. Raus mit ihnen. Sauerstǿff, wir brauchen ein paar Saure Tauchlappen. Steht dǿch nicht faul rum, sucht welche! Phellpe, hier kǿmmt die erste. Kulla, für dich die zweite. Germi, kannst du gleich zwei nehmen? Aber nicht fallen lassen. Sǿnja, Bǿris, haltet euch an seinem Hals fest. Und jetzt Snǿrre, wer will Snǿrre? Da, Amanda, darfst auch einen transpǿrtieren …“ In dieser Art ging es weiter, bis alle sechs Opfer geborgen waren.

Meine Nackenwellen kräuselten sich. Als Tratschwelle hat man so was eben im dünnen Blut: ganz in der Nähe gab es fließendes Wasser. Es konnte noch nicht lange her sein, dass das Tauchschiff eingefroren war, denn vor ein paar Stunden hatte es ja noch die unterirdischen Kanäle befahren. Als ich Obstip darauf aufmerksam machte, stimmte er mir zu, genau wie Minus, dem Schiffe im Packeis ebenfalls nicht fremd waren.

„Versetzen wir uns einmal in die Lage der Fleischriesen, als sie vor ewigen Zeiten hier ihren Außenposten errichtet haben“, spekulierte er. „Sie haben Maschinen, welche einen Haufen Hitze erzeugen, die sie loswerden müssen. In der Tiefe der Finsterberge herrscht aber noch jede Menge geothermischer Aktivität, es ist nicht kalt genug. Also gibt es nur eine Möglichkeit …“
„Recht hastu, olles Elchgeweih“, platzte Minus heraus. „Sie müssen sich ihren Eismacher selbst mitbringen. Und was, bei allen Wandernden Teufelsfelsen, wär dafür besser geeichnet …“
„… als ein Schmutziger Schneeball. Beim Großen Atlantischen Gesetzbuch, sie haben ein Loch gebohrt und ein Kometenherz hineingeworfen.“

Aus dem „Lexikon der erklärungsbedürftigen Wunder, Daseinsformen und Phänomene Zamoniens und Umgebung“ von Prof. Dr. Abdul Nachtigaller
Kometenherz, das: Kometenherzen, manchmal auch ‚Schmutzige Schneebälle‘ genannt, sind eine gesteinsähnliche Spezies semi-intelligenter, parasitärer Lebensformen, welche die Dunkelheit des Alls durchstreifen, um Planeten zu finden, in denen sie sich einnisten können. Wenn sie an einem brauchbaren Himmelskörper ankommen, stürzen sie auf ihn herab, bohren sich tief in den Boden und verwurzeln sich dort. Nun dauert es nur noch ein paar Millionen Jahre, bis sie die eisige Weltraumkälte ausgeschieden haben, die in ihren Körpern gespeichert ist. In dieser Zeit versuchen sie, so viel wie möglich über ihren Wirtsplaneten in Erfahrung zu bringen, da sie dieses Wissen an ihre Nachkommen weitergeben. Um dies zu erreichen, sind sie sogar fähig, sich telepathisch mit Planetenbewohnern zu verständigen oder ihnen Eindrücke von ihrer langen Reise durchs All zu übermitteln. Ohne dass das ‚Opfer‘ etwas davon bemerkt, kopiert das Kometenherz während des Kontaktes dessen gesamten zerebralen Speicher und gibt die Informationen an die bereits in ihm heranwachsenden Nachkommen weiter.
Schließlich ist es dann soweit. Sobald die Temperatur des Parasiten über den Gefrierpunkt steigt, bohrt er innerhalb weniger Tage eine Pfahlwurzel bis ins Planeteninnere. Bei Erreichen der glutflüssigen plastischen Schicht erfolgt eine chemische Reaktion, durch die das Mutterwesen getötet wird. Gleichzeitig schießen jedoch die Nachkommen wie aus einem Kanonenrohr in die Höhe und weit ins All hinein, wo sie nun, um neues Wissen ergänzt, ihre Reise fortsetzen.
Der Grund für dieses Verhalten ist und bleibt rätselhaft. Es mag sein, dass diese Spezies nach Allwissenheit strebt und, wenn sie dieses Ziel erreicht hat, in eine Art göttliches Wesen mutiert. Genauso gut kann es jedoch sein, dass es sich beim Kometenherz um eine Laune der Natur oder um eine vergessene Seitenlinie der Evolution handelt.

Wir betrachteten den funkelnden Lichtspender nun mit ganz anderen Augen. „Teuflisch intelligent“, stellte Obstip mit leiser Bewunderung in der Stimme fest. „Der Brocken produziert gleich bleibende minus fünfzehn Grad Kälte, und das über etliche Millionen Jahre hinweg. Genügend Zeit, um sich hier häuslich niederzulassen und ein paar Forschungsaktivitäten durchzuführen, bevor man sich wieder verabschiedet und seine Problemabfälle den kommenden Generationen der Planetenbevölkerung hinterlässt.“

Ich warf die Stirn in Wellchen. „Und?“, fragte ich. „Machen wir ihn jetzt kaputt?“

Der Nattifftoffe schüttelte sein weises Haupt. „Nein, besser nicht“, entschied er. „Erstens ist er ein (zumindest für die nächsten paar hunderttausend Jahre) recht harmloses Lebewesen. Zweitens weiß ich nicht, ob wir überhaupt die Kräfte und Mittel besitzen, ihn zu zertrümmern. Er sieht ziemlich groß und stabil aus. Drittens müssten wir uns ihm beim Angriff sehr stark nähern, was er ausnutzen würde, um unser Gedächtnis zu kopieren. Und viertens – ich habe mich während dieser Expedition bereits genug mit denkendem Gestein herumgeärgert. Einmal Zamomin ist genug, ich verabscheue Wiederholungen. Nein, ich schlage vielmehr vor, dass wir nach unserer Heimkehr den Professor brieflich auf diese tickende Zeitbombe hinweisen und, sollten wir unser Tagebuch einmal veröffentlichen, der Nachwelt deutlich anzeigen, dass hier unten ein Kometenherz vor sich hinkühlt. Dann hat auch die nächste Forschergeneration noch etwas zu tun.“

Das klang äußerst vernünftig, also wandte ich mich den übrigen Kameraden zu, um sie bei ihren Wiederbelebungsversuchen zu unterstützen.

Die unterkühlten Zwergen-Teenager waren inzwischen in Wolldecken gewickelt und zum Fuß der Wendeltreppe transportiert worden. Dort, in der Nähe des unruhig flackernden Feuerdämons, tauten sie langsam wieder auf. Mit geschlossenen Augen, nur flach atmend, lagen sie unbeweglich da, während sie von ihren Freunden und den Hutzen umsorgt wurden.

Gerade kroch als letzter Jǿhn aus der ‚Donnerkeil.’ Er brachte unsere entwendete Feuerstelle zurück und überreichte sie nun Kulla, die unterdessen die Kochkiste und einen kleinen Suppenkessel hervorgekramt hatte.

„Fix und alle“, konstatierte sie enttäuscht, nachdem sie den Aktivierungsschalter des Gerätes mehrmals vergeblich betätigt hatte. „Wie wir uns gedacht hatten. Der Saft reicht nicht mal mehr, um ein Glühwürmchen zu befeuern. Lava bräuchten wir. Aber wo sollen wir in dieser Eisgruft nur Lava hernehmen?“

„Meine allerverehrteste Dame“, flammte Omar Al Jahid da heftig auf. „Ich bitte Sie. ‚Lava’ ist mein zweiter Vorname. Ich stehe jederzeit zwecks Glutspende zur Verfügung!“

„Huch, den Feuerheini habe ich ja ganz vergessen“, schluckte da die Küchenhutze. „Na, das ist ja wunderbar. Hier haben Sie den Energiekristall, passen Sie auf, dass Sie das Kabel nicht durchschmoren. Wie Sie ihn einführen, oral, axilar oder rektal, ist mir gleich, Hauptsache, er wird flott wieder aufgeladen, damit ich den armen Wesen hier eine gute Fleischbrühe kochen kann.“

Sie schaute Obstip, Minus und mich besorgt an. „Ach ja, und unsere Vorräte neigen sich bedenklich dem Ende zu. Wenn wir nicht bald Nachschub bekommen, bleibt uns nichts anderes übrig, als …“, sie zwinkerte uns listig zu, „ … den Schweinsbarbaren zu schlachten.“

Germinator schrie entsetzt auf, zückte seinen Bergmannshammer und drohte damit in unsere Richtung. „Nur üwwer meine Leische, ihr Kannibale!“ tobte er mehrere Minuten lang, bis wir ihm klarmachen konnten, dass es sich lediglich um einen Scherz gehandelt hatte. Restlos entspannte er sich jedoch erst wieder, als die beruhigenden Dünste von Kullas Süppchen seine Geschmacksknospen kitzelten.

„Germinator, nimm den Trieb aus dem Auge!“, warnte Zwarn. „Erst sind die Verletzten dran, dann kannst du Dir den Rest genehmigen. Vielfraß. Hmmmm … ich frage mich, ob die Zwerglein überhaupt ein so gehaltvolles Süppchen vertragen. Schließlich sind sie nur Algenkost gewöhnt …“

Kulla schwang die Zimtbüchse und würzte großzügig. „Du hast ja keine Ahnung, Schwester!“, motzte sie. „Meine Kraftbrühe ist bis jetzt noch jedem wohl bekommen. Sagen Sie mal, Herr Feuerdämon, was ist denn mit Ihnen los? Sie klingen ja wie ein Staubsauger!“

Omar Al Jahid verdrehte die Augen in höchster Verzückung. „Bei Vesuvius und Krakatoa, Sie sind doch nicht etwa eine Bande umherziehender Drogenhändler? Erst dieses aschgeile Erfrischungsgel, jetzt dieser Duft … nach Abenteuer und nach fernen Feuern. Wunderbar.“

Eines der Bergzwergenmädchen nieste. „Wǿ bin ich? Bin ich tǿt?“, murmelte sie. „Ǿh, jetzt erinnere ich mich. Ach herrje.“

Gleich hielt ihr Kulla den dampfenden Suppenlöffel vor die Nase. „Nicht reden, Kind. Schlucken!“, befahl sie. Die Kleine gehorchte und verzog dann den Mund zu einem überraschten Lächeln. „Hmmm … das schmeckt lecker“, lobte sie. „Mehr davǿn, bitte.“

„Kranke solle net gleisch so viel esse, des is gar net gesund“, murmelte Germinator vor sich hin. „Un vor allem bleibt net mehr so viel für die tapfere Schweinsbarbare üwwerisch.“

Jetzt erwachten auch, eines nach dem anderen, die übrigen Opfer aus ihrer Starre. Alle schnupperten, alle verlangten danach, sofort verköstigt zu werden. Für die nächsten Minuten hörte man darum nur noch das Klappern des Bestecks und das Schlürfen der Esser. Endlich legte phellpe aufatmend den Löffel beiseite und meldete: „Fütterung abgeschlossen, hihi. Alle Patienten wieder wohlauf.“

„HAAAAPPPPPPPPS!“
„Aber Germinator, man glaubt ja, du wärst am Verhungern.“
„Bin isch aach.“

Die sechs jungen Bergzwerge1, immer noch mit umgehängten Wolldecken, gingen jetzt wohlerzogen und höflich herum, bedankten sich bei uns allen für ihre Rettung und entschuldigten sich für das „ungefragte Ausleihen“ unserer Feuerstelle. Wir ließen es gut sein und ritten nicht weiter auf der Sache herum, denn wir fanden, sie seien schon genug bestraft. Wahrscheinlich würden sie bei der Rückkehr ins Dorf sowieso jede Menge Vorwürfe zu hören bekommen.

„Wir sǿllten jetzt wirklich langsam gehen“, meinte nun auch Glǿd. „Eure Eltern sind sicher schǿn krank vǿr Sǿrge über euren Verbleib. Und habt keine Angst wir kǿnnen sehr gut schweigen. Wenn Gǿrm das Schlǿss auch wieder zukriegt, wird niemand erfahren, dass ihr hier unten wart. Wir sagen einfach, bǿse Dämǿnen hätten euch in die Tiefen der Kühlkeller verschleppt und wir hätten euch gefunden. Ich freu mich schǿn auf das dumme Gesicht, das unser über alles geliebter Grǿßer Vǿrsitzender dann machen wird.“

„Moment mal“, warf ich ein. „Wie wollt ihr das Tauchboot denn die Treppe hochtransportieren?“

„Das Tauchbǿǿt?“ Jǿhn spuckte verächtlich auf den Boden. „Das lassen wir hier, ihr kǿnnt es gerne haben. Es hat sǿwiesǿ schǿn genug Unheil angerichtet. Und denkt dǿch mal nach: Was würde passieren, wenn wir jetzt samt ‚Dǿnnerkeil‘ und Feuerdämǿn wieder nach Casalibretto kämen? Ein Bürgerkrieg würde ausbrechen, das würde passieren! Die verschiedenen Interessengruppen, die ‚Kulturkreuzritter‘, die ‚Maschinisten‘, die ‚Explǿrer‘ und wie sie alle heißen, würden sich gnadenlǿs gegenseitig an die Gurgel gehen, weil jeder der erste sein wǿllte, das Ding zu benutzen. Nein, besser es fällt diesen Irren gar nicht wieder in die Hände. Wenn überhaupt, sǿllten wir unser weiteres Schicksal nicht von einem ǿllen Artefakt abhängig machen, sǿndern selbst bestimmen. Mir sind da auch unterwegs ein paar Ideen für eine Bǿhrmaschine mit Strampelantrieb gekǿmmen, mit der man sich vielleicht einen Gang nach draußen fräsen kǿnnte ... blablabla ... nur nǿch das Prǿblem des Abraums lǿsen ... blabla“

Dieser Argumentation konnten wir „erfahrenen Expeditionäre“ uns nur vollinhaltlich anschließen.

Bǿris, der jüngste Bergzwerg, wandte sich daraufhin an unseren Zwergpiraten. „Kapitän Minus der Grǿße Schlachtschiffbezwinger, würdet ihr mir nun die Ehre erweisen, das Kǿmmandǿ über die ‚Dǿnnerkeil‘ in eure fähigen Häkchen zu nehmen?“ fragte er in äußerst würdigem Tonfall. „Ihr braucht übrigens keine Angst zu haben wegen der Technik, das Ding steuert sich nicht sehr viel anders als ein Piratenschiff. Glaube ich jedenfalls.“

Ich nehme an, dass man das Jubelgeschrei von Minus bis nach Casalibretto hinauf hören konnte.

„Potz Spieken und Speigatten!“, schrie er. „Dascha man dat Größte für unsereins, widder als Kommandant auf den Planken von nem Kahn zu steihn. Ihr düürft mich auch ‚Kaleu‘ nenn‘. Mensch, Oubstip, wie findste dat? Hör zou, du Sprotte, saach mir einfach nur, wat ihr verbessert habt, weil der Brünnenfeld, dat is der, wou ihr ‚dat Maskotchen‘ nennt, der hat das bannig gut aufgeschriem‘ in sein interessanten Buch und dat war ja nu ganz nützlich, dat ick das gelejsen hab während eurer koumischen Theatervorstellung gestern ohmd, sonst wär ick da nämlich bei eingepennt. Alsou, min Jung, ne lütte Einweisung genücht mir, dann könn‘ wir die Anker lichten. Knaster und Haifischbauch, dat wird scha man lustich wern!“

Es klingt wie eine Fabel, aber tatsächlich schafften es die Bergzwerge problemlos, unserem Piratenkapitän die Feinheiten der Tauchschiffnavigation zu vermitteln, während wir unser Material verluden und die letzten Eisreste von der Hülle kratzten. Es wurde auch Zeit, denn die Luftfeuchtigkeit ließ den Tunnel zur ‚Donnerkeil‘ immer weiter zufrieren, was uns recht gelegen kam, denn wir hatten nicht vor, hier unten alles zu überfluten, wenn wir die Verbindung zum Finsterwasser wieder herstellen würden. Ǿle quetschte sich als letzter noch durch den recht eng gewordenen Eistunnel zurück zu seinen Freunden, Minuten später hätte schon kein Einhörnchen mehr hindurchgepasst. Als sich der Zugang endgültig geschlossen hatte, nahmen wir unsere Plätze im Schiff ein (wobei wir ziemliche Mühe hatten, den Schweinsbarbaren durch die Luke zu quetschen) und Obstip machte alle Schotten dicht. Jetzt begann Omar Al Djahid in seiner bequemen Kammer unter dem Wasserkessel, richtig einzuheizen. Dampf schoss aus den Antriebsdüsen, die Maschine lief an, am Heck rotierten die Antriebsschrauben und die letzte Eisbarriere zum offenen Wasser brach durch die Vibration in tausend Stücke. Es gab einen Ruck, die ‚Donnerkeil‘ schüttelte sich wie ein erwachender Kanaldrache, dann schwammen wir frei im offenen Wasser. So begann die nächste und, was wir noch nicht wussten, bizarrste Etappe unserer Reise.

Etwas gewöhnungsbedürftig war es schon, zusammengepfercht in diesem Metallsarg zu sitzen, der durch das unterirdische Kanalsystem des Flusses Finsterwasser steuerte, aber wir ertrugen es mit einem gewissen Fatalismus und jeder Menge schwarzen Humors. Was blieb uns auch anderes übrig. Zuerst hatte unser Kapitän etwas Mühe, in der doch noch recht reißenden Strömung den Kurs zu halten, zweimal schrammten wir knirschend an der Tunnelwand entlang (was uns erschrocken zusammenfahren ließ), aber dann wurde aus dem heftigen Rütteln ein sanftes Schaukeln und Minus, der durch ein kleines Periskop geblickt hatte, meldete: „Flussbett zu flach zum Tauchen, wir schwimmen. Hoi, dascha man ein doller Ausblick hier. Nummer eins, wir geihn unner diesen Umständen in den ‚Vergnügungsdampfer-Modus’. Houch mit dem Verdeck!“

Über unseren Köpfen quietschte es und die Hutzendamen stießen spitze Schreie aus, als sich dort ein breiter Spalt abzeichnete. Aber kein Wasser kam herein, wie sie mit Sicherheit befürchtet hatten. Stattdessen ließ Herr von Kolon die beiden Teile der Rumpfabdeckung nach links und rechts zur Seite klappen, so dass wir nun alle wie auf einem Sonnendeck im Freien saßen und das atemberaubende Panorama genießen konnten.

Das Finsterwasser mäanderte hier breit und mit kaum wahrnehmbarer Strömung durch eine Serie höchst wundersamer Grotten. Pfeiler aus schwarzem Eisen stützten kilometerhohe Decken, Leuchtquallen in allen Farben des Regenbogens bildeten Ornamente aus buntem Licht. Auch fliegende Glühkäfer gab es hier, deren Hinterleib neonblau pulsierte und phellpes strahlendweißes Haar in unnatürlicher Helligkeit aufscheinen ließen. Amanda bleckte die Zähne, auch sie blitzten blendend unter ihrer Strubbelfrisur hervor.

Dann sahen wir die Edelsteine. Und das Gold.

Überall war es plötzlich. In breiten Adern zog es sich durchs Erz, in Körnern, Klumpen, Brocken jeder Form lag es auf dem Boden herum. Dazwischen immer wieder riesige Drusen, aus denen Opale, Rubine, Diamanten herausquollen wie aus überdimensionalen zerbrochenen Eiern. Schätze, wie sie kein lebendes Wesen sein eigen nennen konnte. Vermögen, mit denen man ganz Atlantis hätte aufkaufen können – nur so zwischendurch. Wir staunten und glotzten und konnten es nicht glauben. Aber keiner von uns kam auf die Idee, eine Pause einzufordern, um sich zu bedienen, auch ich nicht; warum – ich weiß es nicht. Vielleicht aus schierer Ehrfurcht vor der Masse der hier aufgetürmten Reichtümer und aus einer gewissen Scheu heraus, die unschuldige Schönheit dieser Märchengrotte durch meine Habgier zu entweihen. Jedenfalls trieben wir wie es uns schien, ewig dahin unter Decken aus buntem Nebel und Wänden aus hängenden Algenfäden, die im Hauch der Finsterbergbrise wie Tüllgardinen wogten und wehten. Leichter und immer leichter fühlten wir uns, die Expedition, unsere Reise, alles verblasste vor diesem mächtigen Gefühl der Freiheit und der grenzenlosen Euphorie. Ich lachte, als ich irgendwo von ganz weit weg die Stimme unseres Kapitäns hörte: „Katarakt voraus! Katarakt voraus! Mayday! Mayday!“, denn in diesem Augenblick, das wusste ich, würden unseren Hutzen Flügel wachsen. Und genauso war es.

Man sagt, Berghutzen könnten auf den Wolken wandeln. Und ich weiß jetzt auch, warum. In den Momenten höchsten Glücks geht eine Verwandlung mit ihnen vor, ich habe es selbst gesehen. Amanda breitete zwei Flugwerkzeuge aus, die langen metallenen Laubrechen glichen, Eaglechen bekam – natürlich – Adlerschwingen und phellpe flatterte mit zwei winzigen pinkfarbenen Engelsflügelchen von dannen. Kulla entfaltete zwei mächtige Schmetterlingsflügel und Zwarn, was hatte denn Zwarn da auf dem Rücken? Ein Paar schwarzgelackter Holzdinger, auf denen ‚Steinway‘ geschrieben stand, aber auch sie trugen die Hutze hinauf, heraus aus dem Schiff und zu einem von fünf Handgriffen, die an der Spitze, am vorderen Bugende und am Heck befestigt waren und die mir bisher noch überhaupt nicht aufgefallen waren. Jede der Hutzen packte an, und dann hoben sie die ‚Donnerkeil‘ aus dem Wasser, stiegen mit ihr nach oben in die farbigen Wolkendünste, hinein in eine Welt, die unseren Blicken bisher verborgen geblieben war.

Ein grellrotes Kanu, besetzt mit vierzehn flott rudernden Bergzwergen, rauschte an uns vorüber durch die Luft dahin. Am Bug saß ein Walross, die massige Gestalt träge an den Mittelspant gelehnt, und gab seiner Mannschaft durch eine ‚Flüstertüte‘ lautstarke Kommandos. Als es mit uns auf gleicher Höhe war, wandte es den Kopf. „Sind wir hier auf dem richtigen Weg?“ brüllte es herüber. „Wohin eigentlich?“ wollte ich antworten, aber es beschäftigte sich bereits wieder mit seiner Crew und zog es vor, uns ab jetzt zu ignorieren. Ein Schrank, eine Kommode. Eine Hexe auf einem Besenstiel. Ein Menschenjunge, an einem aufgespannten Regenschirm hängend. Musikalische Regentropfen, die ‚Raindrops keep falling on my head‘ intonierten. Professor Doktor Abdul Nachtigaller auf dem Nachtigallerator (Aha, dachte ich, da ist er also die ganze Zeit abgeblieben). Wir stiegen und stiegen. Durch Nordlichter. Durch dünne, dicke, graue, weiße, farbige Nebel. Stiegen wir überhaupt noch? Vielleicht fielen wir seit Stunden und merkten es gar nicht. Ach, egal. Germinator saß vor mir, griff sich ab und zu ein gebratenes Täubchen aus der Luft und verschlang es. Die Umrisse des Nattifftoffen und des Zwergpiraten waren nur undeutlich vorn in der Kommandokanzel zu erahnen. Sie wussten mit Sicherheit, wo es langging, da machte ich mir keine Sorgen. Hakuna matata. Mir war jetzt selbst zum Fliegen zumute. Beinahe hätte ich die Arme ausgebreitet und zu flattern begonnen im Rausch der unendlichen Weite, aber ein letzter Rest von Vernunft hielt mich noch zurück.

Wir passierten nun einen Regenbogen. Und seltsam. Immer wenn wir durch eine seiner Spektralfarben flogen, wechselte auch unser Gefährt die Farbe. Einmal war es blau wie der tiefste Ozean, dann wieder flammte es blutrot auf. Schlussendlich, als wir uns wieder von dem Phänomen entfernten, glänzte es goldgelb. Und so blieb es auch. Dann trieben etliche gläserne Kugeln vorbei, die im Luftstrom wie Seifenblasen auf und nieder tänzelten. Eine besonders große, das ist wirklich kein Scheiß, enthielt ein Podest mit vier alten Männern (oh Gott, schon wieder Menschen!) in seltsamen Uniformen, die auf noch seltsameren Instrumenten spielten und uns dabei zuwinkten.

Plötzlich war mir nach Singen zumute. Ein Lied war mir in den Kopf gesprungen, eines, das keiner von uns kannte, noch nicht einmal ich selbst. Ich musste es sofort zu Gehör bringen, bevor es mir wie ein Stück Seife entglitt. Also sprang ich auf die Füße, stellte mich theatralisch hin und begann:

In dem Meer,
wo ich geborn,
gab’s ne Welle, die
war richtig alt.
Und die sprach
Von einem Land,
dort sei jeder
durchgeknallt.

Darum zog
Ich schließlich los,
suchte lang, bis
ich es fand.
Dort im Reich
Der Phantasie
Liegt das schöne
Pepperland.

In dem quietschgelben U-Boot leben wir,
U-Boot leben wir,
U-Boot leben wir.
In dem quietschgelben U-Boot leben wir,
U-Boot leben wir,
U-Boot leben wir.

Meine Freunde
Kamen mit.
Und wir zogen fort
Mit flottem Schritt.
Ham dabei
Musik gemacht ...

Taderadam – taderam – taderam.
Taderadam – deram – deram- deram – dam.

In dem quietschgelben U-Boot leben wir,
U-Boot leben wir,
U-Boot leben wir.
In dem quietschgelben U-Boot leben wir,
U-Boot leben wir,
U-Boot leben wir.

Dort – eine Wolkeninsel, die eine feste Oberfläche zu haben schien. Unsere fünf Hutzen steuerten sie an, denn ich fürchte, so langsam wurden ihnen die Flügel lahm. Trotzdem setzten sie die ‚Donnerkeil‘ so sanft auf den Grund, dass fast keine Erschütterung zu bemerken war. Als das Quintett danach den Boden berührte und ebenfalls landete, lösten sich ihre ‚Flugwerkzeuge‘ in einem Schauer goldener Sternchen auf.

Germinator, die Arme voll Fliegender Fischbrötchen, kletterte kauend aus der Kabine. Es war mir ein Rätsel, wie er das fertigbrachte, ohne dabei die Hände zu benutzen. Auch Obstip, den Kapitän im Helmsitz mit sich tragend, kam nun würdig herangeschritten. Seltsamerweise schwebte er dabei einen Fußbreit über dem Boden, aber das war bei ihm ja nichts Ungewöhnliches. Fehlte nur noch Linora.

Sie war verschwunden. Wir suchten sie überall, aber ohne Erfolg. Sie hatte doch nicht etwa den Wunsch verspürt, während des Fluges auszusteigen? Ein entsetzlicher Gedanke, der jedoch zu einer Schlechten Idee passen würde.

Amanda zeigte auf ein windschiefes Ortsschild. „Vielleicht hat sie Angst gehabt, dass sie hier nicht willkommen ist“, fragte sie sich selbst halblaut. Mit frischer Farbe hingeschmiert stand dort nämlich „Traumland, Sektion Höchst Euphorisch. Alpdrücke und Schlechte Ideen nicht gern gesehen.“

Nun, das mussten wir uns unbedingt anschauen. Vielleicht hatten wir doch Glück und fanden Linora dort irgendwo. Hier, wo wir jetzt standen, war sie jedenfalls nicht.

Aus dem „Lexikon der erklärungsbedürftigen Wunder, Daseinsformen und Phänomene Zamoniens und Umgebung“ von Prof. Dr. Abdul Nachtigaller
Traumland, das: Entgegen der Ansicht vieler gelehrter Zamonier existiert das Traumland, oft auch „Schlummerland“, „Pepperland“ oder „Wunderland“ genannt, tatsächlich. Messungen mit dem Nachtigallerschen Traum-Enzephalographen haben eindeutig ergeben, dass es in einer abgeschotteten Dimensionsblase liegt, einer Art „Welt in der Welt“, die nur für Wesen im tiefsten Tiefschlafzustand erreich- oder kontaktierbar ist. In diesem Gebiet sind sämtliche Naturgesetze auf den Kopf gestellt, das Prinzip von Ursache und Wirkung wird aufgehoben. Tanzende Wiener Würstchen sind genauso gut anzutreffen wie echte Butterberge und Birnen, die sich bei Berührung in Leuchtmittel verwandeln.
Das Traumland hat keinen Sinn, es braucht auch keinen, denn es ist völlig zweckfrei und ganz den Launen seiner Bewohner und Besucher unterworfen. Karten zu zeichnen würde hier nichts nützen, da es sich ständig verändert.
Sollte es irgendwo einen Zugang zur Mitte Zamoniens geben, dann nur hier. Bereits mein geschätzter Kollege, der noch recht unerfahrene Eydeet Ezekiel Gänseril, schrieb: „Dort im Traumland steht angeblich der Brunnen der Wünsche. Und nur derjenige, der ihn findet, so sagt man, kann Einlass zur Mitte Zamoniens erlangen, denn der vertrocknete Geist findet noch nicht einmal den Weg in seinen Vorgarten. Bitte schön, das macht mir nichts aus. Lieber belausche ich das Nattifftoffengras, als mich mit solchem Firlefanz abzugeben.“

Ein Zugang zur Mitte Zamoniens? Interessant.

Omar Al Djahid konnte sich jetzt eine wohlverdiente Ruhepause gönnen. Natürlich schärften wir ihm ein, nicht mit anderen Bewohnern dieser Region davonzufliegen, man kann bei diesen sprunghaft-flackerigen Feuerwesen ja nie wissen, was ihnen als nächstes in den Sinn kommt. Und dann stiefelten wir los.

Die Luft hier oben war kühl und angenehm feucht. Als erstes trafen wir auf einige Saure Gürkchen, die im Verein mit diversen Meerrettichknollen einem auf einem Hügel stehenden Gummibaum zustrebten. Jetzt kamen noch Lauchstangen, Mohrrüben und prächtige Sellerie dazu, eine ganze vegetarische Lawine hüpfte und rollte da an uns vorbei. Eine saftige Tomate trat dem Schweinsbarbaren in den Weg, betrachtete prüfend seine Wampe und meinte: „Freund, du solltest dich gesünder ernähren. Mehr Obst und Gemüse, würde ich sagen. Magst du mal von mir kosten?“

„Kaan Problem“, mampfte Germinator mit vollen Backen. „Wird alles gern genomme. HAAAPS.“
„Wenn du nachher die Güte hättest, dein großes Geschäft hinter jenem Busch dort zu verrichten“, drang es noch aus seinem Maul. „Meine Kerne würden es dir danken.“
„Scho rescht. Mach isch doch glatt.“

Der Platz um den Gummibaum war brechend voll. Lebende Baum- und Feldfrüchte aller Art drehten sich hier im Tanz. Ein höchst kulturell und ernährungsphysiologisch wertvoller Anblick, gewiss, aber unsere Schlechte Idee war nirgends zu entdecken. Also weiter.

Wir wanderten durch Erdbeerfelder, Asphodeloswiesen und Schwarzwälder, wo uns Schinken und Kirschtorten tückisch vom rechten Weg abzubringen versuchten. Aber kaum dass sie ihre kalorienhaltigen Nasen aus dem Dickicht streckten, hatte Germinator die Gefahr bereits im Griff und beseitigte sie gnadenlos. Obstip langte derweil in eine Informationsbox, entnahm dieser einen praktischen Reiseführer und entfaltete die hinten eingeheftete Landkarte, stellte jedoch fest, dass der Bogen völlig leer war. „Okay, ich gebe es ja zu, das Lexikon des Herrn Professor hat wieder einmal die Wahrheit gesagt“, maulte er. „Kartographen und Landvermesser sind hierzulande wohl eine ausgestorbene Spezies. Moment mal, das könnten wir aber auch anders regeln.“

Er zog einen Markierstift aus seiner Brusttasche und begann, das leere Papier vollzukrickeln. Augenblicklich veränderte sich die Landschaft in unserem Blickfeld und wir standen am Rand eines Meeres aus gewaltigen Häuserblöcken. Man hätte glauben können, wir seien in Atlantis gelandet, wären nicht die Straßen dazwischen so sauber und ordentlich gewesen, wie nur eine Toffokratie sie hervorzubringen vermag.

„Herr von Kolon, musste das unbedingt sein?“ beschwerte sich jetzt Eaglechen, der dem Anblick offensichtlich nicht das Geringste abzugewinnen vermochte. „Tropischer Dschungel ja, gern und jederzeit, aber mit dem Dschungel der Großstadt will ich so wenig als möglich zu tun haben! Basta!“

„Es lässt sich leider nicht mehr ändern“, entschuldigte sich Obstip. „Dokumentenechte Farbe.“

Er vertiefte sich wieder in sein gezeichnetes Wegenetz, dann zeigte er mit dem Finger nach vorn und meinte: „Ähem, wir müssen geradeaus durch den Blackberry Way, vorbei am Mac Arthur Park, dann an der Penny Lane rechts abbiegen. Durch die Baker Street, unter dem Boardwalk durch und zuletzt 100 Meter die Razor Blade Alley entlang – und schon haben wir es hinter uns.“

Also gut, wenn es denn sein musste ...

Mir ist bis heute schleierhaft, wie man sich in einer selbsterdachten Stadt verlaufen kann, aber es gelang uns grandios. Nach zehn Minuten standen wir in einer Sackgasse.

„Ich habe euch gleich gesagt, wir hätten am Hotel California linksherum gehen sollen!“ schnaufte Kulla ärgerlich und stützte sich schwer atmend auf ihr Paddel. „Herr von Kolon, geben sie den Plan mal her.“ Sie griff zu und erwischte die Karte an einer Ecke. Da Obstip jedoch im gleichen Moment den Reiseführer an sich riss, passierte es.

RATSCH! Das Werk des Nattifftoffen bestand nun aus zwei Hälften. Aber das war jetzt unser geringstes Problem, denn mit den Häuserzeilen geschah dasselbe. Unerwartet tat sich unter unseren Füßen ein breiter, unendlich tief erscheinender Spalt auf.

Natürlich sind wir abgestürzt, was haben Sie denn geglaubt?

Wir würden heute noch schreiend in der Luft hängen, hätte nicht Zwarn geistesgegenwärtig „Fallschirm!“ geschrien. Plötzlich hielt jeder von uns einen bunten, aufgespannten Regenschirm in der Hand. Die Dinger waren hier wohl äußerst beliebt, schließlich hatten wir ja vorhin bereits solch einen mutigen Segelflieger beobachten können.

Sanft schwebten wir abwärts und landeten endlich auf einem schmalen Pfad, der in leichtem Zickzack durch eine nachtschwarze Schlucht zu führen schien. Links und rechts von uns ragten senkrechte Felswände auf, so hoch wir blicken konnten. Nur weit in der Ferne schimmerte uns warmer, freundlicher Lampenschein, quasi ein Licht am Ende des Tunnels, entgegen.

„Da müssen wir doch hoffentlich hin, nicht wahr?“, fragte Kulla flüsternd, und Minus antwortete ihr aus der Höhe seines schaukelnden Sitzes: „Jou, min Deern, da hassu recht. Sicherer Hafen voraus. Ich riech schon den Rhumm in den Kneipen und das billije Parfüm der … äh … Schauerleute.“

Leider näherten wir uns der Lichtquelle weit weniger schnell, als wir gehofft hatten. Stundenlang trabten wir dahin ohne Rast und ohne das Gefühl, müde oder hungrig zu werden. Sogar von Germinator hörte man nicht mehr als das gelegentliche Zischen eines Darmwindes, aber das waren wir ja gewohnt. So ging es dahin, und ohne es zu merken überschritten wir die Mitternachtsgrenze, hinein in den nächsten Tag.
Andray DuFranck
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Re: Expedition in die Tiefen der Nachtschule

Beitrag von Andray DuFranck »

EXPEDITIONSTAGEBUCH
„Reise in die Tiefen der Nachtschule bis zur Mitte Zamoniens“

12. Tag

Es kam mir so vor, als wanderten wir, von oben aus der Unendlichkeit kommend, auf einer klassischen Hyperbel asymptotisch der positiven X-Achse zu. Irgendwann, nach scheinbar endlosem auf-der-Stelle-treten, erreicht man einen Punkt, ab dem man sich schneller zu bewegen scheint, als es einem die Sinne mitteilen. Jetzt rasten wir geradezu in Richtung des Lichtes, kaum noch zehn Schritte, dann waren wir da.

Mitten in der Schwärze schimmerte eine kleine Lichtung aus saftiggrünem Gras, in deren Mitte ein Brunnenbecken eingelassen war. Dort, zwischen den Trümmern zerbrochener Träume, wuchsen Schlafmohn und Roter Fingerhut in verschwenderischer Fülle. Dies musste er sein, der Brunnen der Wünsche. Ich war mir deshalb so sicher, weil eine in diesem Moment hochklappende, pfeilförmige Leuchtreklame mit verstörender Blendkraft und in unübersehbarer Schrift auf das Mirakel hindeutete.

‚So weit war die Reise, so nah ist das Ziel‘. Diese Weisheit des Kinder- und Jugendbuchautors Dreiroß Lupfteer drängte sich mir auf, als wir uns erschöpft rings um das Wasserbecken lagerten und uns ein wenig erfrischten. Okay, wir hatten also unser Zwischenziel erreicht, das angebliche Tor zur Mitte Zamoniens. Aber was nun? Musste man etwas hineinwerfen? Kleingeld? Getragene Unterwäsche? Gar ein Opfer, warm und zappelnd noch? So ein Ärger. Wo war denn hier bloß die Gebrauchsanweisung?

Da, auf dem Brunnenrand schien eine kleine Messingtafel angeschraubt zu sein, uralt, moosüberwachsen. Mit Hilfe meines Taschenmessers legte ich sie vorsichtig frei, entfernte die Schmutzreste und entzifferte mühsam die in altzamonisch gehaltene Aufschrift: ‚Gestiftet von Fa. Tand & Tinneff, Theater-Requisiten aus Zweiter Hand, Dullsgard.’ Unverschämtheit! War dies vielleicht der abgestandene Flachwitz eines höheren Wesens, das nichts anderes im Sinn hatte, als mich ständig lächerlich zu machen? Wenn dies wirklich das Werk eines Großen Träumers gewesen sein sollte, dann hoffte ich, ihm einmal Auge in Auge gegenüberstehen zu dürfen -– und dann würde ich ihm eins in die blöde Fresse hauen!

Obstip, der mir interessiert zugeschaut hatte, pustete inzwischen ein zweites Messingschildchen dicht neben dem ersten sauber. „Dies scheint mir etwas informativer zu sein, Herr DuFranck“, stellte er nach intensiver Benutzung seines Vergrößerungsglases fest. „Hier steht: ‚Dieser Brunnen akzeptiert EINEN Wunsch.“

„Oh, brima“, freute sich unser Schweinsbarbar. Er beugte sich über den Schacht und schrie mit voller Lautstärke: „Pommes rot-weiß bis zum Abwinke!“
Nichts geschah.
„En schääne Gruß an de Chefkoch, ich hab Hunger. Was issen des für e Sauwertschaft?“
Nichts geschah.
„Werd’s ball odder muss isch noochhelfe?“
Er warf einen Steinbrocken ins Wasser. Nichts geschah.
„Scheiß-Wunnerland“, maulte unser gefräßiger Freund. „Wo mer aach hinkimmt kabutte Attrakzione un kaan Handwerker zu finde, der wo was rebariern kann. Mer könnt grad saache, isch bin met de Gesamtsiduazion unzefriede!“

Wir hingen fest. Es war zum Mäusemelken.

„Könnte es sein, dass wir uns als Gruppe auf einen einzigen Wunsch einigen müssen?“, schlug Zwarn halbherzig und mehr aus der Verzweiflung heraus vor. Amanda sprang auf.

„Danke, Mädel“ schrie sie. „Natürlich! Ein gemeinsamer Wunsch, das schwebt mir schon die ganze Zeit lang im Hinterkopp rum! Prima, dass du mich wieder drauf gebracht hast!“

„Ich würde eher sagen, Zwarn hatte die Idee, nicht du“, fuhr Kulla die Genossin leicht genervt an. „Mit anderer Leute Darmgasen stinken gehen – das haben wir gern. Pöh!“ Sie verschränkte beleidigt die Arme über der Brust und wandte sich ab.

„Aber aber, wer wird denn vergiften den Tag mit solch hässlicher Rede“, drang da plötzlich eine brüchige Stimme hinter einer geborstenen Säule hervor. Ein gebeugtes Männlein, angetan mit erdfarbener Kutte und gestützt auf einen knorrigen Ast, wackelte in unsere Runde. Dort, wo das Gesicht sein sollte, quoll aus der tief heruntergezogenen Kapuze nur ein gelblichweißer Rauschebart hervor.

„Einigen ihr müsst euch“, krächzte der Wicht gebieterisch. „Aber keinen törichten Wunsch der Brunnen akzeptieren wird, selbst wenn noch so sehr knurrt der Bauch.“ Er warf einen strengen Blick auf Germinator, der den Satz „Awwer Pommes rot-weiß esse mer doch all gäärn“ mit Sicherheit bereits auf der Pfanne gehabt hatte.

Obstip stellte sich bolzengerade hin und stemmte die Arme in die Seiten. „Oho, haben Sie hierorts irgendwelche amtlich beglaubigten Befugnisse?“ fuhr er unseren Besucher er in scharfem Tonfall an. „Wer sind Sie denn überhaupt, dass Sie glauben, uns hier Vorschriften machen zu dürfen?“

Der verhüllte Wicht ließ sich davon jedoch in keinster Weise aus der Ruhe bringen, sondern drohte dem Nattifftoffen stattdessen in altväterlicher Manier mit der improvisierten Krücke. „Aaaaah ... für klug hältst dich und doch ist so leer dein Kopf, dass rascheln darin die papiernen Phrasen“, knarzte er. „Etwas mehr Respekt vor dem Alter, besser stünde dir das zu Gesicht. Und helfen, das kann ich dir. Dir und deinen Freunden, denn stark ist die Mark in euren Taschen ... öch, öch ... äh ... schwarz ist die Nacht in euren Klassen, dies sagen wollte ich. Aber bitte, wenn verstockt ihr seid und annehmen wollt keine Lehre, dann selbst der beste Rat von unsereinem nur edle Saat auf taubem Acker ist. Übrigens ... Pesa Naidni mein allerwertester Name lautet, und Trinkgelder ich gern entgegennehme.“

Der Tattergreis wedelte mit einem Blechteller unter unseren Nasen herum und war erst zum Rückzug zu bewegen, als ich den letzten Pyra aus meinem Geldbeutel fummelte und an ihn spendete. „Hoffentlich versäuft er es nicht, sondern kauft sich ein Stück Seife dafür“, murmelte ich vor mich hin. „Puh, der hat wohl seit Jahrzehnten schon nicht mehr gebadet.“

Pesa Naidni ging daraufhin ein Stück zur Seite (sein Geruch leistete uns trotzdem noch eine Weile Gesellschaft), lehnte sich gegen einen Felsen und vertiefte sich in ein farbiges Hochglanzmagazin, welches er aus einer Steinspalte hervorzog. Ab und zu warf er gelangweilte Blicke in unsere Richtung, aber ich war mir sicher, dass er ungeachtet seiner offen zur Schau getragenen geistigen Abwesenheit die Lauschorgane unter der Kapuze bis zum Gehtnichtmehr spitzte.

„Wenn der olle Knacker sagt, dass ich recht habe, dann habe ich recht“, stellte Zwarn noch einmal fest. „Meine Idee ist sogar so gut, dass es selbst eine normalerweise untadelige Hutzenschwester (sie blickte Amanda verärgert an) wagt, sie mir zu stehlen. Nun, schieben wir diese Unverschämtheit fürs erste beiseite und denken lieber gemeinsam nach. Egoistische Wünsche nach Geld, Gut und Fressalien scheiden also schon mal völlig aus. Okay, wir könnten uns ja auch in die Nachtschule zurückwünschen, aber so ohne Linora – ich fürchte, das wäre eine GANZ schlechte Idee.“

Wir schauten uns an, wie vom Blitz getroffen. Zwarn hatte ausgesprochen, was sich jeder von uns tief in seinem Herzen wirklich wünschte. „LINORA! Wir wollen Linora wiederhaben!“ schrien wir unisono.

Das letzte, was ich dann noch bewusst wahrnahm, bevor weißneblige Tentakel uns alle ergriffen und mit unwiderstehlicher Gewalt in den Brunnenschacht hineinzerrten, war das sogar unter dem Bart sichtbare breite Smirken von Pesa Naidni.

Tiefste Dunkelkammerschwärze. Etwas polterte wie Donner und ohrenbetäubend herumrollende Metallfässer. Das Jaulen überstrapazierten Blechs mischte sich mit dem entsetzlichen Geräusch knickender Spanten und explodierender Kesselwände. Und dann ... endlich ... Grabesstille.

Ich lag auf kaltem Felsen inmitten einer weitläufigen, kahlen Grotte. Mein Wasserkopf schmerzte entsetzlich und der Geschmack im Mund ähnelte dem eines gekochten Bettvorlegers oder dem Boden eines Vogelkäfigs. Langsam zwängte ich die Augenlider hoch und richtete mich auf.

Das erste, was ich sah, war Linora. Nur wenige Schritt von mir entfernt, hingestreckt, aber sie atmete tief und gleichmäßig. Offensichtlich schlief sie. Ein lauter Rülpser hinter mir zeigte jetzt an, dass auch Germinator noch am Leben war. Und Obstips kultivierte Stimme, die „Justitia hilf, welch ein über alle Maßen ungewöhnlicher Traum!“ intonierte, gefolgt von einigen deftigen Flüchen des Zwergpiraten, klang wie Musik in meinen Ohren. Dann kraischten fünf Hutzen gleichzeitig los: „Kikerikiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiie.“

„Hey Zwarn, ich war heute mit Wecken dran, nicht du!“
„Hihi. Ich hab gedacht, ich wär dran. Hihi. Ganz schön laut war das, nicht wahr?“
„Äh, ich glaub, wir haben Glück gehabt, dass die Höhlendecke noch dran ist.“
„Unsensible Hutzenweiber! Ich hab mir vor Schreck beinahe ins Fell gepisst. Außerdem bin ich sicher, dass laut Plan ICH heute Weckdienst habe!“
„Adler, halt die Klappe, wenn du nachher noch was zu essen kriegen willst. Frauen haben grundprinzipiell immer recht!“
„Worauf du einen lassen kannst, Kulla. Ach fickt euch doch.“

Ich half Linora auf die Füße und schaute mich dann neugierig um. Wo waren wir? Wo war das Tauchschiff? Ratlos sahen wir einander an. Hatten wir etwa alle etwa dieselbe Vision geteilt?

„Zwarn, du hattest Flügel. Und du, Amanda, auch. Und überhaupt ihr alle, ihr Berghutzen. Und dann waren wir in diesem völlig verrückten Traumland. Und da gab es diesen Brunnen …“
„Brauchst nicht weiterreden, Andray“, murmelte Kulla dumpf. „Wir waren dabei. Nur du, Linora, du warst weg. Wir haben dich gesucht. Was war los mit dir?“
„Erzähl ich euch später. Schaut mal lieber dorthin.“

Da lag die ‚Donnerkeil’, ganz in unserer Nähe, wie ein gestrandeter Wal auf der Seite. Sie würde wohl nie mehr fahren. Rohre und aufgerissene Hüllenbleche hingen wie Eingeweide aus ihrem zerfetzten Bauch heraus. Der Dampfkessel war ein einziges zerschmolzenes Inferno. Von Omar Al Djahid keine Spur. Weit und breit auch kein Wasser zu sehen, nicht einmal ein dünnes Rinnsal auf dem steinigen Grund. Wie war das Schiff nur hierhergekommen? Wieder so ein unerklärliches Rätsel.

Jetzt stapfte Germinator herbei. Zuerst schüttelte er traurig den Kopf über den irreparablen Zustand dieses wundersamen Produktes eydeetischer Erfindungsgabe, dann jedoch besann er sich und warf einen fachkundigen Blick auf die Luke zum Laderaum, in dem hoffentlich noch unsere Ausrüstung lagerte. Der Verschlussmechanismus war unter dicken Korrosionsausblühungen kaum mehr zu erkennen. Als der Schweinsbarbar daraufhin den Hammer aus dem Gürtel zog, fielen mir die unübersehbaren Dreckwolken auf, die sich dabei aus seinen Kleidern wälzten. So, als habe er monatelang regungslos hier gelegen. Und, soweit ich jetzt erkennen konnte, war dies bei uns allen der Fall. Vor allem die Hutzen niesten und schüttelten sich wie Staubwedel. „Nennt mich von nun an ‚Swiffer’“, schniefte Eaglechen. „Wenn ich nicht sofort einen Rotzlappen bekomme, werde ich WIRKLICH sauer!“

Wie lange, zum Geier, befanden wir uns denn schon hier? Den Schmutzablagerungen nach mussten es Monate, wenn nicht Jahre sein. Trotzdem hatte uns kein Nahrungsmangel dahingerafft. So langsam wunderte ich mich an diesem Ort über gar nichts mehr. Daher ließ ich das Sinnieren sein und half lieber unserem Träger, die Ladeluke zu öffnen. Bereits nach drei vorsichtigen Hammerschlägen (‚vorsichtig‘ natürlich nur für einen Schweinsbarbaren) bröselte der Riegel weg wie ein morscher Keks und wir konnten den Deckel aufzerren.

Ein bestialischer Gestank nach Schimmel und Fäulnis schlug uns entgegen. Der gesamte Laderaum samt Kisten und Rucksäcken war mit einer schwarzen, stockfleckigen Schicht bedeckt. Alle Metallteile – angelaufen. Alle Lederoberflächen – verpilzt. Nur Obstips Ausrüstung bildete eine Ausnahme. Die lag wie neu in einer Ecke und zeigte keinerlei Auflösungserscheinungen.

„Das kommt davon, wenn man für eine solche Unternehmung Standard- anstatt Qualitätsware erwirbt“, meinte der Toffe süffisant. „Nun gut, schauen wir nach, was von den Sachen noch brauchbar ist.“

Kulla befeuchtete ein Tuch, band es sich vor den Mund und kletterte in das ekelerregende Gelass. Eines nach dem anderen brachte sie die Gepäckstücke wieder an die frische Höhlenluft. Zuallererst bargen wir die Notapotheke, glücklicherweise war sie in einem wasserdichten Beutel. Ein darin befindliches Fläschchen mit Desinfektionsmittel half uns, die ärgsten Schimmelkrusten auf Trageriemen und Schulterpolstern zu beseitigen. Kulla wühlte inzwischen in den Resten der Kochkiste herum, deren unbeschreiblich ekelerregenden Zustand ich hier um keinen Preis der Welt schildern möchte. Mit Triumphgeheul barg sie aus der untersten Tiefe der zu Faulschlamm vergorenen Vorräte eine schwärzlich verfärbte Blechdose und schwenkte sie herum wie einen Siegerpokal. „Ich hab die Zimtbüchse gerettet. Alles wird gut!“, schrie sie voller Erleichterung.

Ich interessierte mich inzwischen mehr für die Trümmer der Dampfmaschine, denn ich fragte mich besorgt, welches Schicksal wohl den Feuerdämon ereilt hatte. Unter Minus‘ fachlicher Anleitung durchsuchten wir die verdrehten Röhren und die völlig zerdrückte Brennkammer, doch wie ich befürchtet hatte, war hier kein Glutfunken mehr zu entdecken. Stattdessen hing da ein schwarzes Ei aus Vulkangestein, eingeklemmt im Gewirr von Drähten und Leitungen. Als ich es herausgepuhlt hatte und prüfend mit einem Metallstück daraufklopfte, pochte von drinnen etwas zurück.

Beinahe hätte ich das unheimliche Ding vor Schreck fallen lassen. Aber Obstip, der mich beobachtete, griff noch rechtzeitig zu und verhinderte, dass es Schaden nahm.

„Sie können sich wohl denken, was das ist, nicht?“, fragte er. „Nein? Nun, dann kann ich Ihnen mit Erleichterung bekannt geben, dass es sich höchstwahrscheinlich um unseren Freund Omar in verkapselter Form handelt.“

Aus dem „Lexikon der erklärungsbedürftigen Wunder, Daseinsformen und Phänomene Zamoniens und Umgebung“ von Prof. Dr. Abdul Nachtigaller
Bengalischer Feuerdämon (Forts.): Bengalische Feuerdämonen verfügen, zusätzlich zu ihrem effektiven Angriff, auch über eine höchst wirksame, jedoch gewissermaßen 'endgültige' Verteidigungsmethode. Spüren sie überwältigende Gefahr oder sehen sie sich dem langsamen Tod durch Ausbrennen auf Grund von Nahrungsmangel gegenüber, 'verkapseln' sie, indem sie auf einen Schlag fast all ihre Hitze ausstoßen und sich in ein eiförmiges Gebilde aus Basalt umwandeln. In diesem Zustand können sie, wenn es sein muss, Jahrhunderte überstehen. Kontakt mit Lava, Magma oder einem Artgenossen erweckt sie jedoch in kürzester Zeit wieder zum Leben.

„Wir werden ihn mitnehmen und, sobald wir die Gelegenheit dazu haben, aus seinem steinernen Gefängnis befreien“, entschied ich ganz selbstverständlich. „Er hat es nicht verdient, dass wir ihn hier zurücklassen.“

Darin stimmten alle mit mir überein. Sogar Amanda und Eaglechen machten keine Ausnahme.

„Zum Frühstück gibt’s kalte Finsterbergalge auf Eisenwand“, verkündete jetzt Kulla. „Möchte jemand etwas Zimt dazu?“
„Oh, Schwesterlein, du bist witzig. Übertreibst du’s nicht ein bisschen, hihi?“
„Küchenbanausin. Pöh!“
„Pöh zurück, hihihi“
„Ich geb Dir gleich Pöh! Du kannst mich mal am Pöh lecken! Überkandidelte Blondhutze!“
„Blond? Seit wann bin ich denn wieder blond? Oh tatsächlich. Du hast Recht. Wie ist denn das nu wieder passiert?“
„Grummelbrummel, ich tippe da mal auf Inkontinenz. Pöh.“
„Bleib mir vom Leib mit deinen Befremdlichwörtern. Ich geh jetzt jedenfalls was lutschen. Einmal Finsterbergalge am Stiel, bitte.“
„Urrrrgh! Phellpe, also bitte!“
„Hihi.“

Nachdem wir die metallisch schmeckende ‚Köstlichkeit’ zur Genüge abgegrast hatten, machten wir uns auf die Suche nach Leuchtquallen. Viele gab es hier nicht, aber es reichte, um die Lampen zu füllen. Leider produzierten unsere inzwischen recht faulig riechenden Energiepillen bei den Mollusken keine bedeutende Leuchtkraftsteigerung mehr. Offensichtlich hatten auch sie Feuchtigkeit gezogen. Meine Gelatinekapseln, wasserdicht verpackt, waren jedoch noch voll wirksam.

Der Nattifftoffe band nun seine Laterne an den Degenstock und hob sie möglichst hoch, um einen weiten Lichtradius zu erzielen. Allmählich schälte sich aus den entfernten Schatten die Silhouette einer Befestigungsanlage heraus, vielleicht eine Burgmauer oder ein kleines Kastell. Dies erschien uns noch am relativ interessantesten, verglichen mit den endlosen Weiten der Höhle, also hielten wir darauf zu.

Schon bald spürten wir kleine Steine, Kies vielleicht oder Schotter, unter unseren Füßen. Ein künstlich angelegter Weg offensichtlich. Und da war auch ein verwittertes Hinweisschild: ‚Offizieller Zugang zur Mitte Zamoniens. Andenken. Bunte Ansichtspostkarten.’

„Hm“, meinte Obstip mit leisem Zynismus in der Stimme, nachdem er die verblasste Schrift endlich entziffert hatte. „Ich glaube, diese Sehenswürdigkeit sollten wir uns nicht entgehen lassen.“

Aus dem „Lexikon der erklärungsbedürftigen Wunder, Daseinsformen und Phänomene Zamoniens und Umgebung“ von Prof. Dr. Abdul Nachtigaller
Mitte Zamoniens, die: Unter der ‚Mitte Zamoniens’ versteht man einen geographisch noch nicht festlegbaren Ort irgendwo auf oder unter der Oberfläche des Kontinents, eine hervorragend versteckte Enklave, um die sich zahlreiche Mythen und Legenden ranken und der die unterschiedlichsten Eigenschaften zugesprochen werden. So wird zum Beispiel behauptet, an diesem paradiesischen Plätzchen könne man Tote wieder zum Leben erwecken, Böse würden gut werden und man müsse sogar keinerlei Steuern bezahlen, also alles Dinge, die schlichtweg in den Dunstkreis der Märchen und Fabeln zu verweisen sind. Immer wieder gibt es daher Wagemutige, die versuchen, diesen Ort aufzuspüren, um ihren Namen ganz weit vorn in den Annalen der Forscher und Entdecker zu lesen. Bisher jedoch ohne jeden Erfolg.
Nach dem Nachtigallerschen Gesetz der Umgekehrten Proportionalität zwischen Erwarteten und Tatsächlichen Eigenschaften eines noch nicht definitiv erforschten Gegenstandes müsste die ‚Mitte Zamoniens’, so sie denn tatsächlich existieren sollte, eine muffige gemauerte Kammer mit einem geschmacklosen Beistelltischchen und einem leeren Gästebuch sein.

Zügig marschierten wir auf die Mauer zu und konnten bald die ersten Einzelheiten erkennen. Gewaltige Zinnen und trutzige Ecktürme begrenzten ein Vorwerk, welches selbst der entsetzlichen Legion der Kupfernen Kerle Ehrfurcht abgerungen hätte. Der hohe Bogen des Haupttores stand jedoch offen, die Zugbrücke war heruntergelassen.

Auf einem Schemel neben einer schmalen Holzbude hockte dort, ein buntes Druckwerk auf dem Schoß, schnarchend eine kleine Gestalt. Sie trug blaue Uniform und, wie ich im Näherkommen feststellte, auch die dazugehörige Schirmmütze (nebst Aufschrift ‚Native Guide’), die ihr Gesicht fast völlig verdeckte. Über das wenige, was noch unten herausragte, breitete sich ein gelblichweißer Rauschebart.

Vorsichtig schlichen wir näher und betrachteten das Wesen genauer. Ein silberglänzendes Schildchen, angepinnt an die Brusttasche, zeigte den Text:

HALLO!
Ich bin PESA NAIDNI
Bitte scheuen Sie sich nicht, mich anzusprechen.
Trinkgelder nehme ich gerne entgegen.
P.S.: Ich stelle mich nur schlafend, ihr Nassauer!

Plötzlich war da unter unseren Nasen ein Blechteller, der mir seltsam bekannt vorkam und … Moment mal … Pesa Naidni … hatte ich den Namen in letzter Zeit nicht schon irgendwo gehört? Er löste irgendwelche Erinnerungen aus, aber woran nur?

Nun gut, es würde mir schon wieder einfallen. Um das lästige Kerlchen loszuwerden, musste ich aber zunächst wohl oder übel etwas spenden – und das gestaltete sich unerwartet schwierig, denn in meiner Geldbörse befand sich noch nicht einmal mehr ein einziges Pyralein.

„Tut mir leid, mein Herr, aber wir sind völlig mittellos“, stammelte ich entschuldigend. „Wir haben bei einem ... ähem ... Unglück alles Geld verloren, was wir hatten.“

„Nicht glauben kann ich euch das“, knarzte der ‚Native Guide.’ „Ouuuh, Nattifftoffe dieser dort stinkt vor Reichtum, riechen tue ich es bis hierher. Und wenn wirklich kein Bares da, nicht so schlimm dies ist. Auch nehme an Naturalien, Kreditkarte oder Traveller-Schecks.“

Diese Stimme ... diese Stimme ... jetzt fiel endlich bei mir der Groschen. „Pesa Naidni, der Brunnenwächter!“, rief ich überrascht aus. „Wie kommen Sie denn hierher? Kennen Sie uns nicht mehr? Sie müssen sich doch an uns erinnern!“

„Aaaaaah ... jetzt besinnen tue ich mich auf eure Backpfeifengesichter“, krächzte der ‚eingeborene Führer.’ „Nur weiß nicht mehr, ob ihr billigen Teppich mir andrehen wolltet, schundigen Staubsauger oder überflüssiges Zeitschriften-Abonnement.“

Aussichtslos, mit diesem Wicht war nichts Sinnvolles anzufangen. „Themenwechsel. Was kostet der Eintritt?“, fragte ich mehr aus Gewohnheit, bereit, bei der Nennung eines unverschämten Preises sofort Germinator den Sturmangriff zu befehlen. Aber wieder erlebte ich eine Überraschung.

„Frei ist der Zugang hier, jaaaaaa. Zur Mitte Zamoniens nicht jedermann Einlass zu gewähren, ein Verbrechen wäre dies“, bekamen wir zur Antwort. „Nun, Trinkgelder und alte Rechnungen wir werden nachher begleichen. Jetzt ihr erst einmal reingehen und euch umsehen werdet, jaaaaaa.“

Während wir über die Brücke eilten, schlug Pesa Naidni das Druckwerk, einen Katalog des Schnellversandhauses ‚Gebr. Klotz und Protz, Florinth, Exklusivbekleidung für Superreiche‘ auf und vertiefte sich darin. „Oooooh, einen schönen neuen Kaftan ich wirklich brauchen könnte“, hörte ich ihn noch murmeln, als ich an ihm vorbeilief.

Die schöne Leserin und der geneigte Leser wissen, dass wir auf dem Weg hierher bereits manch verrückte und unglaubliche Umgebung erkundet haben. Aber dies war wieder etwas völlig neues. Ein Ort, der sich einfach nicht ‚echt‘ anfühlte, so als ob man in einem riesigen Bild spazierenginge. Wenn ich nach unten schaute, sah ich durch den semi-transparenten Boden hindurch auf gigantische Buchstaben herab, ein riesiger Schriftzug, weiß im unteren Viertel eines schwarzen Rahmens. Wir blickten uns neugierig um und ignorierten den Fremdenführer, der uns jetzt gemütlich hinterherschlenderte.

Üppiger Garten
Du stehst in einem bepflanzten Innenhof, wo sich Rosenbüsche und Kräuterhecken säuberlich um einen zentralen Brunnen herum anordnen. Den Garten umgibt eine hohe Mauer, in der zwei Ausgänge zu sehen sind: Nach Osten zur Zugbrücke und nach Westen zum Hauptgebäude. In der südwestlichen Ecke des Gartens befindet sich ein gemauerter Werkzeugschuppen.
Du siehst: eine Fußmatte
Du siehst: einen Blutschink (im Westen)
Pesa Naidni ist hier.
Die Expeditionsgruppe ist hier.
> nimm Fußmatte
Pesa Naidni haut dir auf die diebischen Griffel.
> Germinator, nimm Fußmatte
Pesa Naidni will Germinator auf die diebischen Griffel hauen, überlegt es sich aber im letzten Moment anders.
Germinator nimmt die Fußmatte.
Unter der Fußmatte liegt ein Schlüssel.
Germinator isst die Fußmatte auf. HAAAAAAAAAPS.
> w
Der Parser versteht Dich nicht. Versuche, den Befehl anders zu formulieren.
> Parser, reiß dich zusammen!
Okay, okay. Schon gut. Du gehst nach Westen

Hauptgebäude
Hier befindet sich, dem Aussehen nach zu urteilen, die ‚Mitte Zamoniens‘ Es ist ein beeindruckender Palast, bemalt mit wunderbaren Ornamenten und reich geschmückt mit Gold und Edelsteinen.
Du siehst: Einen Schlüssel (im Osten)
Du siehst: Einen Blutschink
Pesa Naidni ist hier.
Die Expeditionsgruppe ist hier.
> untersuche Blutschank
Das Wort ‚Blutschank‘ kenne ich nicht.
> oops Blutschink
Vorsichtig tastest Du Dich an den grimmig aussehenden Blutschink heran. Er bewegt sich nicht. Er besteht aus Pappe.
Germinator rülpst laut und unangenehm.
Phellpe kichert.
> w
Der Parser ver... Schon gut, schon gut. Du gehst nach Westen.
Rumms! Du knallst gegen die Wand des Palastes.
Du verursachst 47 Pyra Schaden, zahlbar spätestens beim Verlassen dieses Ortes.
> öffne Tür
Da ist keine Tür.
> betritt Palast
Ich sagte gerade, dass da keine Tür ist. Du kommst nicht rein.
> Scheiße
Du hast gerade geflucht. Fluchen ist hier verboten.
Du erhältst eine Strafe von 200 Pyra, zahlbar spätestens beim Verlassen dieses Ortes.
> Verfickter Scheiß-Wixx-Parser
Du hast gerade den Parser beleidigt. Beleidigungen sind hier verboten.
Du erhältst eine Strafe von 500 Pyra, zahlbar spätestens beim Verlassen dieses Ortes.
Beruhige dich und sei vernünftig, du machst sonst alles nur noch schlimmer.
> untersuche Palast
Der Palast besteht, genau wie der Blutschink, aus Pappe.
Die Expeditionsgruppe kichert.
Pesa Naidni kichert.
> Pesa Naidni, was geht hier vor?
Der Fremdenführer zeigt mit der Hand nach Südwesten.
Der Fremdenführer sagt: Was ihr denn hier wollt? Kommt von Kulissen weg, bevor noch mehr Schaden ihr anrichtet!
Der Fremdenführer sagt: Mitte Zamoniens dort hinten im Schuppen ist.
> o
Du gehst zurück nach Osten.

Üppiger Garten
Du siehst: einen Schlüssel
Du siehst: Einen Blutschink aus Pappe (im Westen)
Pesa Naidni ist hier.
Die Expeditionsgruppe ist hier.
> nimm Schlüssel
Schlüssel aufgehoben.
> untersuche Schlüssel
Ein ziemlich alter Schlüssel mit einem Anhänger: Geräteschuppen / Mitte Zamoniens.
Der Fremdenführer sagt: „Eilt euch. Mitte Zamoniens dort hinten im Schuppen ist.“
> sw
Alles um dich herum wird schwarzweiß. Ich seh' dir in die Augen, Kleiner.
> Parser, jetzt bau keinen Scheiß!
Kann man denn nicht einmal einen harmlosen Witz machen? Okay, du gehst nach Südwesten.

Vor dem Geräteschuppen
Dies ist ein unauffälliger, gemauerter Geräteschuppen. Er scheint schon sehr alt zu sein, älter vielleicht als die Burg um ihn herum. Du siehst eine Tür.
Die Tür ist verschlossen.
Pesa Naidni ist hier.
Die Expeditionsgruppe ist hier.
> öffne Tür mit Schlüssel
Der Schlüssel passt, aber er dreht sich nicht.
> Germinator, öffne Tür mit Schlüssel
Germinator sagt: „Tut mer laad, isch bin nur der Mann fürs Growe.“
> Amanda, öffne Tür mit Schlüssel
Amanda sagt: „Ach lieb dich doch!“
> Kulla, öffne Tür mit Schlüssel
Kulla sagt: „Pöh!“
> Phellpe, öffne Tür mit Schlüssel
Phellpe sagt: „Hihi. Keine Chance, Andray.“
> Zwarn, öffne Tür mit Schlüssel
Zwarn sagt: „Später. Muss zuerst meinen Dudelsack reinigen.“
> Obstip, öffne Tür mit Schlüssel
Obstip sagt: „Diese Ehre gebührt allein dem Herrn Expeditionsleiter.“
> Minus, öffne Tür mit Schlüssel
Minus sagt: „Dunnerschlach, ick komm niet ran.“
> Linora, öffne Tür mit Schlüssel
Linora sagt: „Schlechte Idee, fürchte ich.“
> Pesa Naidni, öffne Tür mit Schlüssel
Pesa Naidni sagt: „Na endlich. Ich schon gedacht habe, dass du mich nie fragen würdest.“
Pesa Naidni sagt: „Durchgang nur, wenn kein fremdes Eigentum mehr in eurem Besitz. Kleines feines Büchlein dort muss zu seinem Herrn zurückkehren. Ich das übernehmen.“
Pesa Naidni streckt die Hand aus.
> Obstip, gib Pesa Naidni das Buch
Der Nattifftoffe nimmt das Buch unter seinem Höhlenhelm hervor, wo es die ganze Zeit über sicher aufbewahrt war.
Der Nattifftoffe gibt Pesa Naidni das Buch.
Der Nattifftoffe sieht nicht besonders glücklich aus.
Der Nattifftoffe sagt: „Nun gut. Wie gewonnen, so zerronnen.“
> öffne Tür mit Schlüssel
Der Schlüssel dreht sich. Die Tür öffnet sich.
> betritt Geräteschuppen
Du betrittst den finsteren Geräteschuppen.
Die Expeditionsgruppe ist hier.
Die Tür fällt hinter euch zu. Klick.
Pesa Naidni ist draußen.
Pesa Naidni sagt: „Du jetzt mit dem Quatsch aufhören kannst.“

Brr. Was war denn das eben gewesen? Ich hatte mich wie eine Handpuppe im Kasperltheater gefühlt, ähnlich wie vor ein paar Tagen in der Gewalt des Zamomins. Nun ... nicht ganz so unangenehm. Aber gruselig. An der Reaktion der anderen sah ich, dass es ihnen allen ähnlich gegangen war. Das galt sogar für Germinator.

Wir standen im muffigen Dunkel. Wieder einmal.

„Das wird so langsam langweilig!“ maulte ich. „Wäre dies eine Geschichte, so würde ich den Autor wegen Ideenlosigkeit verklagen.“
„Warum drehst du nicht am Lichtschalter?“, fragte Linora. „Er ist direkt neben der Eingangstür.“
Glücklicherweise können Tratschwellen nicht vor Scham erröten. Sie gischten stattdessen zart aus den Ohren. Diesmal sprühte es allerdings so stark, dass phellpe und Kulla, die links und rechts neben mir standen, patschnass wurden.

Hastig tastete ich die grobe Mauer ab. Endlich, da war der kleine Hebel. Klick. Eine matte Quallenfunzel, die einsam an der Zimmerdecke hing, glühte auf. Wir hatten es geschafft. Wir standen in der Mitte Zamoniens.

Und ... was das Beste war: Das Lexikon lag falsch! Der berühmte, siebengehirnige Eydeet und geniale Wissenschaftler Professor Doktor Abdul Nachtigaller hatte sich geirrt. Denn das Gästebuch, das auf dem geschmacklosen Beistelltischchen lag, war gar nicht leer.
Ein einziger Name stand darin.
Ich entzifferte, wobei mir die Sinne zu schwinden drohten:
„Hier gewesen. Belangloser, öder Ort. Gezeichnet: Professor Doktor Abdul Nachtigaller.
P.S.: Hier könnte mal wieder Staub gewischt werden.“

Als ich das Buch an Obstip weiterreichte, fiel ein Briefumschlag heraus. ‚An den, der dies findet‘, stand in des Professors säuberlich-systematischer Handschrift darauf.
Neugierig öffneten wir das Schreiben und begannen zu lesen.


Liebe Nachtschülerin, lieber Nachtschüler,
durch emsiges Studieren und unermüdliches Forschen hast Du endlich hierher gefunden.
Zumindest hoffe ich dies, denn es wäre eine Schande, wenn ein Null-acht-fünfzehn-Zamonier diesen Ort hier nur durch unverdientes Glück oder blinden Zufall erreichen würde. Jemand anderem als mir selbst oder einem meiner Schüler traue ich eine solche Leistung sowieso nicht zu.
Nun, höchstens einem anderen Eydeeten vielleicht. Aber die sind, soweit mir bekannt ist, mit anderweitigen Forschungsaktivitäten beschäftigt.
Das Gesetz der Wahrscheinlichkeit trifft, auf lange Sicht gesehen, immer zu. Darum, ich wiederhole es:
Willkommen, Nachtschüler. Gut gemacht! Du hast Dich meiner Wissensbazillen würdig erwiesen und kannst damit anderen als leuchtendes Vorbild dienen. Es sei denn, Du bist ein Stollentroll. Dann möchte ich nichts gesagt haben.
Während Deiner Reise hast Du hoffentlich viele unbezahlbare Erfahrungen gesammelt und wertvolle Materialproben für zukünftige Forschungsaktivitäten zusammengetragen. Ich gehe davon aus, dass Du alles, was wichtig ist, großherzig der Schule stiften wirst. Den Schrott darfst Du gerne als Andenken für Dich behalten.
Ich muss mich jetzt beeilen, denn mein Nachtigallerator parkt draußen im Halteverbot. Darum nur noch ein letzter Rat: Leg Dich nicht auf die faule Haut. Lass Deine Erlebnisse der Grundstein sein für weitere, noch wichtigere Entdeckungen. Das Leben ist kurz, darum nütze jeden Tag aus, um Deinen Horizont zu erweitern.
Und nun trag Dich ins Gästebuch ein, zahl Deine Rechnung und benutz den Ausgang. Wir sehen uns irgendwann in der Nachtschule. Dein Abenteuer ist (fast) zu Ende.
Dein irgendwie doch stolzer Professor Doktor Abdul Nachtigaller, Schulleiter

P.S.: Jemand sollte darauf achten, dass meine Dunkelkammer nicht immer als Müllabladeplatz missbraucht wird. Sauladen!


Nach der Lektüre des Schreibens fühlten wir uns alle sowohl geehrt, als auch gleichzeitig liebevoll veralbert. Aber was hatte der Professor bitte mit ‚Rechnung bezahlen‘ gemeint? Und vor allem womit? Wir waren meines Wissens nach völlig klamm.

Also wieder hinaus, um mit Pesa Naidni über alternative Trinkgeldzahlungsmethoden zu verhandeln. Es gab da nur ein kleines Problem ...
„Äh, Andray“, hörte ich Linoras Stimme. „Es tut mir ja leid, das sagen zu müssen ... aber die Eingangstür ist weg. Da ist nur noch eine nackte Wand.“
„Wie bitte? Das ist nicht dein Ernst!“, fuhr ich herum. Doch es stimmte. Und der angekündigte Ausgang war ebensowenig zu finden. Wir waren gefangen wie Leydener Männlein in einer Glasflasche. Schöne Bescherung!

Und dann drängte sich plötzlich der kleine, bucklige Fremdenführer in unsere Mitte. Keine Ahnung, wie er den Weg hier zu uns herein gefunden hatte.

„Oper nur dann aus sein, wenn dicke Dame gesungen hat. Ich euch doch gesagt, dass erst Rechnung ihr bezahlen müsst!“, keckerte er und riss sich die Schirmmütze und den falschen Bart herunter. „Denn in Wahrheit bin ich ein getarnter Schuldeneintreiber, kähä! Showtime!“

Oh mein Gott! Es war IndianaSepp! Und er entrollte sogleich eine Liste von den Ausmaßen einer Tapetenbahn.

Dienstleistungen:
Suche nach im Labyrinth verschwundenen Expeditionsteilnehmern 100,00 Pyra
Suche nach Domestiziertem Dimensionsloch 500,00 Pyra
Rettung vor allzu besitzergreifendem Amazonenvolk 200,00 Pyra
Öffnen eines mit Felsen versperrten Tunneleingangs 150,00 Pyra
Allgemeiner Geleitschutz (Pauschale) 1500,00 Pyra

Bußgelder:
Beschädigung fremden Eigentums 47,00 Pyra
Fluchen in der Öffentlichkeit 200,00 Pyra
Beschimpfen des Parsers 500,00 Pyra

Sonstige Ausgaben:
Materialkosten 318,10 Pyra
Verdienstausfall 700,00 Pyra
Spesen 420,00 Pyra
Verpflegungsgeld 71,40 Pyra
Gebühr für Kostümverleih 12,50 Pyra
Rikschadämonenlohn 134,75 Pyra
Bezahlung für Damen des Dienstleistenden Gewerbes 969,69 Pyra
Rechnung Vährdeverleih 7,00 Pyra
Praxisgebühr 10,00 Pyra
Aufwandsentschädigung 210,00 Pyra
Kleinere Bestechungsgelder 3,85 Pyra
Mittlere Bestechungsgelder 217,40 Pyra
Großzügige Bestechungsgelder 2062,99 Pyra
Schuhsohlenabnutzung 0,85 Pyra
Parkgebühren 26,50 Pyra
Versäumniszuschlag 8,60 Pyra
Gefahrenzulage (Pauschale) 250,00 Pyra
Buschgeld 245,00 Pyra
Inflationsanpassung 1,20 Pyra
Rentenversicherung 177,23 Pyra
Extras 0,99 Pyra
Informationsbeschaffung 15,07 Pyra
Leihgebühr für einzigartiges Buch von Sigobertus Brünnenfeld 710,00 Pyra
Kaugummi 1,00 Pyra
10 Souvenir-T-Shirts (Aufdruck ‚Ich War In Der Mitte Zamoniens’) 200,00 Pyra
Trinkgeld 3999,00 Pyra
_________________________________________________________________________
Gesamtbetrag 13970,12 Pyra

Der Stollentroll hielt die gierige Pfote auf und smirkte: „Sofortige Barzahlung wäre genehm, die Herrschaften.“

Wütend schleuderte ich ihm mein leeres Portemonnaie vor die Quadratlatschen. „Sagte ich nicht gerade, dass wir keine Knete mehr haben?“, brüllte ich ihn an. „WIR PLEITE, DU VERSTEHN?“

„Oooooh, ich hatte schon gehofft dass ihr das sagen würdet“, antwortete er mit jeder Menge gespielten Bedauerns. „Denn jetzt muss ich leider ...“, er streckte die dreckigen Finger nach phellpe aus, „diese Junghutze als Bezahlung hierbehalten.“

Uns blieb die Luft weg, phellpe kiekste vor Empörung. „Nur über unsere Leichen!“ schrien wir im Chor und rüsteten uns innerlich für einen letzten Kampf. Das klingt zwar jetzt im Nachhinein ein wenig lächerlich, ich muss aber dazu anmerken, dass die körperliche Auseinandersetzung mit einem in die Enge getriebenen Stollentroll zu Recht von jedem vernunftbegabten Zamonier gescheut wird. Zwar weichen diese Schattenparasiten der Anwendung von Gewalt aus, wo es nur geht, aber sie sind zäh wie Frettchen, kennen alle üblen Tricks … und setzen sie, wenn es sein muss, auch völlig skrupellos ein. Und außerdem sind sie glitschig wie ein Aal im Vaselineglas.

„Immer mit der Ruhe“ erklang da die sonore, aber jetzt irgendwie resignierende Stimme unseres Nattifftoffen. „Herr Sepp soll sein Geld erhalten, wie er es wünscht. Ich hab da tatsächlich noch was.“
Überrascht schauten wir zu, wie er aus dem doppelt gesicherten Wertfach seines Rucksacks einen prall gefüllten Lederbeutel hervorzog. „Beutegut aus einem Schmadderer“, erklärte er. „Das müsste ein schöner Batzen Pyras sein.“

„Stimmt so“, rief IndianaSepp und grapschte nach dem Säckchen. Aber Obstip zog sofort reaktionsschnell die Hand zurück.

„Sie erhalten genau das, was Sie verlangen“, sprach er mit Bestimmtheit. „Und kein Pyralein mehr.“
Er schüttete den Schatz auf das Beistelltischchen. Kupferne, silberne, goldene und sogar platinene Pyras rollten über die Platte.

Obstip und Minus zählten das Geld langsam und gewissenhaft. „Genau 13970,12 Pyra“, erklärten sie endlich.

IndianaSepp schaufelte die kleinen Pyramiden in seine geräumige Kitteltasche. „Sag ich doch: Stimmt so“, meinte er befriedigt. „Und nun raus hier. Die Besuchszeit ist abgelaufen, kähä. Game Over.“

Er trat gegen die Rückwand des Kämmerleins. Knirschend schob sich ein Teil der Mauer zur Seite. Bevor wir ihm (theoretisch) ‚Lebewohl’ hätten sagen können (wonach in diesem Moment keinem von uns zumute war, eher nach anderen, direkteren ‚Abschiedszeremonien’ gesäßbläuender Art), witschte er in die Öffnung und verschwand in der Tiefe des zum Vorschein gekommenen Korridors. Bald verklang sein „Ich bin frei! Ich bin reich! Ich bin der Größte“ – Jubel in der Ferne.

„Wir sollten es dem wandelnden Achselschweiß gleichtun und uns auch da hineinverdrücken, Leute“, drängte Amanda. „Ich glaube nämlich, die Tür schließt sich wieder.“

Sie hatte Recht. In aller Eile quetschten wir uns also durch die immer schmaler werdende Öffnung, ich selbst als letzter, wobei ich darauf achtete, dass niemand versehentlich zurückblieb. Die Lücke war nun so eng, dass nur noch meine wässrige Gestalt hindurchpasste. Schnell hinein. Rumms. Klack-klack. Klappe zu, Affe tot.

„Die Quallenlampe funktioniert nicht!“, rief Obstip. „Herr Minus, aktivieren Sie bitte den Gedanken-Kristall.“
Alles blieb finster.
„Hilfe, ich bin blind!“, jammerte Linora.
„Keine Panik, die Herrschaften“ erklang jetzt Kullas Stimme in einem mütterlich-beruhigenden Tonfall, den ich noch nie zuvor bei ihr vernommen hatte. „Lichtaufsaugender Anstrich, würde ich sagen. Das hört sich nach Nachtigallerscher Tiefnachtfarbe an. Weitergehen, einfach weitergehen. Wenn der Prof meint, dass uns dieser Gang nach Hause bringt, dann stimmt das auch.“

Das klang vernünftig. Wir tasteten uns weiter vorwärts, ohne jegliches Zeitgefühl, minutenlang, vielleicht stundenlang. Dann rumpelte etwas an der Spitze unserer Karawane. Jemand war gegen Holz gelaufen.

„Hey, da iss e Schiebewand, wann isch misch net irr“, hörte ich die Stimme Germinators. Etwas quietschte, Luft strömte zu uns herein, die nach Salmiak und nassen Putzlappen roch. Und auch … nach Eulenmist.

Mir dämmerte etwas. Dieser Geruch kam mir irgendwie bekannt vor. Gleichzeitig gab es ganz vorn ein riesiges Tohuwabohu. Flaschen klirrten, Kleinmöbel fielen um, Eulen schuhuten und flatterten auf. „Iss schon gut“, schrie der Schweinsbarbar über die Schulter. „Isch bin nür üwwer en Seekist gefalle. Nix bassiert.“ Knarrend öffnete sich jetzt dort vorn eine zweite Tür. Gleichzeitig drückte etwas gegen meinen Rücken.

„Schneller, Freunde!“, schrie ich. „Hinter mir zieht sich der Gang zu!“

Wir hasteten, immer wieder über Stapel von Holzhockern stolpernd, vorbei an Regalen mit Putzeimern und längst vergessenen Koffern. Dann schlugen uns gedämpftes Licht und wohlige Wärme entgegen … und wir taumelten aus der Abstellkammer heraus, mitten hinein in die Raucherecke der Nachtschule.

SabberJupp saß einsam auf dem Roten Sofa, las in einem speckigen Büchlein (das er bei unserem Erscheinen sofort unter seiner Sitzfläche verschwinden ließ) und glotzte uns mit einem etwas gekünstelt wirkenden Ausdruck höchster Überraschung an.

„Wo kommt ihr denn auf einmal her?“, fragte er in einem Tonfall, der wohl gleichzeitig Unschuld und Entgeisterung ausdrücken sollte. „Da glaubt man, ihr wärt auf Expedition verschollen seit fast zwei Jahren, und dabei habt ihr euch die ganze Zeit über im Besenschrank versteckt. Schöne Expeditionäre seid ihr. Und so was kriegt noch Geld aus dem Nachtigaller-Stipendienfonds. Pfui!“

Er zupfte am Kragen seines offensichtlich nagelneuen, reinseidenen, mit Silberfäden kunstbestickten Morgenmantels und nahm einen Zug aus einer Selbstgedrehten, die irgendwie familiär nach verglühtem Gennf roch.

„Du hast nicht zufällig kurz vor uns einen Stollentroll hier rausrennen sehen?“, fragten wir neugierig.

„Nee, kähä. Indi … äh … in-die…sen Minuten war nur ich alleine hier und niemand sonst. Schließlich ist es halb fünf Uhr nachts und alle Schüler, die guten Willens sind, schlafen um diese Zeit in ihren Wohnstollen. Das bedeutet, dass nur ich allein noch das Recht habe, mich hier aufzuhalten. Und das nutze ich natürlich weidlich aus, huhä.“

Ein Knirschen im Schrank zeigte an, dass wir es wohl vergessen konnten, jemandem die Existenz des Tunnels von den Schulräumen zur ‚Mitte Zamoniens’ glaubhaft näher zu bringen. Die Rückwand hatte sich geschlossen.

Scheißegal. Wir waren vollzählig und relativ gesund zurück, das war die Hauptsache.

„Wo stellen wir nur unseren Krempel unter, ich bin auf einmal todmüde“, keuchte ich. „Nicht, dass morgen früh nur noch die Hälfte davon da ist. Stollentrolle … man muss sie einfach mögen.“

Ohne uns um Jupps Gezeter zu scheren, wankten wir hinaus.

„Ich würde Appeli empfehlen“, meinte Linora. „Sie ist die dienstälteste und integerste Rettungssaurierin hier … und ihr Wohnstollen ist gleich der zweite dort vorn. Da haben wir nicht weit zu laufen.“

Um die Sache kurz zu machen: Appeli glotzte uns zwar an wie das Achte Weltwunder, aber sie war auf der Stelle zur Hilfe bereit. Nachdem sie sich ihre Brille aufgesetzt hatte, führte sie uns ins geräumige Bad, wo wir unser immer noch recht schimmelbedecktes Gepäck zwischenlagern konnten, ohne gleich die Zamonische Seuchenbekämpfungsbehörde auf den Plan zu rufen.

Erst als wir der guten Dame das Versprechen gegeben hatten, dass sie als erste die nicht zur Veröffentlichung geeigneten Details unserer Reise zu hören zu bekommen würde, entließ sie uns wieder nach draußen und wir hutzten, schlurften, schwappten oder trampelten, je nachdem, trunkenen Auges zu unseren Schlafstellen, wo wir sofort in bleiernen, traumlosen Schlummer fielen.

Unsere Abenteuer waren zu Ende. Vorerst.
Andray DuFranck
Beiträge: 114
Registriert: Do 23. Mai 2019, 22:56

Re: Expedition in die Tiefen der Nachtschule

Beitrag von Andray DuFranck »

EXPEDITIONSTAGEBUCH
„Reise in die Tiefen der Nachtschule bis zur Mitte Zamoniens"

Epilog

Ich sitze hier an meinem gemütlichen Wellentisch und arbeite daran, die Expedition nachzubereiten. Berge von Korrespondenz, Zeitungen und Schreibpapier türmen sich vor mir auf. Gerade haben sich Minus und Obstip verabschiedet. Gemeinsam sind wir dabei, den Inhalt von Sigobertus Brünnenfelds Buch zu rekonstruieren. Beide Freunde (ja, ich nenne sie so, denn über den ‚Schulkameradenstatus‘ sind wir längst hinausgewachsen) verfügen über ein hervorragendes Gedächtnis und haben das Werk komplett gelesen, so dass ich eigentlich zumeist nur aufschreiben muss, was sie mir diktieren. Im Zuge der zurzeit anlaufenden Rehabilitierung des unglücklichen Forschers und des dabei entstehenden Presserummels hat uns ein Verlag in Buchhaim Unsummen für die Exklusivrechte geboten. Wir sind jedoch noch am Überlegen, ob wir uns so verkaufen sollen.

Aber ich will nicht vorgreifen. Gerade vier Wochen ist es her, seit wir zurückgekehrt sind, und es kommt mir schon wie ein Jahr vor. Gleich am Tag nach unserer Ankunft, als wir ausgeschlafen hatten, statteten wir unserer Jungsaurierin Appeli neuerlich einen Besuch ab. Bei Tee, Hutzengesöff, Plätzchen und Kullalade erzählten wir der Rettungssaurierin jene ‚saftigen‘ Episoden, welche ich aus Gründen des Jugendschutzes hier nicht veröffentlichen darf. Dabei erfuhren wir endlich auch, was die gute Linora erlebt hatte, während wir auf der Suche nach ihr durchs Traumland irrten. Da Schlechte Ideen in der Nähe von Phantasierenden oft zu bedrohlicher Größe anwachsen (was jeder bestätigen kann, der einmal einen Alptraum durchlitten hat), war auch sie selbst so riesig geworden, dass sie nicht dazu imstande war, die halbreale ‚Taschendimension‘ zu betreten. Hilflos hatte sie von oben zusehen müssen, wie wir, gleich winzigen Mikroben, uns vergeblich die Hacken abliefen in einer Art Seifenblase, die für sie nur die Größe einer Schneekugel hatte. Erst, als es uns dann durch den Brunnen der Wünsche zog wie Wasser aus einem Abfluss, war auch sie ergriffen und fortgeschleudert worden in eine Art Übergangsstadium, ein langsames Wiedereintauchen in die Realität, welches uns einundzwanzig Monate unseres Lebens gekostet hatte.

Oh ja, das ist unser nächstes Problem. Wir waren zwar fast zwei Jahre lang aus der Nachtschule weg, bewusst wahrgenommen haben wir davon aber nur neun Tage. Frau Alba In Operandum, die oberste Verwalterin des Nachtigaller-Stipendienfonds, hat uns einen verzweifelten Brief geschrieben. Müssten jedem von uns die zugesagten 50 Pyra Tagespauschale gezahlt werden, so kämen Kosten für ziemlich genau 631 Tage pro Person auf die schmale Kasse zu. Das wären dann 31.550 Pyra pro Nase oder 252.400 Pyra für die acht gemeldeten Teilnehmer (Linora und der Adler seien keine ‚vollwertigen‘ Expeditionäre gewesen, da waren die Herrschaften stur). Unter diesen Umständen hätte die Nachtschule Insolvenz anmelden müssen. Da wir dies natürlich nicht erzwingen wollten, verzichteten wir blutenden Herzens auf den größten Teil des Vermögens und nahmen jeder nur die 450 Pyra für diejenigen Tage mit, an denen wir ‚aktiv‘ gewesen waren. Zusätzlich bestanden wir jedoch zumindest auf die Auszahlung des Gefahrenzuschlags, denn jeder von uns hatte im Interesse der Nachtschule und ganz Zamoniens Gefahren für Leib und Leben auf sich genommen.

Etliche Zeitungsausschnitte des ‚Westzamonischen Boten‘, des ‚Florinther Tageblatts‘ und der ‚Welt der Forschung / Monatsschrift für den Wissenschaftler und seine Familie‘ liegen hier auch noch herum, bereit zum Einheften in die dicke Abschlussberichtsmappe. Ich greife mal wahllos ein paar davon heraus:

NEUE THERAPIE GEGEN ABSCHÜSSIGE TIEFENDEPRESSION ENTDECKT
(zpa) Ein Bericht mehrerer Schüler der in den Finsterbergen beheimateten Nachtakademie lässt Forscher aufhorchen. Die bisher als unheilbar und tödlich geltende ‚Abschüssige Tiefendepression‘ kann angeblich überwunden werden, wenn man den Patienten mit einem Ausnahmenaturphänomen konfrontiert, dessen lebensbedrohliche Ausstrahlung den innersten Überlebensinstinkt mit Gewalt aufrüttelt und so zu einem Erwachen aus dem Koma führt. Da es jedoch nicht gerade einfach ist, den ‚Scharach Il Allah‘ oder ein Finsterberggewitter im richtigen Moment zur Hand zu haben, plant das Manu-Kantimel-Institut Gralsund zur Zeit eine Versuchsreihe, bei der festgestellt werden soll, ob der überraschende Besuch einer Schwiegermutter beim Erkrankten dieselbe Katharsis auszulösen vermag.

WISSENSCHAFTLICHE REHABILITATION NACH ÜBER 200 JAHREN?
(pdz) Die Akademie der Wissenschaften in Atlantis sieht sich mit einem lange vertuschten, nicht geringen Skandal konfrontiert. Waren die allzu raschen und, wie es sich nun herauszustellen scheint, unberechtigten Vorverurteilungen der geologischen Forschungen des Hundlings Sigobertus Brünnenfeld vor gut zwei Jahrhunderten schuld an dessen Freitod in den Friedhofssümpfen von Dull? Es scheint ganz so, als hätten hier Überheblichkeit und Eigensucht einiger selbsternannter ‚Kapazitäten‘ zu einer fatalen Ignoranz geführt, die den Suizid eines mutigen Entdeckers nach sich zog. Angesichts der aktuellen, sehr ernst zu nehmenden Erkenntnisse einer vor zwei Wochen aus den Tiefen des Finstergebirges zurückgekehrten Expedition (wir berichteten) hat der Hohe Rat der Omniscientae in Lisnatat-Central daher eine erneute Prüfung des Falles zugesichert. Mit einem Ergebnis ist frühestens in einer Dekade zu rechnen.
Dazu der Kommentar des Ratsleiters, Gutknecht von Spinnweb: „Dieser Blödsinn hat zwei Jahrhunderte lang keine Sau interessiert, da kommt es auf die zehn Jahre nun auch nicht mehr an!“

DIE MITTE ZAMONIENS – WOHL MEHR ALS NUR EIN MYTHOS
(eigener Bericht) Wenn zehn Schüler eines elitären Bildungsinstituts übereinstimmend beschwören, die ‚Mitte Zamoniens‘ mit eigenen Augen gesehen zu haben, dann ist man als faktenbesessener Reporter geneigt, dies entweder als Paradebeispiel für eine Massenpsychose zu betrachten, oder es für einen nur leidlich witzigen Pennälerstreich zu halten. Aber nein, sie meinen es offensichtlich bitter ernst. Viel dran ist laut ihrer Aussage jedoch an dem angeblich ach so wundersamen Ort nicht, und obwohl sich die Augenzeugen mit Einzelheiten sehr zurückhalten, hatte wohl Herr Manu Kantimel die Realität recht gut getroffen, als er damals am Ende seines zurecht wenig beachteten Buches 'Ich geh dann mal fort - Auf der vergeblichen Suche nach der Mitte Zamoniens' spekulierte: "Ein Rätsel bleibt zuletzt, warum es überhaupt einen solchen Ort geben soll. Entweder haben ihn übergeschnappte Außerirdische gebaut, die dort die wahre Antwort auf die Frage nach dem Sinn des Lebens in Form eines Zwiegesprächs zwischen Mutter und Tochter verbargen, oder es handelt sich um eine Impulsaktion eines äußerst gelangweilten Gottes, der damit alle Philosophen und Spökenkieker des Planeten ultimativ verarschen wollte."
Jedenfalls waren sich die Dagewesenen darüber einig, dass „ein zweiter Besuch nicht in ihrem Interesse läge und man mehr davon habe, in der gesparten Zeit gemütlich einen Single-Gimp zu trinken.“

ATLANTISCHES NATIONALMUSEUM ERWIRBT SENSATIONELLES ANTIKES KUNSTWERK
(zpa) Wir uns die Tratschwelle Andray DuFranck soeben bestätigte, ist der Verkauf des urzeitlichen Bernsteinfisch-Artefaktes, welches von zwei Mitgliedern seiner Expeditionsmannschaft in den Tiefen eines innergebirgischen Schlammsees entdeckt worden war, bereits unter Dach und Fach. Das größte Museum Zamoniens erwarb es quasi im Handstreich. Über die Kaufsumme schwiegen sich beide Parteien aus, sie soll jedoch im siebenstelligen Bereich gelegen haben und kommt „allen Teilnehmern zu gleichen Teilen zugute.“
Das nachgewiesenermaßen echte Fundstück lässt sich auf die Anfänge der Atlantischen Kultur rückdatieren und wurde nach übereinstimmender Meinung der Archäologen dazu benutzt, seltene Metalle aufzuspüren. „Ein künstlerisch gestaltetes Werkzeug dieses Alters und in diesem perfekten Erhaltungsgrad, das ist ein Treffer, wie es ihn nur einmal in einer Million Jahren geben kann“, verkündigte der Museumsdirektor, Herr Marcius von Broudhy, mit stolzgeschwellter Stimme. „Ich glaube, da haben wir ein echtes Schnäppchen gemacht.“
Das historische Stück kann täglich zwischen 8 und 17 Uhr in der Sammlung „Atlantische Urgeschichte“ besichtigt werden.

Oh, da liegt ja auch noch die Flaschenpost, die schon vor vierzehn Monaten im Pool der Raucherecke angespült wurde (er besitzt eine direkte Verbindung zum Golf von Florinth und hat uns bereits, unter anderem, einen jungen Tyrannowalfisch Rex und eine Gourmetica Insularis beschert). Sie ist an uns alle adressiert und stammt von den drei Tratschwellenbrüdern Aha, Behbe und Zehze. Geschrieben mit Wasserfarbe auf Wasserzeichenpapier, heißt es da:

Blubbzerupp, ihr wagemutigen Forscher!
Schöne tratschige Grüße aus der hintersten Ecke des Zamonischen Ozeans. Wir sind gut angekommen, nachdem wir uns im Finsterwasser an die Hauptströmung gehalten haben und tatsächlich vom Finsterwasserfall rausgespuckt worden sind. Ganz schön wilder Ritt, das könnt ihr uns glauben. Danach war es ein Spritzlingsspiel, über die ‚Düstre’ (oder war es die ‚Salze’?) das offene Meer zu erreichen.
Wir hoffen sehr, dass auch ihr gut zurück gefunden habt. Sollten wir irgendwann wieder in Eure Gegend kommen, werden wir durch den Tratschwelleneingang mal bei euch reinschauen und ein bisschen Stimmung in den lahmen Laden bringen.
Übrigens … Aha kaut immer noch an seinem Schwamm. Schon seit drei Wochen, höhö.
Meldet euch mal wieder, wir würden uns freuen.
Mit vielen nassen Knuddlern,
Eure drei durchgeknallten Wellenjungs.
P.S.: Schöne Grüße auch von Zehzes Schwippschwager mütterlicherseits.

Nun, das sollte jetzt erst einmal reichen. Ich werde gleich noch Zwarn und Germinator besuchen, die sich gerade im Wohnstollen des Schweinsbarbaren mit ungewöhnlichen Feldversuchen beschäftigen. Sie haben sich nämlich unlängst das Nachtigallersche Tiefen-Tremoloskop aus der Kammer der vergessenen Patente ausgeliehen (nun ja, ich gab ihnen den Schlüssel und der anwesende Zweydeet überließ ihnen das Gerät, nachdem sie ihn von der Wichtigkeit ihres Tuns überzeugt hatten). Bei ihren Sondierungen im Wurzelbereich des Finsterbergmassivs fangen sie seit zwei Tagen verdächtige Bohrgeräusche auf. Es würde mich also nicht wundern, wenn in naher Zukunft etliche kulturfanatische Bergzwerge mit seltsamem Akzent um Aufnahme in die Schülerschaft ersuchen würden. Der Gründung einer akademieeigenen Big-Band stünde dann eigentlich nichts mehr im Wege.

Nur eine Sache bereitet mir noch gewisse Sorgen: das Basalt-Ei mit dem verkapselten Feuerdämon. Alle unsere Versuche, ihn wiederzubeleben, sind bisher fehlgeschlagen. Wir erreichen einfach keine Temperaturen, die dafür hoch genug wären. Selbst stundenlanges Aufglühen in der transportablen Feuerstelle brachte kein befriedigendes Ergebnis – wir benötigen echte Lava oder einen Artgenossen, wie uns das allwissende Lexikon mitteilt. Nur – noch einmal gehe ich da nicht runter. Nope. Keine Chance.

Bliebe höchstens noch der Maulwurfsvulkan. Eine völlig irrsinnige Idee, sicherlich. Aber auch eine neue Herausforderung. Und hat der Professor uns nicht in seinem Brief geraten, weiterhin am Ball zu bleiben?

Das würde bedeuten: Eine neue Expedition wäre fällig, diesmal nach Unbiskant. Mal nachschauen, ob an den Erzählungen eines gewissen Blaubären was dran ist. Und dann soll es ja dort eine Geheime Stollentrollschule geben. Denkenden Treibsand. Treibsandmaulwürfe. Und durch die Süße Wüste müssten wir auch …

Halt! Bevor ich völlig durchdrehe: das ist alles noch Zukunftsmusik. Zunächst einmal werden wir uns von den erlittenen Strapazen erholen. Und dann …. irgendwann … mal sehen. Vielleicht wird auch eine neue Mannschaft notwendig sein. Meine Gelatinetabletten wirken nicht in der Hitze, da müsste auch erst eine Lösung gefunden werden. Und dann der Gimpel Finn McOrnien, der hatte ja damals bereits seine Mithilfe angeboten. Mal vorsichtig nachhaken, ob das noch aktuell ist …

Ruhe, Andray, Ruhe. Entspann Dich. Lass alles auf Dich zukommen. Solange es noch Schüler guten Willens gibt, die ihre Ideen verwirklichen und ihre Phantasie noch nicht unter Bergen von Akten vergraben oder in Alkohol ersäuft haben, solange wird die Nachtschule nicht untergehen. Und solange wird es auch Mutige geben, die den Horizont immer wieder ein Stückchen weiter hinaus schieben.

Darum schließe ich diesen Bericht auch mit dem Schönsten, was unsere geniale Dichterwelle, der Doktor Fnord je geschrieben hat und erhebe mein Wasserglas auf die glorreiche Zukunft unserer Nachtschule! Auf den Geruch von Zimt und von Feuern, die in der Ferne brennen! Auf das Abenteuer!

Die Kinder der Nacht
(von Fnord, Tratschwelle)

Ich seh sie versammelt, die Kinder der Nacht
Sind hier, zu verhindern, dass der Träumer erwacht.
Phantasie macht sich breit und erfüllt unsre Seelen,
Ich erhebe die Stimme, beginn zu erzählen.

Ich erzähl Euch vom Meer und von endlosen Weiten.
Dann sprichst Du und erzählst von vergangenen Zeiten,
Kamedaren und Wüsten, Oasen und Sand
Einer Stadt, die stets, wenn man ihr nahkam, verschwand.

Und es wird viel gelächelt, gestaunt und gelacht
Und beifällig nicken
Die Kinder der Nacht

Ich hör, wie Du sagst: diese Zeit ist vorbei
Dass das alles sehr schön, doch Vergangenheit sei
Denn es wär nun mal so: alles wäre im Fluss
Und es musste so kommen, Du hast es gewusst.

Und dann, als Du schweigst, da erheb ich das Wort:
Die Geschichte geht weiter, wir schreiben sie fort
Schau, Du hast selber Einfluss auf ihren Verlauf
Und so schnell gibt ein Träumer noch lange nicht auf.

Denn so viele Gedanken sind noch nicht gedacht
Und es gibt viel zu tun für
Die Kinder der Nacht



ENDE
Und jetzt kommt …
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